Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches in dieser Richtung namentlich die starke Betonung auf, daß die russische Regierung Eine solche würde unvermeidlich werden, wenn der Radikalismus von links oder Maßgebliches und Unmaßgebliches in dieser Richtung namentlich die starke Betonung auf, daß die russische Regierung Eine solche würde unvermeidlich werden, wenn der Radikalismus von links oder <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0232" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299273"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1070" prev="#ID_1069"> in dieser Richtung namentlich die starke Betonung auf, daß die russische Regierung<lb/> jetzt nach Rückkehr großer Teile des Heeres aus Ostasien militärisch hinreichend in<lb/> der Lage sei, Agrarunruhen, falls und wo immer solche überhaupt zu befürchten<lb/> seien, mit allem Nachdruck zu verhindern. Der immer wiederkehrende Hinweis ans<lb/> bevorstehende Bauernaufstände größten Umfangs ist es ganz besonders, der das<lb/> Vertrauen in die Wiederkehr wirtschaftlicher Ordnung und finanzieller Erstarkung<lb/> Rußlands beeinträchtigt hat. Die Martinsche Publikation leidet offenbar an großer<lb/> Einseitigkeit und an vielen Übertreibungen, enthält daneben aber zweifellos viel<lb/> Richtiges. Ob sich die Duma als ein Werkzeug der Sammlung und der Ordnung<lb/> oder als ein neues Element der Zersetzung erweisen wird, ist eine noch völlig offne<lb/> Frage, von deren Beantwortung wohl die ganze weitere Entwicklung Rußlands<lb/> abhängen dürfte. Die Duma kann sich, in geschickter Regierungshand, als der<lb/> starke Hebel erweisen, mit dessen Hilfe Rußland aus dem Sumpfe seiner jetzigen<lb/> Verhältnisse hoch herausgehoben wird. Entgleitet sie aber der Hand der Regierung,<lb/> erweist sich die Regierung nicht als stark oder verständig genug, die Führung zu<lb/> behalten, so können die Verhältnisse leicht unberechenbar werden. Beachtenswert<lb/> erscheint das stärkere Hervortreten der konservativen, altrussischen Richtung, die von<lb/> Reformen „westlicher" Art überhaupt nicht viel wissen will, sondern nur „Selbst¬<lb/> herrschaft, Rechtgläubigkeit und Volkstum" als die drei Säulen der russischen<lb/> Macht anerkennt. Es ist dies das natürliche Gegengewicht zu dem extremen Radi¬<lb/> kalismus auf der andern Seite. Die Entscheidung wird bei den gemäßigten Ele¬<lb/> menten liegen, die einerseits eine den nationalen Eigentümlichkeiten des russischen<lb/> Lebens angepaßte Verfassung und deren loyale Durchführung anstreben, andrer¬<lb/> seits verhindern möchten, daß die militärische Diktatur das Ende vom Liede ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1071" next="#ID_1072"> Eine solche würde unvermeidlich werden, wenn der Radikalismus von links oder<lb/> rechts die Oberhand gewinnen sollte. Für die gemäßigten Elemente wird der Weg<lb/> um so schwieriger werden, als hinter dem Radikalismus auf der linken Seite alle<lb/> die revolutionären Elemente der verschiedensten Gattung stehn, die ein Interesse<lb/> daran haben, Rußland nicht zur Ruhe kommen zu lassen, und die Gegensätze zu ver¬<lb/> tiefen. Diese arbeiten dann allerdings für die militärische Diktatur. Die Martinschen<lb/> Übertreibungen, wie sie neuerdings u. a. in der Forderung eines Lombardierungs¬<lb/> verbots der russischen Werte zutage getreten sind, haben in der deutschen Presse<lb/> einen ziemlich einmütiger Widerspruch erfahren, wohl ein Beweis, daß die öffentliche<lb/> Meinung in Deutschland angesichts der finanziellen Lage Rußlands wohl Vorsicht üben,<lb/> aber Feindseligkeiten gegen Rußland nicht gutheißen will. Ein Lombardverbot wäre<lb/> eine direkt feindselige Maßregel gewesen, die zudem nicht nur Rußland, sondern<lb/> auch alle deutschen Besitzer russischer Papiere schwer geschädigt haben würde. Zu<lb/> solchen Maßnahmen liegt weder in den finanziellen noch in den politischen Verhält¬<lb/> nissen ein Anlaß vor. In dem Augenblick, wo andre Nationen Rußland einen zwar<lb/> teuern, aber immerhin großen Kredit gewähren, würde ein deutsches Lombardverbot<lb/> eine direkt provozierende Maßregel sein, die nicht nur Rußland, sondern auch seine<lb/> Kreditgeber träfe. Auch würde sich Deutschland damit jede Beteiligung an der<lb/> künftigen wirtschaftlichen Erschließung Rußlands abschneiden, die doch immerhin Ziel<lb/> und Aufgabe jeder einsichtigen russischen Regierung bleiben muß. Sodann darf bei<lb/> allen Maßnahmen, die unsre wirtschaftlichen Beziehungen zu Rußland zum Gegen¬<lb/> stande haben, der augenblickliche Handelsverkehr nicht außer Ansatz bleiben. Rußlands<lb/> Einfuhr nach Deutschland belief sich im Jahre 1905 auf mehr als eine Milliarde Mark,<lb/> von denen etwa 130 Millionen auf Edelmetalle kommen. Die reine Warenausfuhr<lb/> aus Rußland nach Deutschland stellt sich nach den Veröffentlichungen des Reichs¬<lb/> anzeigers also für 1905 auf 961 Millionen Mark gegen 805 Millionen für 1904.