Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Stoff und Geist in der Philologie (tote Sprachen), methodisch aber mit den Naturwissenschaften berührt (Laut¬ Wir haben also folgendes Verhältnis zwischen Literatur- und exakter Weniger fruchtbar als das Bündnis zwischen Sprach- und Naturwissen¬ Das Ergebnis dieser Seite unsrer Betrachtung ist also dies: die Er¬ Grenzboten II 1906 47
Stoff und Geist in der Philologie (tote Sprachen), methodisch aber mit den Naturwissenschaften berührt (Laut¬ Wir haben also folgendes Verhältnis zwischen Literatur- und exakter Weniger fruchtbar als das Bündnis zwischen Sprach- und Naturwissen¬ Das Ergebnis dieser Seite unsrer Betrachtung ist also dies: die Er¬ Grenzboten II 1906 47
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0381" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299422"/> <fw type="header" place="top"> Stoff und Geist in der Philologie</fw><lb/> <p xml:id="ID_1687" prev="#ID_1686"> (tote Sprachen), methodisch aber mit den Naturwissenschaften berührt (Laut¬<lb/> physiologie, vergleichende Methode). Die vergleichende Sprachwissenschaft wirkte<lb/> dann zurück auf die junge und empfängliche moderne Philologie, die in ihrem<lb/> sprachlichen Teile durchaus von der exakten Methode der vergleichenden Sprach¬<lb/> forschung beeinflußt ist, sodaß man von einer Wissenschaft der modernen<lb/> Sprachen reden kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_1688"> Wir haben also folgendes Verhältnis zwischen Literatur- und exakter<lb/> Sprachwissenschaft: in der antiken Philologie ist die Sprachforschung noch der<lb/> literarhistorischen Forschung untergeordnet und steht in ihrem Dienste, in der<lb/> modernen Philologie steht sie der Literaturforschung ebenbürtig zur Seite; es<lb/> gibt moderne Philologen, die fast ausschließlich Sprachforscher sind. Endlich<lb/> hat sich neben und aus den beiden Hemisphären der Philologie die vergleichende<lb/> Sprachwissenschaft entwickelt unter dem fördernden Einfluß der modernen<lb/> Naturwissenschaft; der moderne Sprachforscher ist vor allem vergleichender Laut-<lb/> physiologe und Formenanatom.</p><lb/> <p xml:id="ID_1689"> Weniger fruchtbar als das Bündnis zwischen Sprach- und Naturwissen¬<lb/> schaft gestaltete sich das Bündnis zwischen Sprachwissenschaft und Philosophie,<lb/> besonders dem Teil der Philosophie, der für den Erforscher der innern Sprach¬<lb/> form der wichtigste ist, der Psychologie: die Erforschung der Sprachkategorien,<lb/> die ohne Kenntnis der Psychologie nicht denkbar ist, der Syntax und der Se¬<lb/> masiologie, liegt denn auch gerade in der vergleichenden Sprachforschung sehr<lb/> im argen, weil diese sich zu einseitig auf die physiologische Seite der Sprache<lb/> festgelegt hat. Dagegen erfreut sich gerade die Semasiologie der Pflege der<lb/> modernen Philologen, während die syntaktische Forschung von jeher die Stärke<lb/> der antiken Philologie war. Völlig vernachlässigt und in Mißkredit gekommen<lb/> ist dagegen in der antiken wie in der modernen Philologie die philosophische<lb/> Seite der Sprachforschung, wie sie von W. von Humboldt verheißungsvoll be¬<lb/> gonnen worden war.</p><lb/> <p xml:id="ID_1690" next="#ID_1691"> Das Ergebnis dieser Seite unsrer Betrachtung ist also dies: die Er¬<lb/> forschung der sprachlichen Seite der Philologie ist am weitesten gediehen nicht<lb/> da, wo sie im Bunde mit der Philosophie, sondern mit der Naturwissenschaft<lb/> stand, d. h. in ihrem stofflichen Teil. Dagegen ist ihr geistiger Organismus, also<lb/> gerade der Teil, der der Philologie als Geisteswissenschaft besonders nahe¬<lb/> liegen mußte, Syntax und Stilistik, am wenigsten erforscht. Einige Hoff¬<lb/> nungen erweckt es, daß neuerdings die etymologische Forschung in neue Bahnen<lb/> einzulenken beginnt, indem sie mit der alten abstrakten Methode bricht, zu der<lb/> sinnlichen Anschauung der Begriffe zurückkehrt und dadurch die Wortforschung<lb/> in enge Fühlung bringt mit der Wissenschaft von den Realien und mit der<lb/> Kulturgeschichte überhaupt. Überblickt man diese Konstellation von Sprach¬<lb/> wissenschaft als Geistes- und als Naturwissenschaft vom Standpunkt der an¬<lb/> tiken und der modernen nebst vergleichenden Philologie, so muß man zugeben,<lb/> daß die erste vorzugsweise die der innern, und zwar der individuellen Sprach¬<lb/> form gewidmete Forschung pflegt, die letzte einerseits mehr die äußere (Laut-,<lb/> Formen-, Wortforschung), andrerseits mehr die generelle, von Individuum und<lb/> Kultur losgelöste Entwicklung der Sprache ins Auge faßt. Dort steht auch^</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1906 47 </fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0381]
Stoff und Geist in der Philologie
(tote Sprachen), methodisch aber mit den Naturwissenschaften berührt (Laut¬
physiologie, vergleichende Methode). Die vergleichende Sprachwissenschaft wirkte
dann zurück auf die junge und empfängliche moderne Philologie, die in ihrem
sprachlichen Teile durchaus von der exakten Methode der vergleichenden Sprach¬
forschung beeinflußt ist, sodaß man von einer Wissenschaft der modernen
Sprachen reden kann.
