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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Stoff und Geist in der Philologie

selbst wird diese Ansicht geteilt: "Zwischen Philologie und Ästhetik ist kein
Streit, es sei denn, daß die eine oder die andre oder beide auf falschen Wegen
wandeln." Dann ist also W. Scherer, der dieses Verdikt fällte, selbst auf
falschen Wegen gewandelt, wenn er eine mehr ästhetische als philologische
Literaturgeschichte schrieb, wenn sein Schüler E. Schmidt feinsinnige "Charak¬
teristiken" verfaßte, wenn klassische Philologen wie E. Rohde und U. von Wila-
mowitz-Moellendorff in ihren besten Werken sich ebenso als feine Ästhetiker
wie als gründliche Philologen zeigen. Der Fehler liegt aber offenbar nicht
auf feiten der Philologen selbst, sondern in der zu engen und veralteten Auf¬
fassung von dem Bereiche ihres Wirkens, von der zu engen Grenze, die sie
selbst dem Begriffe der Philologie ziehn. Als typisch für die vulgäre An¬
schauung von ihr darf wiederum die folgende Definition von I. Kohler gelten,
die er in dem genannten Aufsatz gibt, und wo es heißt: "Der Philologe ist
vor allem Sprachkenner, und zwar zunächst Sprachkenner überhaupt, sodann
Kenner der Spracheigentümlichkeiten eines bestimmten Autors, zu welcher auch
die Kenntnis der Lebensverhältnisse des Autors hinzutreten muß, weil sie für
die Auffassung seiner Sprachbildung maßgebend sind. Ein solches Studium
des Lebens einzelner Autoren führt zur äußern Literaturgeschichte, und diese
ist völlig die Domäne des Philologen. Eine korrekte Ausgabe des Schrift¬
stellers zu schaffen, die Zeit und Umstände der Abfassung festzusetzen, die
Werke des Autors sprachlich zu erklären, die für die individuelle Auffassung
des Autors maßgebenden zeitgeschichtlichen Momente anzumerken, das ist völlig
die Sphäre des Philologen." Dann heißt es aber weiter: "Gerade was den
Ästhetiker auszeichnet, daß er die äußern Formen hintenansetzt und in das
Innere eindringt, das wäre dem Philologen zum Verderben." Also mit andern
Worten: der Philologe ist nur der Handlanger des Ästhetikers und der
Mauerpolierer des Dichters; etwa so wie es in Schillers Distichon heißt:
"Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun." Das ist ganz die alte
Auffassung von der Philologie als einer Hilfswissenschaft, aus jenen Zeiten,
wo noch der Typus des Famulus Wagner herrschte, wo es noch keinen Boeckh,
keinen Gottfried Herrmann, keinen Usener und Wilamowitz, keinen Scherer,
keinen Diez, kurz, aus den Zeiten, wo die Philologie noch keine Könige auf¬
zuweisen hatte, wo noch nicht gebaut, soudern erst geschürft wurde. Mögen
auch die synthetischen Talente gegen die analytischen in der Minderheit sein,
so wäre es doch eine unerhörte Tyrannei, zu einem Philologen zu sagen: "Du
bist Philologe, du kannst edleren, emendieren, kollationieren und kritisieren,
aber du darfst beileibe nicht in die Komposition einer Dichtung eindringen,
darfst nicht ihre Schönheiten empfinden oder gar davon sprechen, darfst nicht
in die Werkstatt des Dichters hineinspähen, außer wenn es gilt, Hobelspäne
zu sammeln." Gewiß liegt gerade für den Philologen die Gefahr nahe, daß
er, in mühsame Kleinarbeit vertieft, auch leicht darin versinkt, daß er sich
den freien Blick verbaut, daß er vor lauter Forschen das Denken verlernt und
somit unfähig wird, ein Geisteswerk oder eine geistige Entwicklungslinie als
Ganzes zu erfassen. Wer kennt nicht auch solche Philologen? Nicht auch
solche Literarhistoriker? Aber völlig ungerecht ist es, die Literaturgeschichte in


