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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Der genesende Reichskanzler

widerstrebte, später als Kaiser über sich ergehn lassen und ergehn lassen können,
weil vor dem im Feldlager aufgerichteten Kaiserthrone die Riesengestalt seines
Reichskanzlers stand, dessen eherne Hand um das königliche Haupt eine Strahlen¬
krone gewunden hatte, so reich, daß sie durch keine, wie immer geartete Ver-
fassungsbestimmung verdunkelt werden konnte. Damit unsre demokratische Reichs-
verfassung erträglich und lebensfähig werde, ist vor allen Dingen ein starker
Reichskanzler nötig, der nicht nur zwischen den fünfundzwanzig Einzelstaaten
und dem Reichsvberhaupte, auch zwischen diesem und dem Reichstag erfolgreich
steht, sondern der dem Könige von Preußen die Entschließungen des Kaisers zu
erleichtern und ebenso den schnell vorwärts stürmenden Reichswagen an Preußens
konservative Schwerkraft zu binden vermag. Bismarck hat es als die Ursache
seiner Erfolge bezeichnet, daß es ihm gelungen sei, den König und das preußische
Heer in den Dienst des nationalen Gedankens zu stellen, einen Dienst, dem
beide in den Jahren 1848/49 energisch widerstrebt hatten. Aber um so mehr
sah er als die Pflicht des Reichskanzlers an, darüber zu wachen, daß beiden
dieser Dienst möglich bleibe.

Unter den drei Nachfolgern des Fürsten Bismarck ist der jetzige Reichs¬
kanzler sein erster und bedeutendster Erbe geworden dadurch, daß er nicht nur
der Trüger dieses Titels, sondern in Wirklichkeit Reichskanzler ist und dem
Neichskcmzlerposten seinen Inhalt wieder zurückgegeben hat, der unter seinen beiden
Vorgängern zum großen Teil verloren gegangen war. Mit dem Fürsten Bülow
ist "der Reichskanzler" wieder in die entscheidende Bedeutung gerückt, die ihm
verfassungsmüßig zukommt, und die für Deutschland notwendig ist, wenn das
Reich bestehn und die Kaiserwürde nicht Gefahr laufen soll.

Das zu erreichen, ist dem Fürsten Bülow nicht leicht geworden. Er wurde
aus dem diplomatischen Frontdienst nach Berlin berufen nach langer Abwesenheit
vom Vaterlande. Unsern politischen Parteien und ihrem gesamten innern Getriebe
war er fremd, an der Gesetzgebung und der Verwaltung des Reichs und Preußens
hatte er noch keinen Anteil genommen. Aber dies sicherte ihm einen gewissen
Vorzug der Unbefangenheit. Er trat in das höchste politische Amt des Reiches
ohne Vorurteile und ohne jede Gegnerschaft. Er kam aus Ländern, Rumänien
und Italien, in denen er ein gewissenhafter Beobachter des dortigen politischen
Lebens und des parlamentarischen Wesens gewesen war. In Rumänien hat das
Königtum Karols verstanden, sich ungeachtet einer urdemokratischen Verfassung
durchzusetzen und sich allen feindlichen innern und auswärtigen Einflüssen gegen¬
über glorreich zu behaupten. Gewissenhafte Pflichttreue des Monarchen, der sich
im Kriege als Feldherr, im Frieden als weiser, umsichtiger und vorausschauender
Staatsmann bewährt hat, hat dort der Krone einen Platz hoch über allen Partei-
kümpfen gewonnen und siegreich behauptet; der König erfreut sich der höchsten
Achtung des Landes nicht nur, sondern des gesamten Europas. Nicht viel anders
war es in dem Italien Umbertos. König Umberto war kein Genie, hatte auch
nicht die starke Initiative seines Vaters, aber er war ein tapferer, furchtloser,
auf den Schlachtfeldern wie den Seuchen gegenüber bewährter König, zuverlässig
in allen seinen Beziehungen. Italien war unter seiner Regierung -- abgesehen
von der verunglückten nbessinischen Expedition -- ohne die nervöse unbefriedigte


