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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Neue Bücher über Rußland

kultiviertes Land gibt es noch im Überfluß, nicht bloß in Sibirien, sondern auch
in Rußland selbst, aber dessen Urbarmachung würde mehr Kapital, Arbeitskraft
und Arbeitslust fordern, als der Muschik aufzubringen vermag, und zur inten¬
siven Wirtschaft fehlen außer Kapital und Fleiß die Kenntnisse.

Nach der Niederschlagung des Moskaner Aufstandes haben unsre konser¬
vativen Zeitungen den phantastischen .Hoffnungen der internationalen Sozial¬
demokratie gegenüber konstatiert, daß es mit der russischen Revolution nichts sei.
Das war für jeden Kenner Rußlands von Anfang an nicht zweifelhaft, ist aber
keine Bürgschaft für Rußlands Zukunft, vielmehr das Gegenteil davon. Wenn
ein im ganzen tüchtiges, wirtschaftlich und politisch befähigtes Volk unter einer
unfähigen Dynastie, wie die Stuarts eine waren, oder unter den Privilegien
verrotteter Stände, wie des französischen Adels und des Klerus vor 1789, leidet,
dann ist eine Revolution möglich, die eine bessere Dynastie oder einen tüchtigem
Stand ans Ruder bringt und so dem Volke zu neuer Blüte verhilft. In Nu߬
land gibt es, nach der Schilderung unsers Engländers sowie der deutschen und
der russischen Autoritäten, die wir früher vernommen haben, keinen Stand, dein
man zutrauen könnte, daß er an die Stelle des Bestehenden etwas Besseres
setzen werde, und darum ist eine wirkliche Revolution ebenso unmöglich, wie
eine durchgreifende Reform schwer denkbar. Wallace enthält sich als verständiger
Mann alles Prophezeiens und beschränkt sich in Beziehung auf die Zukunft
darauf, zu konstatieren, daß beide Wege, die der Regierung offenstehn, ihre
großen Gefahren haben. Sie kann mit Waffengewalt die Autokratie wieder
aufrichten, aber diese hat sich nun einmal in der Verwaltung unfähig erwiesen,
und sie wiederherstellen, das würde nur heißen, den innern Zusammenbruch
hinausschieben, um ihn desto grundstürzender zu machen. Oder sie hält es
ehrlich mit der Konstitution; dann hat man als Volksvertreter auf der einen
Seite den Muschik, der die Autokratie des Zaren wiederherstellen möchte (ohne
den Tschin, was natürlich Unsinn ist), auf der andern die doktrinären Liberalen
und Sozialisten verschiedner Schattierungen, die jede dem Volke bewilligte Frei¬
heit nur als Sprungbrett zur Erlangung weiterer Freiheiten benützen, und die
"von einem blinden Glauben an die wundertütige Macht des Konstitutionalismus
erfüllt sind", die von bloßen Formen Wirkungen erwarten, die nur eine geduldige,
stetige, verständige Kleinarbeit in den Gewerben, in der Landwirtschaft und in
der Verwaltung -- gleichviel unter welcher Staatsverfassung -- hervorbringen
könnte. Auch aus der neuesten Zeit weiß der Verfasser viel interessantes mit¬
zuteilen, zum Beispiel über das Verhältnis Wildes zu Plehwe, mit denen beiden
er persönlich verkehrt hat.

Dankenswerte Ergänzungen bietet: Russen über Rußland. Ein Sammel¬
werk, herausgegeben von Josef Metrik (Frankfurt a. M, Rütten und Loe-
ning, 1906). Es enthält: Betrachtungen über die russische Revolution, von Peter
Struve; Die Umversitätsfrage. von Fürst Eugen Trubetzkoi; Das Dorf, von
Alexander Nowikow; Das Semstwo (Wallace oder sein Übersetzer schreibt: die
Semstwo), von Wassili Golubew; Die Kirche, von Wassili Rosanow; Die
Finanzpolitik, von Professor Iwan Oserow; Die Arbeiterfrage, von or.v. Toto-
mianz; Das außergerichtliche Strafverfahren, von W. Nabokow; Die Frau, von


Neue Bücher über Rußland

kultiviertes Land gibt es noch im Überfluß, nicht bloß in Sibirien, sondern auch
in Rußland selbst, aber dessen Urbarmachung würde mehr Kapital, Arbeitskraft
und Arbeitslust fordern, als der Muschik aufzubringen vermag, und zur inten¬
siven Wirtschaft fehlen außer Kapital und Fleiß die Kenntnisse.