Stoff und Geist in der Philologie

selbst wird diese Ansicht geteilt: „Zwischen Philologie und Ästhetik ist kein
Streit, es sei denn, daß die eine oder die andre oder beide auf falschen Wegen
wandeln." Dann ist also W. Scherer, der dieses Verdikt fällte, selbst auf
falschen Wegen gewandelt, wenn er eine mehr ästhetische als philologische
Literaturgeschichte schrieb, wenn sein Schüler E. Schmidt feinsinnige „Charak¬
teristiken" verfaßte, wenn klassische Philologen wie E. Rohde und U. von Wila-
mowitz-Moellendorff in ihren besten Werken sich ebenso als feine Ästhetiker
wie als gründliche Philologen zeigen. Der Fehler liegt aber offenbar nicht
auf feiten der Philologen selbst, sondern in der zu engen und veralteten Auf¬
fassung von dem Bereiche ihres Wirkens, von der zu engen Grenze, die sie
selbst dem Begriffe der Philologie ziehn. Als typisch für die vulgäre An¬
schauung von ihr darf wiederum die folgende Definition von I. Kohler gelten,
die er in dem genannten Aufsatz gibt, und wo es heißt: „Der Philologe ist
vor allem Sprachkenner, und zwar zunächst Sprachkenner überhaupt, sodann
Kenner der Spracheigentümlichkeiten eines bestimmten Autors, zu welcher auch
die Kenntnis der Lebensverhältnisse des Autors hinzutreten muß, weil sie für
die Auffassung seiner Sprachbildung maßgebend sind. Ein solches Studium
des Lebens einzelner Autoren führt zur äußern Literaturgeschichte, und diese
ist völlig die Domäne des Philologen. Eine korrekte Ausgabe des Schrift¬
stellers zu schaffen, die Zeit und Umstände der Abfassung festzusetzen, die
Werke des Autors sprachlich zu erklären, die für die individuelle Auffassung
des Autors maßgebenden zeitgeschichtlichen Momente anzumerken, das ist völlig
die Sphäre des Philologen." Dann heißt es aber weiter: „Gerade was den
Ästhetiker auszeichnet, daß er die äußern Formen hintenansetzt und in das
Innere eindringt, das wäre dem Philologen zum Verderben." Also mit andern
Worten: der Philologe ist nur der Handlanger des Ästhetikers und der
Mauerpolierer des Dichters; etwa so wie es in Schillers Distichon heißt:
„Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun." Das ist ganz die alte
Auffassung von der Philologie als einer Hilfswissenschaft, aus jenen Zeiten,
wo noch der Typus des Famulus Wagner herrschte, wo es noch keinen Boeckh,
keinen Gottfried Herrmann, keinen Usener und Wilamowitz, keinen Scherer,
keinen Diez, kurz, aus den Zeiten, wo die Philologie noch keine Könige auf¬
zuweisen hatte, wo noch nicht gebaut, soudern erst geschürft wurde. Mögen
auch die synthetischen Talente gegen die analytischen in der Minderheit sein,
so wäre es doch eine unerhörte Tyrannei, zu einem Philologen zu sagen: „Du
bist Philologe, du kannst edleren, emendieren, kollationieren und kritisieren,
aber du darfst beileibe nicht in die Komposition einer Dichtung eindringen,
darfst nicht ihre Schönheiten empfinden oder gar davon sprechen, darfst nicht
in die Werkstatt des Dichters hineinspähen, außer wenn es gilt, Hobelspäne
zu sammeln." Gewiß liegt gerade für den Philologen die Gefahr nahe, daß
er, in mühsame Kleinarbeit vertieft, auch leicht darin versinkt, daß er sich
den freien Blick verbaut, daß er vor lauter Forschen das Denken verlernt und
somit unfähig wird, ein Geisteswerk oder eine geistige Entwicklungslinie als
Ganzes zu erfassen. Wer kennt nicht auch solche Philologen? Nicht auch
solche Literarhistoriker? Aber völlig ungerecht ist es, die Literaturgeschichte in


