Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

das für 1905 während des Krieges und der innern Wirren der Fall war, die
für weite Distrikte Rußlands nicht nur den Geschäfts-, sondern auch den Eisenbahn¬
verkehr lähmten, so liegen die Folgerungen für die Zeiten friedlicher normaler Ent¬
wicklung recht nahe.

Fürst Bülow soll nach den neuern Dispositionen Berlin erst nach seinem
Geburtstage (3. Mai) verlassen, seine Anwesenheit bei der dritten Lesung des Etats
ist damit aufgegeben. Dagegen darf man annehmen, daß er, bevor er den Urlaub
antritt, den Kaiser, der um diese Zeit in der Hauptstadt oder in Potsdam an¬
wesend sein wird, wieder sehen und sprechen kann, wie denn seine fortschreitende
Kräftigung ihm wohl schon in den nächsten Tagen den Empfang einzelner Per¬
sönlichkeiten ohne Gefährdung seines Zustandes ermöglichen wird. Erörterungen in
einzelnen Kreisen, die eine über das Stellvertretungsgesetz hinausgehende allgemeine
Vertretung des Reichskanzlers zum Gegenstande haben, etwa wie in den Jahren 1879
bis 1882 die sogenannte Vertretung Bismarcks durch den Grafen Stolberg-Werni-
gerode, kommt bis jetzt nur eine akademische Bedeutung zu, jedenfalls so lange, als
nicht feststeht, ob und in welchem Umfange Fürst Bülow die Geschäfte während seiner
Abwesenheit in der Hand behält. Das Stellvertretungsgesetz hat immerhin einen
Reichskanzler zur Voraussetzung, der die leitenden Gedanken für die allgemeine
Politik gibt, der die wichtigern Fragen im Auge behält und von dem vorbehaltnen
Rechte, jederzeit eingreifen zu können, Gebrauch zu machen vermag. Zum Glück
besteht alle Hoffnung, daß das bet dem Fürsten Bülow während seines Urlaubs der
Fall sein wird.

Das Ausscheiden des Geheimrath von Holstein aus dem Auswärtigen Amte
hat zu umfangreichen publizistischen Erörterungen Anlaß gegeben. Im Grunde ge¬
nommen sollte es nicht auffallen, daß sogar ein sehr verdienstvoller Beamter mit
neunundsechzig Jahren in den Ruhestand tritt, zumal bei stark geminderter Seh¬
kraft. Mit dem Eintritt eines neuen Staatssekretärs war das ohnehin vorauszu¬
sehen. Die Tätigkeit des Freiherrn von Richthosen hatte zum großen Teil auf
anderm Gebiete gelegen, in der Leitung der auswärtigen Politik war der Dirigent
der politischen Abteilung der hauptsächlichste Gehilfe des Reichskanzlers geworden.
Aber doch immer nur der Gehilfe. Polemiken, auch in ausländischen Zeitungen,
die den Sachverhalt so darstellen, als ob Herr von Holstein wider bessern Willen
und Einsicht des Reichskanzlers der deutschen Marokkopolitik ihre Bahnen vorge¬
zeichnet, ihr das zeitweise ernste Gepräge verliehen und eine direkte Verständigung
mit Frankreich hintertrieben habe, entsprechen nicht den Tatsachen. Fürst Bülow
sieht doch auch nicht so aus, als ob er sich seine politischen Entschließungen von
seinen Untergebnen oktroyieren ließe. Gerade die Entschädigungsvorlage für den
Reichstag hat zum Beispiel den Beweis des Gegenteils gebracht. Der Kanzler hat
sie mit sehr großem Nachdruck im preußischen Staatsministerium gegen dessen scharf
dissentierende Ansichten durchgesetzt. Noch viel weniger würde er sich in der aus¬
wärtigen Politik, seinem eigensten Gebiete, die Richtschnur vorzeichnen lassen. Herr
von Holstein ist deshalb auch keineswegs ein "Opfer" der Marokkopolitik oder des
Konferenzergebnisses. Das beweist unter anderm die Verleihung der Brillanten
zuni Roten Adlerorden, gerade für die Marokkopolitik, sowie die weitere Tatsache,
daß er sein erstes Abschiedsgesuch schon zu Neujahr eingereicht hatte. Die unmittel-
bare und einzige Ursache ist die, daß mit dem Eintritt des Herrn von Tschirschky
als Staatssekretär die bisherige Bewegungsfreiheit des Herrn von Holstein ganz
natürlich Einschränkungen erleiden mußte, die ihm nicht zusagten, weil das Maß von
Selbständigkeit, das er für sich beanspruchte, mit der Betätigung des Staatssekretärs
kollidieren mußte. Erörterungen darüber, ob das notwendig zur Verabschiedung
führen mußte, haben jetzt, nachdem die vollendete Tatsache vorliegt, keinen Wert
mehr. In Herrn von Holstein hat das Auswärtige Amt zweifellos eine bedeutende
Kraft verloren, für den Augenblick wohl unstreitig die bedeutendste. Aber es mag sein,
daß eine Häufung von Reibungen aller Art, wie sie mit dem langjährigen Verbleiben
auf einem Posten nicht selten verbunden sind, keinen andern Ausweg offen ließ.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

das für 1905 während des Krieges und der innern Wirren der Fall war, die
für weite Distrikte Rußlands nicht nur den Geschäfts-, sondern auch den Eisenbahn¬
verkehr lähmten, so liegen die Folgerungen für die Zeiten friedlicher normaler Ent¬
wicklung recht nahe.

