Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Der genesende Reichskanzler Unruhe, die es gegenwärtig seit einer Reihe von Jahren bekundet. Der König Ein wohl noch größerer Aufwand von Geschicklichkeit als dem Reichstage Der genesende Reichskanzler Unruhe, die es gegenwärtig seit einer Reihe von Jahren bekundet. Der König Ein wohl noch größerer Aufwand von Geschicklichkeit als dem Reichstage <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0280" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299321"/> <fw type="header" place="top"> Der genesende Reichskanzler</fw><lb/> <p xml:id="ID_1210" prev="#ID_1209"> Unruhe, die es gegenwärtig seit einer Reihe von Jahren bekundet. Der König<lb/> hatte in der Anlehnung an Deutschland und an der Herzlichkeit des Verhält¬<lb/> nisses zum Berliner Hofe die vollen Bürgschaften für Italiens nationale Integrität<lb/> gefunden und betrachtete den Dreibund nicht nur als einen deckenden Schirm<lb/> für sich und sein Land, sondern als ein Bundesverhältnis, worin auch er jederzeit<lb/> voll zu leisten bereit war, was die Verhältnisse von ihm beanspruchen könnten.<lb/> In beiden Ländern mit ihren: hochentwickelten Parlamentswesen hatte der Ge¬<lb/> sandte und Botschafter von Bülow erfahren, wie sich bei einiger Staatsklugheit<lb/> init Parlamenten regieren lasse, und es ist ihm tatsächlich nicht so schwer ge¬<lb/> fallen, das, was er dort in der Theorie gelernt, in der deutschen Praxis zur<lb/> Anwendung zu bringen. Zu den starken Mitteln seines großen Vorgängers zu<lb/> greifen, waren Zeiten und Persönlichkeiten nicht angetan. Die Grundübel des<lb/> deutschen parlamentarischen Wesens, wie sie teils in der konfessionellen Spaltung,<lb/> teils in der Anwesenheit fremdsprachiger Bevölkerungsteile, in den Traditionen<lb/> der Bewegung von 1848, in einem Rest von Partikularistischen und in einer<lb/> großen Summe wirtschaftlicher Gegensätze wurzeln, hat er bisher so wenig wie<lb/> Bismarck zu überwinden vermocht, aber es ist ihm doch immerhin gelungen, in<lb/> großen Augenblicken und für ernste Fragen eine feste Majorität um sich zu ver¬<lb/> einigen, denn mit Ausnahme der Sozialdemokratie ist keine Partei vorhanden,<lb/> die ihn grundsätzlich, kein Gegner, der ihn persönlich bekämpft. Wohl aber hat<lb/> ihm die Herzlichkeit seines Wesens, eine liebenswürdige und liberale Zugänglich¬<lb/> keit viele Freunde erworben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1211" next="#ID_1212"> Ein wohl noch größerer Aufwand von Geschicklichkeit als dem Reichstage<lb/> gegenüber war in der Beratung des Reichsoberhaupts notwendig. Als der Bot¬<lb/> schafter von Bülow nach Berlin kam, im Sommer 1897, regierte Kaiser Wilhelm<lb/> der Zweite schon neun Jahre, die nicht ohne tiefere Eindrücke und Erfahrungen<lb/> an ihm vorübergegangen waren. Er war nicht mehr ein Anfänger im Königsamt.<lb/> Der neue Staatssekretär mußte sich nicht nur in Wesen und Art dieses Monarchen<lb/> einleben, sondern mußte auch mit dem Fürsten Hohenlohe rechnen, der ihm<lb/> schon auf der Pariser Botschaft ein wohlwollender Vorgesetzter war, mit seiner<lb/> Person sehr wenig hervortrat, aber doch zu allen Fragen, zu denen der aus¬<lb/> wärtigen Politik aus alter diplomatischer Neigung, um seiner verfassungsmäßigen<lb/> Verantwortlichkeit willen Stellung nahm. In diesem Wechselspiel zwischen einem<lb/> jungen Monarchen und einem hochbetagten, im Parlament ziemlich einflußloser<lb/> Reichskanzler hatte sich der neue Staatssekretär seine Stellung zu schaffen. Es<lb/> war ihm das in einer Weise gelungen, daß, als er selbst drei Jahre später<lb/> der Nachfolger des Fürsten Hohenlohe wurde, seine Ernennung fast allseitig<lb/> mit Beifall und mit einer gewissen Zuversicht begrüßt wurde. Fürst Bülow<lb/> machte es sich damals zu der ersten Aufgabe, die unnötigen politischen Gegen¬<lb/> sätze aus unserm öffentliche!, Leben auszumerzen, die Verstimmungen gegenüber<lb/> der Krone zu beseitigen, die bei der großen Anhängerschaft des Fürsten Bismarck,<lb/> angesehenen Männern von ausgesprochen nationaler Gesinnung, in den land¬<lb/> wirtschaftlichen Kreisen Deutschlands auf Grund der Handelsverträge von 1894,<lb/> bei den Konservativen in Preußen auf Grund der Behandlung der Kanälfrage<lb/> bestanden. Das alles ist ihm gelungen. Die Wege, die er zu diesen Zielen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0280]
Der genesende Reichskanzler
Unruhe, die es gegenwärtig seit einer Reihe von Jahren bekundet. Der König
hatte in der Anlehnung an Deutschland und an der Herzlichkeit des Verhält¬
nisses zum Berliner Hofe die vollen Bürgschaften für Italiens nationale Integrität
gefunden und betrachtete den Dreibund nicht nur als einen deckenden Schirm
für sich und sein Land, sondern als ein Bundesverhältnis, worin auch er jederzeit
voll zu leisten bereit war, was die Verhältnisse von ihm beanspruchen könnten.