Nach der Niederschlagung des Moskaner Aufstandes haben unsre konser¬
vativen Zeitungen den phantastischen .Hoffnungen der internationalen Sozial¬
demokratie gegenüber konstatiert, daß es mit der russischen Revolution nichts sei.
Das war für jeden Kenner Rußlands von Anfang an nicht zweifelhaft, ist aber
keine Bürgschaft für Rußlands Zukunft, vielmehr das Gegenteil davon. Wenn
ein im ganzen tüchtiges, wirtschaftlich und politisch befähigtes Volk unter einer
unfähigen Dynastie, wie die Stuarts eine waren, oder unter den Privilegien
verrotteter Stände, wie des französischen Adels und des Klerus vor 1789, leidet,
dann ist eine Revolution möglich, die eine bessere Dynastie oder einen tüchtigem
Stand ans Ruder bringt und so dem Volke zu neuer Blüte verhilft. In Nu߬
land gibt es, nach der Schilderung unsers Engländers sowie der deutschen und
der russischen Autoritäten, die wir früher vernommen haben, keinen Stand, dein
man zutrauen könnte, daß er an die Stelle des Bestehenden etwas Besseres
setzen werde, und darum ist eine wirkliche Revolution ebenso unmöglich, wie
eine durchgreifende Reform schwer denkbar. Wallace enthält sich als verständiger
Mann alles Prophezeiens und beschränkt sich in Beziehung auf die Zukunft
darauf, zu konstatieren, daß beide Wege, die der Regierung offenstehn, ihre
großen Gefahren haben. Sie kann mit Waffengewalt die Autokratie wieder
aufrichten, aber diese hat sich nun einmal in der Verwaltung unfähig erwiesen,
und sie wiederherstellen, das würde nur heißen, den innern Zusammenbruch
hinausschieben, um ihn desto grundstürzender zu machen. Oder sie hält es
ehrlich mit der Konstitution; dann hat man als Volksvertreter auf der einen
Seite den Muschik, der die Autokratie des Zaren wiederherstellen möchte (ohne
den Tschin, was natürlich Unsinn ist), auf der andern die doktrinären Liberalen
und Sozialisten verschiedner Schattierungen, die jede dem Volke bewilligte Frei¬
heit nur als Sprungbrett zur Erlangung weiterer Freiheiten benützen, und die
„von einem blinden Glauben an die wundertütige Macht des Konstitutionalismus
erfüllt sind", die von bloßen Formen Wirkungen erwarten, die nur eine geduldige,
stetige, verständige Kleinarbeit in den Gewerben, in der Landwirtschaft und in
der Verwaltung — gleichviel unter welcher Staatsverfassung — hervorbringen
könnte. Auch aus der neuesten Zeit weiß der Verfasser viel interessantes mit¬
zuteilen, zum Beispiel über das Verhältnis Wildes zu Plehwe, mit denen beiden
er persönlich verkehrt hat.

Dankenswerte Ergänzungen bietet: Russen über Rußland. Ein Sammel¬
werk, herausgegeben von Josef Metrik (Frankfurt a. M, Rütten und Loe-
ning, 1906). Es enthält: Betrachtungen über die russische Revolution, von Peter
Struve; Die Umversitätsfrage. von Fürst Eugen Trubetzkoi; Das Dorf, von
Alexander Nowikow; Das Semstwo (Wallace oder sein Übersetzer schreibt: die
Semstwo), von Wassili Golubew; Die Kirche, von Wassili Rosanow; Die
Finanzpolitik, von Professor Iwan Oserow; Die Arbeiterfrage, von or.v. Toto-
mianz; Das außergerichtliche Strafverfahren, von W. Nabokow; Die Frau, von