Fürst Bülow soll nach den neuern Dispositionen Berlin erst nach seinem
Geburtstage (3. Mai) verlassen, seine Anwesenheit bei der dritten Lesung des Etats
ist damit aufgegeben. Dagegen darf man annehmen, daß er, bevor er den Urlaub
antritt, den Kaiser, der um diese Zeit in der Hauptstadt oder in Potsdam an¬
wesend sein wird, wieder sehen und sprechen kann, wie denn seine fortschreitende
Kräftigung ihm wohl schon in den nächsten Tagen den Empfang einzelner Per¬
sönlichkeiten ohne Gefährdung seines Zustandes ermöglichen wird. Erörterungen in
einzelnen Kreisen, die eine über das Stellvertretungsgesetz hinausgehende allgemeine
Vertretung des Reichskanzlers zum Gegenstande haben, etwa wie in den Jahren 1879
bis 1882 die sogenannte Vertretung Bismarcks durch den Grafen Stolberg-Werni-
gerode, kommt bis jetzt nur eine akademische Bedeutung zu, jedenfalls so lange, als
nicht feststeht, ob und in welchem Umfange Fürst Bülow die Geschäfte während seiner
Abwesenheit in der Hand behält. Das Stellvertretungsgesetz hat immerhin einen
Reichskanzler zur Voraussetzung, der die leitenden Gedanken für die allgemeine
Politik gibt, der die wichtigern Fragen im Auge behält und von dem vorbehaltnen
Rechte, jederzeit eingreifen zu können, Gebrauch zu machen vermag. Zum Glück
besteht alle Hoffnung, daß das bet dem Fürsten Bülow während seines Urlaubs der
Fall sein wird.

Das Ausscheiden des Geheimrath von Holstein aus dem Auswärtigen Amte
hat zu umfangreichen publizistischen Erörterungen Anlaß gegeben. Im Grunde ge¬
nommen sollte es nicht auffallen, daß sogar ein sehr verdienstvoller Beamter mit
neunundsechzig Jahren in den Ruhestand tritt, zumal bei stark geminderter Seh¬
kraft. Mit dem Eintritt eines neuen Staatssekretärs war das ohnehin vorauszu¬
sehen. Die Tätigkeit des Freiherrn von Richthosen hatte zum großen Teil auf
anderm Gebiete gelegen, in der Leitung der auswärtigen Politik war der Dirigent
der politischen Abteilung der hauptsächlichste Gehilfe des Reichskanzlers geworden.