In beiden Ländern mit ihren: hochentwickelten Parlamentswesen hatte der Ge¬
sandte und Botschafter von Bülow erfahren, wie sich bei einiger Staatsklugheit
init Parlamenten regieren lasse, und es ist ihm tatsächlich nicht so schwer ge¬
fallen, das, was er dort in der Theorie gelernt, in der deutschen Praxis zur
Anwendung zu bringen. Zu den starken Mitteln seines großen Vorgängers zu
greifen, waren Zeiten und Persönlichkeiten nicht angetan. Die Grundübel des
deutschen parlamentarischen Wesens, wie sie teils in der konfessionellen Spaltung,
teils in der Anwesenheit fremdsprachiger Bevölkerungsteile, in den Traditionen
der Bewegung von 1848, in einem Rest von Partikularistischen und in einer
großen Summe wirtschaftlicher Gegensätze wurzeln, hat er bisher so wenig wie
Bismarck zu überwinden vermocht, aber es ist ihm doch immerhin gelungen, in
großen Augenblicken und für ernste Fragen eine feste Majorität um sich zu ver¬
einigen, denn mit Ausnahme der Sozialdemokratie ist keine Partei vorhanden,
die ihn grundsätzlich, kein Gegner, der ihn persönlich bekämpft. Wohl aber hat
ihm die Herzlichkeit seines Wesens, eine liebenswürdige und liberale Zugänglich¬
keit viele Freunde erworben.
Ein wohl noch größerer Aufwand von Geschicklichkeit als dem Reichstage
gegenüber war in der Beratung des Reichsoberhaupts notwendig. Als der Bot¬
schafter von Bülow nach Berlin kam, im Sommer 1897, regierte Kaiser Wilhelm
der Zweite schon neun Jahre, die nicht ohne tiefere Eindrücke und Erfahrungen
an ihm vorübergegangen waren. Er war nicht mehr ein Anfänger im Königsamt.
Der neue Staatssekretär mußte sich nicht nur in Wesen und Art dieses Monarchen
einleben, sondern mußte auch mit dem Fürsten Hohenlohe rechnen, der ihm
schon auf der Pariser Botschaft ein wohlwollender Vorgesetzter war, mit seiner
Person sehr wenig hervortrat, aber doch zu allen Fragen, zu denen der aus¬
wärtigen Politik aus alter diplomatischer Neigung, um seiner verfassungsmäßigen
Verantwortlichkeit willen Stellung nahm. In diesem Wechselspiel zwischen einem
jungen Monarchen und einem hochbetagten, im Parlament ziemlich einflußloser
Reichskanzler hatte sich der neue Staatssekretär seine Stellung zu schaffen. Es
war ihm das in einer Weise gelungen, daß, als er selbst drei Jahre später
der Nachfolger des Fürsten Hohenlohe wurde, seine Ernennung fast allseitig
mit Beifall und mit einer gewissen Zuversicht begrüßt wurde. Fürst Bülow
machte es sich damals zu der ersten Aufgabe, die unnötigen politischen Gegen¬
sätze aus unserm öffentliche!, Leben auszumerzen, die Verstimmungen gegenüber
der Krone zu beseitigen, die bei der großen Anhängerschaft des Fürsten Bismarck,
angesehenen Männern von ausgesprochen nationaler Gesinnung, in den land¬
wirtschaftlichen Kreisen Deutschlands auf Grund der Handelsverträge von 1894,
bei den Konservativen in Preußen auf Grund der Behandlung der Kanälfrage
bestanden. Das alles ist ihm gelungen. Die Wege, die er zu diesen Zielen
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