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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Die ungarische Krise

Trotzdem hatte sich aber in den letzten Jahren in der Bevölkerung eine
Unsumme von Groll über die Wirtschaftspolitik der liberalen Partei ange¬
häuft, und darauf war auch die schwere Niederlage zurückzuführen, die die
liberale Partei unter der Führung Tiszas bei den letzten Wahlen erlitt. Die
Abgeordneten der Agrarpartei, die (katholische) Volkspartei und ein großer
Teil der Unabhängigkeitspartei waren auf Grund von Programmen gewählt
worden, die sich mit aller Schärfe gegen die liberale Wirtschaftspolitik kehrten,
und es schien, als ob die Niederlage der liberalen Partei auch einen Umschwung
in wirtschaftlich-politischer Beziehung nach sich ziehn werde.

So wurde in den Konflikt, in den Krone und Parlament infolge der
Wahlen von 1905 gerieten, auch die Pester Hochfinanz hineingezogen, hatte
sie doch das allergrößte Interesse daran, daß mit der bisherigen liberalen
Partei nicht auch der Geist der liberalen Wirtschaftspolitik ans Gesetz¬
gebung und Verwaltung verschwinde. Das zu verhindern konnte in einem
Lande, das wie kein andres von dem Wohlwollen der großen, den Geld¬
markt beherrschenden und die Kurse "regulierenden" Finanziers abhängig ist,
allerdings nicht schwer fallen; aber einerseits standen sich die Anschauungen
der Krone und der Opposition über die strittige national-staatsrechtliche
Armeefrage zu schroff gegenüber, und andrerseits hatte die Opposition auf die
Stimmung ihrer über die wirtschaftlichen Sünden der liberalen Partei er¬
bitterten Wähler zu viel Rücksicht zu nehmen, als daß man sofort an die
Lösung des Konflikts hätte gehn können.

Das Wie war den führenden Bankinstituten des Pester und des Wiener
Geldmarkts wohl im vorhinein klar gewesen. Als sich während der Verfassungs¬
kämpfe in Österreich die Börse anschickte, den Staat zu strangulieren, um
ihn zu politischen Reformen in ihrem Sinne zu zwingen, erklärte der alte
Rothschild, als ihm deshalb Vorstellungen gemacht wurden: "Das Kapital hat
kein Vaterland, es kennt nur Zinsen!" Auch in dem ungarischen Konflikt
war der Hochfinanz der Kernpunkt des Streites: ob dem Kaiser oder dem
ungarischen Reichstage die Verfügung über den ungarischen Teil der gemein¬
samen Armee zustehe -- gleichgiltig; er kam für sie nur insoweit in Betracht,
als im gegebnen Augenblick der eine oder der andre Teil zum Nachgeben ge¬
zwungen werden mußte, und da, als die Zeit reif war, die Opposition stand¬
haft blieb, wurde eben die Krone genötigt, die Segel zu streichen, während
man die Opposition zum Aufgeben ihrer antiliberalen wirtschaftspolitischen
Ideen zwang.

Am 11. April d. I. lief der Termin ab, innerhalb dessen nach dem
Wortlaute der ungarischen Verfassungsgesetze die Neuwahlen für den Reichstag
ausgeschrieben werden mußten. Die Krone stand vor der Alternative, ent¬
weder den Wahlkampf, dessen Ausgang mindestens sehr zweifelhaft war, zu
wagen, oder aber sich über die Verfassung hinwegzusetzen und die Neuwahlen
hinauszuschieben. Bei dem bekannten peinlich konstitutionellen Sinne des
Kaisers mußte erwartet werden, daß es ihm sehr schwer fallen würde, sich für
die Verschiebung der Neuwahlen zu entscheiden, andrerseits aber war sich auch
die ungarische Opposition darüber klar, daß in dem Augenblicke, wo die Krone


Die ungarische Krise

Trotzdem hatte sich aber in den letzten Jahren in der Bevölkerung eine
Unsumme von Groll über die Wirtschaftspolitik der liberalen Partei ange¬
häuft, und darauf war auch die schwere Niederlage zurückzuführen, die die
liberale Partei unter der Führung Tiszas bei den letzten Wahlen erlitt. Die
Abgeordneten der Agrarpartei, die (katholische) Volkspartei und ein großer
Teil der Unabhängigkeitspartei waren auf Grund von Programmen gewählt
worden, die sich mit aller Schärfe gegen die liberale Wirtschaftspolitik kehrten,
und es schien, als ob die Niederlage der liberalen Partei auch einen Umschwung
in wirtschaftlich-politischer Beziehung nach sich ziehn werde.

So wurde in den Konflikt, in den Krone und Parlament infolge der
Wahlen von 1905 gerieten, auch die Pester Hochfinanz hineingezogen, hatte
sie doch das allergrößte Interesse daran, daß mit der bisherigen liberalen
Partei nicht auch der Geist der liberalen Wirtschaftspolitik ans Gesetz¬
gebung und Verwaltung verschwinde. Das zu verhindern konnte in einem
Lande, das wie kein andres von dem Wohlwollen der großen, den Geld¬
markt beherrschenden und die Kurse „regulierenden" Finanziers abhängig ist,
allerdings nicht schwer fallen; aber einerseits standen sich die Anschauungen
der Krone und der Opposition über die strittige national-staatsrechtliche
Armeefrage zu schroff gegenüber, und andrerseits hatte die Opposition auf die
Stimmung ihrer über die wirtschaftlichen Sünden der liberalen Partei er¬
bitterten Wähler zu viel Rücksicht zu nehmen, als daß man sofort an die
Lösung des Konflikts hätte gehn können.

Das Wie war den führenden Bankinstituten des Pester und des Wiener
Geldmarkts wohl im vorhinein klar gewesen. Als sich während der Verfassungs¬
kämpfe in Österreich die Börse anschickte, den Staat zu strangulieren, um
ihn zu politischen Reformen in ihrem Sinne zu zwingen, erklärte der alte
Rothschild, als ihm deshalb Vorstellungen gemacht wurden: „Das Kapital hat
kein Vaterland, es kennt nur Zinsen!" Auch in dem ungarischen Konflikt
war der Hochfinanz der Kernpunkt des Streites: ob dem Kaiser oder dem
ungarischen Reichstage die Verfügung über den ungarischen Teil der gemein¬
samen Armee zustehe — gleichgiltig; er kam für sie nur insoweit in Betracht,
als im gegebnen Augenblick der eine oder der andre Teil zum Nachgeben ge¬
zwungen werden mußte, und da, als die Zeit reif war, die Opposition stand¬
haft blieb, wurde eben die Krone genötigt, die Segel zu streichen, während
man die Opposition zum Aufgeben ihrer antiliberalen wirtschaftspolitischen
Ideen zwang.

Am 11. April d. I. lief der Termin ab, innerhalb dessen nach dem
Wortlaute der ungarischen Verfassungsgesetze die Neuwahlen für den Reichstag
ausgeschrieben werden mußten. Die Krone stand vor der Alternative, ent¬
weder den Wahlkampf, dessen Ausgang mindestens sehr zweifelhaft war, zu
wagen, oder aber sich über die Verfassung hinwegzusetzen und die Neuwahlen
hinauszuschieben. Bei dem bekannten peinlich konstitutionellen Sinne des
Kaisers mußte erwartet werden, daß es ihm sehr schwer fallen würde, sich für
die Verschiebung der Neuwahlen zu entscheiden, andrerseits aber war sich auch
die ungarische Opposition darüber klar, daß in dem Augenblicke, wo die Krone


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/250>, abgerufen am 04.07.2024.