Aber doch immer nur der Gehilfe. Polemiken, auch in ausländischen Zeitungen,
die den Sachverhalt so darstellen, als ob Herr von Holstein wider bessern Willen
und Einsicht des Reichskanzlers der deutschen Marokkopolitik ihre Bahnen vorge¬
zeichnet, ihr das zeitweise ernste Gepräge verliehen und eine direkte Verständigung
mit Frankreich hintertrieben habe, entsprechen nicht den Tatsachen. Fürst Bülow
sieht doch auch nicht so aus, als ob er sich seine politischen Entschließungen von
seinen Untergebnen oktroyieren ließe. Gerade die Entschädigungsvorlage für den
Reichstag hat zum Beispiel den Beweis des Gegenteils gebracht. Der Kanzler hat
sie mit sehr großem Nachdruck im preußischen Staatsministerium gegen dessen scharf
dissentierende Ansichten durchgesetzt. Noch viel weniger würde er sich in der aus¬
wärtigen Politik, seinem eigensten Gebiete, die Richtschnur vorzeichnen lassen. Herr
von Holstein ist deshalb auch keineswegs ein „Opfer" der Marokkopolitik oder des
Konferenzergebnisses. Das beweist unter anderm die Verleihung der Brillanten
zuni Roten Adlerorden, gerade für die Marokkopolitik, sowie die weitere Tatsache,
daß er sein erstes Abschiedsgesuch schon zu Neujahr eingereicht hatte. Die unmittel-
bare und einzige Ursache ist die, daß mit dem Eintritt des Herrn von Tschirschky
als Staatssekretär die bisherige Bewegungsfreiheit des Herrn von Holstein ganz
natürlich Einschränkungen erleiden mußte, die ihm nicht zusagten, weil das Maß von
Selbständigkeit, das er für sich beanspruchte, mit der Betätigung des Staatssekretärs
kollidieren mußte. Erörterungen darüber, ob das notwendig zur Verabschiedung
führen mußte, haben jetzt, nachdem die vollendete Tatsache vorliegt, keinen Wert
mehr. In Herrn von Holstein hat das Auswärtige Amt zweifellos eine bedeutende
Kraft verloren, für den Augenblick wohl unstreitig die bedeutendste. Aber es mag sein,
daß eine Häufung von Reibungen aller Art, wie sie mit dem langjährigen Verbleiben
auf einem Posten nicht selten verbunden sind, keinen andern Ausweg offen ließ.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0233" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299274"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1072" prev="#ID_1071"> das für 1905 während des Krieges und der innern Wirren der Fall war, die<lb/>
für weite Distrikte Rußlands nicht nur den Geschäfts-, sondern auch den Eisenbahn¬<lb/>
verkehr lähmten, so liegen die Folgerungen für die Zeiten friedlicher normaler Ent¬<lb/>
wicklung recht nahe.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1073"> Fürst Bülow soll nach den neuern Dispositionen Berlin erst nach seinem<lb/>
Geburtstage (3. Mai) verlassen, seine Anwesenheit bei der dritten Lesung des Etats<lb/>
ist damit aufgegeben. Dagegen darf man annehmen, daß er, bevor er den Urlaub<lb/>
antritt, den Kaiser, der um diese Zeit in der Hauptstadt oder in Potsdam an¬<lb/>
wesend sein wird, wieder sehen und sprechen kann, wie denn seine fortschreitende<lb/>
Kräftigung ihm wohl schon in den nächsten Tagen den Empfang einzelner Per¬<lb/>
sönlichkeiten ohne Gefährdung seines Zustandes ermöglichen wird. Erörterungen in<lb/>
einzelnen Kreisen, die eine über das Stellvertretungsgesetz hinausgehende allgemeine<lb/>
Vertretung des Reichskanzlers zum Gegenstande haben, etwa wie in den Jahren 1879<lb/>
bis 1882 die sogenannte Vertretung Bismarcks durch den Grafen Stolberg-Werni-<lb/>
gerode, kommt bis jetzt nur eine akademische Bedeutung zu, jedenfalls so lange, als<lb/>
nicht feststeht, ob und in welchem Umfange Fürst Bülow die Geschäfte während seiner<lb/>
Abwesenheit in der Hand behält. Das Stellvertretungsgesetz hat immerhin einen<lb/>
Reichskanzler zur Voraussetzung, der die leitenden Gedanken für die allgemeine<lb/>
Politik gibt, der die wichtigern Fragen im Auge behält und von dem vorbehaltnen<lb/>