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[0375] Neue Bücher über Rußland kultiviertes Land gibt es noch im Überfluß, nicht bloß in Sibirien, sondern auch in Rußland selbst, aber dessen Urbarmachung würde mehr Kapital, Arbeitskraft und Arbeitslust fordern, als der Muschik aufzubringen vermag, und zur inten¬ siven Wirtschaft fehlen außer Kapital und Fleiß die Kenntnisse. Nach der Niederschlagung des Moskaner Aufstandes haben unsre konser¬ vativen Zeitungen den phantastischen .Hoffnungen der internationalen Sozial¬ demokratie gegenüber konstatiert, daß es mit der russischen Revolution nichts sei. Das war für jeden Kenner Rußlands von Anfang an nicht zweifelhaft, ist aber keine Bürgschaft für Rußlands Zukunft, vielmehr das Gegenteil davon. Wenn ein im ganzen tüchtiges, wirtschaftlich und politisch befähigtes Volk unter einer unfähigen Dynastie, wie die Stuarts eine waren, oder unter den Privilegien verrotteter Stände, wie des französischen Adels und des Klerus vor 1789, leidet, dann ist eine Revolution möglich, die eine bessere Dynastie oder einen tüchtigem Stand ans Ruder bringt und so dem Volke zu neuer Blüte verhilft. In Nu߬ land gibt es, nach der Schilderung unsers Engländers sowie der deutschen und der russischen Autoritäten, die wir früher vernommen haben, keinen Stand, dein man zutrauen könnte, daß er an die Stelle des Bestehenden etwas Besseres setzen werde, und darum ist eine wirkliche Revolution ebenso unmöglich, wie eine durchgreifende Reform schwer denkbar. Wallace enthält sich als verständiger Mann alles Prophezeiens und beschränkt sich in Beziehung auf die Zukunft darauf, zu konstatieren, daß beide Wege, die der Regierung offenstehn, ihre großen Gefahren haben. Sie kann mit Waffengewalt die Autokratie wieder aufrichten, aber diese hat sich nun einmal in der Verwaltung unfähig erwiesen, und sie wiederherstellen, das würde nur heißen, den innern Zusammenbruch hinausschieben, um ihn desto grundstürzender zu machen. Oder sie hält es ehrlich mit der Konstitution; dann hat man als Volksvertreter auf der einen Seite den Muschik, der die Autokratie des Zaren wiederherstellen möchte (ohne den Tschin, was natürlich Unsinn ist), auf der andern die doktrinären Liberalen und Sozialisten verschiedner Schattierungen, die jede dem Volke bewilligte Frei¬ heit nur als Sprungbrett zur Erlangung weiterer Freiheiten benützen, und die „von einem blinden Glauben an die wundertütige Macht des Konstitutionalismus erfüllt sind", die von bloßen Formen Wirkungen erwarten, die nur eine geduldige, stetige, verständige Kleinarbeit in den Gewerben, in der Landwirtschaft und in der Verwaltung — gleichviel unter welcher Staatsverfassung — hervorbringen könnte. Auch aus der neuesten Zeit weiß der Verfasser viel interessantes mit¬ zuteilen, zum Beispiel über das Verhältnis Wildes zu Plehwe, mit denen beiden er persönlich verkehrt hat. Dankenswerte Ergänzungen bietet: Russen über Rußland. Ein Sammel¬ werk, herausgegeben von Josef Metrik (Frankfurt a. M, Rütten und Loe- ning, 1906). Es enthält: Betrachtungen über die russische Revolution, von Peter Struve; Die Umversitätsfrage. von Fürst Eugen Trubetzkoi; Das Dorf, von Alexander Nowikow; Das Semstwo (Wallace oder sein Übersetzer schreibt: die Semstwo), von Wassili Golubew; Die Kirche, von Wassili Rosanow; Die Finanzpolitik, von Professor Iwan Oserow; Die Arbeiterfrage, von or.v. Toto- mianz; Das außergerichtliche Strafverfahren, von W. Nabokow; Die Frau, von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/375>, abgerufen am 29.12.2024.