Wir haben also folgendes Verhältnis zwischen Literatur- und exakter
Sprachwissenschaft: in der antiken Philologie ist die Sprachforschung noch der
literarhistorischen Forschung untergeordnet und steht in ihrem Dienste, in der
modernen Philologie steht sie der Literaturforschung ebenbürtig zur Seite; es
gibt moderne Philologen, die fast ausschließlich Sprachforscher sind. Endlich
hat sich neben und aus den beiden Hemisphären der Philologie die vergleichende
Sprachwissenschaft entwickelt unter dem fördernden Einfluß der modernen
Naturwissenschaft; der moderne Sprachforscher ist vor allem vergleichender Laut-
physiologe und Formenanatom.
Weniger fruchtbar als das Bündnis zwischen Sprach- und Naturwissen¬
schaft gestaltete sich das Bündnis zwischen Sprachwissenschaft und Philosophie,
besonders dem Teil der Philosophie, der für den Erforscher der innern Sprach¬
form der wichtigste ist, der Psychologie: die Erforschung der Sprachkategorien,
die ohne Kenntnis der Psychologie nicht denkbar ist, der Syntax und der Se¬
masiologie, liegt denn auch gerade in der vergleichenden Sprachforschung sehr
im argen, weil diese sich zu einseitig auf die physiologische Seite der Sprache
festgelegt hat. Dagegen erfreut sich gerade die Semasiologie der Pflege der
modernen Philologen, während die syntaktische Forschung von jeher die Stärke
der antiken Philologie war. Völlig vernachlässigt und in Mißkredit gekommen
ist dagegen in der antiken wie in der modernen Philologie die philosophische
Seite der Sprachforschung, wie sie von W. von Humboldt verheißungsvoll be¬
gonnen worden war.
Das Ergebnis dieser Seite unsrer Betrachtung ist also dies: die Er¬
forschung der sprachlichen Seite der Philologie ist am weitesten gediehen nicht
da, wo sie im Bunde mit der Philosophie, sondern mit der Naturwissenschaft
stand, d. h. in ihrem stofflichen Teil. Dagegen ist ihr geistiger Organismus, also
gerade der Teil, der der Philologie als Geisteswissenschaft besonders nahe¬
liegen mußte, Syntax und Stilistik, am wenigsten erforscht. Einige Hoff¬
nungen erweckt es, daß neuerdings die etymologische Forschung in neue Bahnen
einzulenken beginnt, indem sie mit der alten abstrakten Methode bricht, zu der
sinnlichen Anschauung der Begriffe zurückkehrt und dadurch die Wortforschung
in enge Fühlung bringt mit der Wissenschaft von den Realien und mit der
Kulturgeschichte überhaupt. Überblickt man diese Konstellation von Sprach¬
wissenschaft als Geistes- und als Naturwissenschaft vom Standpunkt der an¬
tiken und der modernen nebst vergleichenden Philologie, so muß man zugeben,
daß die erste vorzugsweise die der innern, und zwar der individuellen Sprach¬
form gewidmete Forschung pflegt, die letzte einerseits mehr die äußere (Laut-,
Formen-, Wortforschung), andrerseits mehr die generelle, von Individuum und
Kultur losgelöste Entwicklung der Sprache ins Auge faßt. Dort steht auch^
Grenzboten II 1906 47
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