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[0383] Stoff und Geist in der Philologie selbst wird diese Ansicht geteilt: „Zwischen Philologie und Ästhetik ist kein Streit, es sei denn, daß die eine oder die andre oder beide auf falschen Wegen wandeln." Dann ist also W. Scherer, der dieses Verdikt fällte, selbst auf falschen Wegen gewandelt, wenn er eine mehr ästhetische als philologische Literaturgeschichte schrieb, wenn sein Schüler E. Schmidt feinsinnige „Charak¬ teristiken" verfaßte, wenn klassische Philologen wie E. Rohde und U. von Wila- mowitz-Moellendorff in ihren besten Werken sich ebenso als feine Ästhetiker wie als gründliche Philologen zeigen. Der Fehler liegt aber offenbar nicht auf feiten der Philologen selbst, sondern in der zu engen und veralteten Auf¬ fassung von dem Bereiche ihres Wirkens, von der zu engen Grenze, die sie selbst dem Begriffe der Philologie ziehn. Als typisch für die vulgäre An¬ schauung von ihr darf wiederum die folgende Definition von I. Kohler gelten, die er in dem genannten Aufsatz gibt, und wo es heißt: „Der Philologe ist vor allem Sprachkenner, und zwar zunächst Sprachkenner überhaupt, sodann Kenner der Spracheigentümlichkeiten eines bestimmten Autors, zu welcher auch die Kenntnis der Lebensverhältnisse des Autors hinzutreten muß, weil sie für die Auffassung seiner Sprachbildung maßgebend sind. Ein solches Studium des Lebens einzelner Autoren führt zur äußern Literaturgeschichte, und diese ist völlig die Domäne des Philologen. Eine korrekte Ausgabe des Schrift¬ stellers zu schaffen, die Zeit und Umstände der Abfassung festzusetzen, die Werke des Autors sprachlich zu erklären, die für die individuelle Auffassung des Autors maßgebenden zeitgeschichtlichen Momente anzumerken, das ist völlig die Sphäre des Philologen." Dann heißt es aber weiter: „Gerade was den Ästhetiker auszeichnet, daß er die äußern Formen hintenansetzt und in das Innere eindringt, das wäre dem Philologen zum Verderben." Also mit andern Worten: der Philologe ist nur der Handlanger des Ästhetikers und der Mauerpolierer des Dichters; etwa so wie es in Schillers Distichon heißt: „Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu tun." Das ist ganz die alte Auffassung von der Philologie als einer Hilfswissenschaft, aus jenen Zeiten, wo noch der Typus des Famulus Wagner herrschte, wo es noch keinen Boeckh, keinen Gottfried Herrmann, keinen Usener und Wilamowitz, keinen Scherer, keinen Diez, kurz, aus den Zeiten, wo die Philologie noch keine Könige auf¬ zuweisen hatte, wo noch nicht gebaut, soudern erst geschürft wurde. Mögen auch die synthetischen Talente gegen die analytischen in der Minderheit sein, so wäre es doch eine unerhörte Tyrannei, zu einem Philologen zu sagen: „Du bist Philologe, du kannst edleren, emendieren, kollationieren und kritisieren, aber du darfst beileibe nicht in die Komposition einer Dichtung eindringen, darfst nicht ihre Schönheiten empfinden oder gar davon sprechen, darfst nicht in die Werkstatt des Dichters hineinspähen, außer wenn es gilt, Hobelspäne zu sammeln." Gewiß liegt gerade für den Philologen die Gefahr nahe, daß er, in mühsame Kleinarbeit vertieft, auch leicht darin versinkt, daß er sich den freien Blick verbaut, daß er vor lauter Forschen das Denken verlernt und somit unfähig wird, ein Geisteswerk oder eine geistige Entwicklungslinie als Ganzes zu erfassen. Wer kennt nicht auch solche Philologen? Nicht auch solche Literarhistoriker? Aber völlig ungerecht ist es, die Literaturgeschichte in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/383>, abgerufen am 29.12.2024.