Der genesende Reichskanzler

widerstrebte, später als Kaiser über sich ergehn lassen und ergehn lassen können,
weil vor dem im Feldlager aufgerichteten Kaiserthrone die Riesengestalt seines
Reichskanzlers stand, dessen eherne Hand um das königliche Haupt eine Strahlen¬
krone gewunden hatte, so reich, daß sie durch keine, wie immer geartete Ver-
fassungsbestimmung verdunkelt werden konnte. Damit unsre demokratische Reichs-
verfassung erträglich und lebensfähig werde, ist vor allen Dingen ein starker
Reichskanzler nötig, der nicht nur zwischen den fünfundzwanzig Einzelstaaten
und dem Reichsvberhaupte, auch zwischen diesem und dem Reichstag erfolgreich
steht, sondern der dem Könige von Preußen die Entschließungen des Kaisers zu
erleichtern und ebenso den schnell vorwärts stürmenden Reichswagen an Preußens
konservative Schwerkraft zu binden vermag. Bismarck hat es als die Ursache
seiner Erfolge bezeichnet, daß es ihm gelungen sei, den König und das preußische
Heer in den Dienst des nationalen Gedankens zu stellen, einen Dienst, dem
beide in den Jahren 1848/49 energisch widerstrebt hatten. Aber um so mehr
sah er als die Pflicht des Reichskanzlers an, darüber zu wachen, daß beiden
dieser Dienst möglich bleibe.

Unter den drei Nachfolgern des Fürsten Bismarck ist der jetzige Reichs¬
kanzler sein erster und bedeutendster Erbe geworden dadurch, daß er nicht nur
der Trüger dieses Titels, sondern in Wirklichkeit Reichskanzler ist und dem
Neichskcmzlerposten seinen Inhalt wieder zurückgegeben hat, der unter seinen beiden
Vorgängern zum großen Teil verloren gegangen war. Mit dem Fürsten Bülow
ist „der Reichskanzler" wieder in die entscheidende Bedeutung gerückt, die ihm
verfassungsmüßig zukommt, und die für Deutschland notwendig ist, wenn das
Reich bestehn und die Kaiserwürde nicht Gefahr laufen soll.

Das zu erreichen, ist dem Fürsten Bülow nicht leicht geworden. Er wurde
aus dem diplomatischen Frontdienst nach Berlin berufen nach langer Abwesenheit
vom Vaterlande. Unsern politischen Parteien und ihrem gesamten innern Getriebe
war er fremd, an der Gesetzgebung und der Verwaltung des Reichs und Preußens
hatte er noch keinen Anteil genommen. Aber dies sicherte ihm einen gewissen
Vorzug der Unbefangenheit. Er trat in das höchste politische Amt des Reiches
ohne Vorurteile und ohne jede Gegnerschaft. Er kam aus Ländern, Rumänien
und Italien, in denen er ein gewissenhafter Beobachter des dortigen politischen
Lebens und des parlamentarischen Wesens gewesen war. In Rumänien hat das
Königtum Karols verstanden, sich ungeachtet einer urdemokratischen Verfassung
durchzusetzen und sich allen feindlichen innern und auswärtigen Einflüssen gegen¬
über glorreich zu behaupten. Gewissenhafte Pflichttreue des Monarchen, der sich
im Kriege als Feldherr, im Frieden als weiser, umsichtiger und vorausschauender
Staatsmann bewährt hat, hat dort der Krone einen Platz hoch über allen Partei-
kümpfen gewonnen und siegreich behauptet; der König erfreut sich der höchsten
Achtung des Landes nicht nur, sondern des gesamten Europas. Nicht viel anders
war es in dem Italien Umbertos. König Umberto war kein Genie, hatte auch
nicht die starke Initiative seines Vaters, aber er war ein tapferer, furchtloser,
auf den Schlachtfeldern wie den Seuchen gegenüber bewährter König, zuverlässig
in allen seinen Beziehungen. Italien war unter seiner Regierung — abgesehen
von der verunglückten nbessinischen Expedition — ohne die nervöse unbefriedigte