Rechte, jederzeit eingreifen zu können, Gebrauch zu machen vermag. Zum Glück<lb/>
besteht alle Hoffnung, daß das bet dem Fürsten Bülow während seines Urlaubs der<lb/>
Fall sein wird.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1074"> Das Ausscheiden des Geheimrath von Holstein aus dem Auswärtigen Amte<lb/>
hat zu umfangreichen publizistischen Erörterungen Anlaß gegeben. Im Grunde ge¬<lb/>
nommen sollte es nicht auffallen, daß sogar ein sehr verdienstvoller Beamter mit<lb/>
neunundsechzig Jahren in den Ruhestand tritt, zumal bei stark geminderter Seh¬<lb/>
kraft. Mit dem Eintritt eines neuen Staatssekretärs war das ohnehin vorauszu¬<lb/>
sehen. Die Tätigkeit des Freiherrn von Richthosen hatte zum großen Teil auf<lb/>
anderm Gebiete gelegen, in der Leitung der auswärtigen Politik war der Dirigent<lb/>
der politischen Abteilung der hauptsächlichste Gehilfe des Reichskanzlers geworden.<lb/>
Aber doch immer nur der Gehilfe. Polemiken, auch in ausländischen Zeitungen,<lb/>
die den Sachverhalt so darstellen, als ob Herr von Holstein wider bessern Willen<lb/>
und Einsicht des Reichskanzlers der deutschen Marokkopolitik ihre Bahnen vorge¬<lb/>
zeichnet, ihr das zeitweise ernste Gepräge verliehen und eine direkte Verständigung<lb/>
mit Frankreich hintertrieben habe, entsprechen nicht den Tatsachen. Fürst Bülow<lb/>
sieht doch auch nicht so aus, als ob er sich seine politischen Entschließungen von<lb/>
seinen Untergebnen oktroyieren ließe. Gerade die Entschädigungsvorlage für den<lb/>
Reichstag hat zum Beispiel den Beweis des Gegenteils gebracht. Der Kanzler hat<lb/>
sie mit sehr großem Nachdruck im preußischen Staatsministerium gegen dessen scharf<lb/>
dissentierende Ansichten durchgesetzt. Noch viel weniger würde er sich in der aus¬<lb/>
wärtigen Politik, seinem eigensten Gebiete, die Richtschnur vorzeichnen lassen. Herr<lb/>
von Holstein ist deshalb auch keineswegs ein &#x201E;Opfer" der Marokkopolitik oder des<lb/>
Konferenzergebnisses. Das beweist unter anderm die Verleihung der Brillanten<lb/>
zuni Roten Adlerorden, gerade für die Marokkopolitik, sowie die weitere Tatsache,<lb/>
daß er sein erstes Abschiedsgesuch schon zu Neujahr eingereicht hatte. Die unmittel-<lb/>
bare und einzige Ursache ist die, daß mit dem Eintritt des Herrn von Tschirschky<lb/>
als Staatssekretär die bisherige Bewegungsfreiheit des Herrn von Holstein ganz<lb/>
natürlich Einschränkungen erleiden mußte, die ihm nicht zusagten, weil das Maß von<lb/>
Selbständigkeit, das er für sich beanspruchte, mit der Betätigung des Staatssekretärs<lb/>
kollidieren mußte. Erörterungen darüber, ob das notwendig zur Verabschiedung<lb/>
führen mußte, haben jetzt, nachdem die vollendete Tatsache vorliegt, keinen Wert<lb/>
mehr. In Herrn von Holstein hat das Auswärtige Amt zweifellos eine bedeutende<lb/>
Kraft verloren, für den Augenblick wohl unstreitig die bedeutendste. Aber es mag sein,<lb/>
daß eine Häufung von Reibungen aller Art, wie sie mit dem langjährigen Verbleiben<lb/>
auf einem Posten nicht selten verbunden sind, keinen andern Ausweg offen ließ.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0233] Maßgebliches und Unmaßgebliches das für 1905 während des Krieges und der innern Wirren der Fall war, die für weite Distrikte Rußlands nicht nur den Geschäfts-, sondern auch den Eisenbahn¬ verkehr lähmten, so liegen die Folgerungen für die Zeiten friedlicher normaler Ent¬ wicklung recht nahe. Fürst Bülow soll nach den neuern Dispositionen Berlin erst nach seinem Geburtstage (3. Mai) verlassen, seine Anwesenheit bei der dritten Lesung des Etats ist damit aufgegeben. Dagegen darf man annehmen, daß er, bevor er den Urlaub antritt, den Kaiser, der um diese Zeit in der Hauptstadt oder in Potsdam an¬ wesend sein wird, wieder sehen und sprechen kann, wie