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[0279] Der genesende Reichskanzler widerstrebte, später als Kaiser über sich ergehn lassen und ergehn lassen können, weil vor dem im Feldlager aufgerichteten Kaiserthrone die Riesengestalt seines Reichskanzlers stand, dessen eherne Hand um das königliche Haupt eine Strahlen¬ krone gewunden hatte, so reich, daß sie durch keine, wie immer geartete Ver- fassungsbestimmung verdunkelt werden konnte. Damit unsre demokratische Reichs- verfassung erträglich und lebensfähig werde, ist vor allen Dingen ein starker Reichskanzler nötig, der nicht nur zwischen den fünfundzwanzig Einzelstaaten und dem Reichsvberhaupte, auch zwischen diesem und dem Reichstag erfolgreich steht, sondern der dem Könige von Preußen die Entschließungen des Kaisers zu erleichtern und ebenso den schnell vorwärts stürmenden Reichswagen an Preußens konservative Schwerkraft zu binden vermag. Bismarck hat es als die Ursache seiner Erfolge bezeichnet, daß es ihm gelungen sei, den König und das preußische Heer in den Dienst des nationalen Gedankens zu stellen, einen Dienst, dem beide in den Jahren 1848/49 energisch widerstrebt hatten. Aber um so mehr sah er als die Pflicht des Reichskanzlers an, darüber zu wachen, daß beiden dieser Dienst möglich bleibe. Unter den drei Nachfolgern des Fürsten Bismarck ist der jetzige Reichs¬ kanzler sein erster und bedeutendster Erbe geworden dadurch, daß er nicht nur der Trüger dieses Titels, sondern in Wirklichkeit Reichskanzler ist und dem Neichskcmzlerposten seinen Inhalt wieder zurückgegeben hat, der unter seinen beiden Vorgängern zum großen Teil verloren gegangen war. Mit dem Fürsten Bülow ist „der Reichskanzler" wieder in die entscheidende Bedeutung gerückt, die ihm verfassungsmüßig zukommt, und die für Deutschland notwendig ist, wenn das Reich bestehn und die Kaiserwürde nicht Gefahr laufen soll. Das zu erreichen, ist dem Fürsten Bülow nicht leicht geworden. Er wurde aus dem diplomatischen Frontdienst nach Berlin berufen nach langer Abwesenheit vom Vaterlande. Unsern politischen Parteien und ihrem gesamten innern Getriebe war er fremd, an der Gesetzgebung und der Verwaltung des Reichs und Preußens hatte er noch keinen Anteil genommen. Aber dies sicherte ihm einen gewissen Vorzug der Unbefangenheit. Er trat in das höchste politische Amt des Reiches ohne Vorurteile und ohne jede Gegnerschaft. Er kam aus Ländern, Rumänien und Italien, in denen er ein gewissenhafter Beobachter des dortigen politischen Lebens und des parlamentarischen Wesens gewesen war. In Rumänien hat das Königtum Karols verstanden, sich ungeachtet einer urdemokratischen Verfassung durchzusetzen und sich allen feindlichen innern und auswärtigen Einflüssen gegen¬ über glorreich zu behaupten. Gewissenhafte Pflichttreue des Monarchen, der sich im Kriege als Feldherr, im Frieden als weiser, umsichtiger und vorausschauender Staatsmann bewährt hat, hat dort der Krone einen Platz hoch über allen Partei- kümpfen gewonnen und siegreich behauptet; der König erfreut sich der höchsten Achtung des Landes nicht nur, sondern des gesamten Europas. Nicht viel anders war es in dem Italien Umbertos. König Umberto war kein Genie, hatte auch nicht die starke Initiative seines Vaters, aber er war ein tapferer, furchtloser, auf den Schlachtfeldern wie den Seuchen gegenüber bewährter König, zuverlässig in allen seinen Beziehungen. Italien war unter seiner Regierung — abgesehen von der verunglückten nbessinischen Expedition — ohne die nervöse unbefriedigte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/279>, abgerufen am 28.12.2024.