denn seine fortschreitende Kräftigung ihm wohl schon in den nächsten Tagen den Empfang einzelner Per¬ sönlichkeiten ohne Gefährdung seines Zustandes ermöglichen wird. Erörterungen in einzelnen Kreisen, die eine über das Stellvertretungsgesetz hinausgehende allgemeine Vertretung des Reichskanzlers zum Gegenstande haben, etwa wie in den Jahren 1879 bis 1882 die sogenannte Vertretung Bismarcks durch den Grafen Stolberg-Werni- gerode, kommt bis jetzt nur eine akademische Bedeutung zu, jedenfalls so lange, als nicht feststeht, ob und in welchem Umfange Fürst Bülow die Geschäfte während seiner Abwesenheit in der Hand behält. Das Stellvertretungsgesetz hat immerhin einen Reichskanzler zur Voraussetzung, der die leitenden Gedanken für die allgemeine Politik gibt, der die wichtigern Fragen im Auge behält und von dem vorbehaltnen Rechte, jederzeit eingreifen zu können, Gebrauch zu machen vermag. Zum Glück besteht alle Hoffnung, daß das bet dem Fürsten Bülow während seines Urlaubs der Fall sein wird. Das Ausscheiden des Geheimrath von Holstein aus dem Auswärtigen Amte hat zu umfangreichen publizistischen Erörterungen Anlaß gegeben. Im Grunde ge¬ nommen sollte es nicht auffallen, daß sogar ein sehr verdienstvoller Beamter mit neunundsechzig Jahren in den Ruhestand tritt, zumal bei stark geminderter Seh¬ kraft. Mit dem Eintritt eines neuen Staatssekretärs war das ohnehin vorauszu¬ sehen. Die Tätigkeit des Freiherrn von Richthosen hatte zum großen Teil auf anderm Gebiete gelegen, in der Leitung der auswärtigen Politik war der Dirigent der politischen Abteilung der hauptsächlichste Gehilfe des Reichskanzlers geworden. Aber doch immer nur der Gehilfe. Polemiken, auch in ausländischen Zeitungen, die den Sachverhalt so darstellen, als ob Herr von Holstein wider bessern Willen und Einsicht des Reichskanzlers der deutschen Marokkopolitik ihre Bahnen vorge¬ zeichnet, ihr das zeitweise ernste Gepräge verliehen und eine direkte Verständigung mit Frankreich hintertrieben habe, entsprechen nicht den Tatsachen. Fürst Bülow sieht doch auch nicht so aus, als ob er sich seine politischen Entschließungen von seinen Untergebnen oktroyieren ließe. Gerade die Entschädigungsvorlage für den Reichstag hat zum Beispiel den Beweis des Gegenteils gebracht. Der Kanzler hat sie mit sehr großem Nachdruck im preußischen Staatsministerium gegen dessen scharf dissentierende Ansichten durchgesetzt. Noch viel weniger würde er sich in der aus¬ wärtigen Politik, seinem eigensten Gebiete, die Richtschnur vorzeichnen lassen. Herr von Holstein ist deshalb auch keineswegs ein „Opfer" der Marokkopolitik oder des Konferenzergebnisses. Das beweist unter anderm die Verleihung der Brillanten zuni Roten Adlerorden, gerade für die Marokkopolitik, sowie die weitere Tatsache, daß er sein erstes Abschiedsgesuch schon zu Neujahr eingereicht hatte. Die unmittel- bare und einzige Ursache ist die, daß mit dem Eintritt des Herrn von Tschirschky als Staatssekretär die bisherige Bewegungsfreiheit des Herrn von Holstein ganz natürlich Einschränkungen erleiden mußte, die ihm nicht zusagten, weil das Maß von Selbständigkeit, das er für sich beanspruchte, mit der Betätigung des Staatssekretärs kollidieren mußte. Erörterungen darüber, ob das notwendig zur Verabschiedung führen mußte, haben jetzt, nachdem die vollendete Tatsache vorliegt, keinen Wert mehr. In Herrn von Holstein hat das Auswärtige Amt zweifellos eine bedeutende Kraft verloren, für den Augenblick wohl unstreitig die bedeutendste. Aber es mag sein, daß eine Häufung von Reibungen aller Art, wie sie mit dem langjährigen Verbleiben auf einem Posten nicht selten verbunden sind, keinen andern Ausweg offen ließ.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/233
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/233>, abgerufen am 24.07.2024.