<lb/> Es ist sonach ungeachtet des Krieges eine Zunahme von 156 Millionen Mark zu<lb/> verzeichnen, eine Zahl, die allerdings teils durch die Erhöhung der für die Be¬<lb/> rechnung maßgebenden Einheitswerte, teils durch die Vermehrung der Getreide¬<lb/> einfuhr um 587000 Tonnen entstanden ist. Die deutsche Ausfuhr nach Rußland hat<lb/> an Steinkohlen, Salz und Eiseuwaren bedeutende Zunahmen zu verzeichnen. Wenn</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0232]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
in dieser Richtung namentlich die starke Betonung auf, daß die russische Regierung
jetzt nach Rückkehr großer Teile des Heeres aus Ostasien militärisch hinreichend in
der Lage sei, Agrarunruhen, falls und wo immer solche überhaupt zu befürchten
seien, mit allem Nachdruck zu verhindern. Der immer wiederkehrende Hinweis ans
bevorstehende Bauernaufstände größten Umfangs ist es ganz besonders, der das
Vertrauen in die Wiederkehr wirtschaftlicher Ordnung und finanzieller Erstarkung
Rußlands beeinträchtigt hat. Die Martinsche Publikation leidet offenbar an großer
Einseitigkeit und an vielen Übertreibungen, enthält daneben aber zweifellos viel
Richtiges. Ob sich die Duma als ein Werkzeug der Sammlung und der Ordnung
oder als ein neues Element der Zersetzung erweisen wird, ist eine noch völlig offne
Frage, von deren Beantwortung wohl die ganze weitere Entwicklung Rußlands
abhängen dürfte. Die Duma kann sich, in geschickter Regierungshand, als der
starke Hebel erweisen, mit dessen Hilfe Rußland aus dem Sumpfe seiner jetzigen
Verhältnisse hoch herausgehoben wird. Entgleitet sie aber der Hand der Regierung,
erweist sich die Regierung nicht als stark oder verständig genug, die Führung zu
behalten, so können die Verhältnisse leicht unberechenbar werden. Beachtenswert
erscheint das stärkere Hervortreten der konservativen, altrussischen Richtung, die von
Reformen „westlicher" Art überhaupt nicht viel wissen will, sondern nur „Selbst¬
herrschaft, Rechtgläubigkeit und Volkstum" als die drei Säulen der russischen
Macht anerkennt. Es ist dies das natürliche Gegengewicht zu dem extremen Radi¬
kalismus auf der andern Seite. Die Entscheidung wird bei den gemäßigten Ele¬
menten liegen, die einerseits eine den nationalen Eigentümlichkeiten des russischen
Lebens angepaßte Verfassung und deren loyale Durchführung anstreben, andrer¬
seits verhindern möchten, daß die militärische Diktatur das Ende vom Liede ist.
Eine solche würde unvermeidlich werden, wenn der Radikalismus von links oder
rechts die Oberhand gewinnen sollte. Für die gemäßigten Elemente wird der Weg
um so schwieriger werden, als hinter dem Radikalismus auf der linken Seite alle
die revolutionären Elemente der verschiedensten Gattung stehn, die ein Interesse
daran haben, Rußland nicht zur Ruhe kommen zu lassen, und die Gegensätze zu ver¬
tiefen. Diese arbeiten dann allerdings für die militärische Diktatur. Die Martinschen
Übertreibungen, wie sie neuerdings u. a. in der Forderung eines Lombardierungs¬
verbots der russischen Werte zutage getreten sind, haben in der deutschen Presse
einen ziemlich einmütiger Widerspruch erfahren, wohl ein Beweis, daß die öffentliche
Meinung in Deutschland angesichts der finanziellen Lage Rußlands wohl Vorsicht üben,
aber Feindseligkeiten gegen Rußland nicht gutheißen will. Ein Lombardverbot wäre
eine direkt feindselige Maßregel gewesen, die zudem nicht nur Rußland, sondern
auch alle deutschen Besitzer russischer Papiere schwer geschädigt haben würde. Zu
solchen Maßnahmen liegt weder in den finanziellen noch in den politischen Verhält¬
nissen ein Anlaß vor. In dem Augenblick, wo andre Nationen Rußland einen zwar
teuern, aber immerhin großen Kredit gewähren, würde ein deutsches Lombardverbot
eine direkt provozierende Maßregel sein, die nicht nur Rußland, sondern auch seine
Kreditgeber träfe. Auch würde sich Deutschland damit jede Beteiligung an der
künftigen wirtschaftlichen Erschließung Rußlands abschneiden, die doch immerhin Ziel
und Aufgabe jeder einsichtigen russischen Regierung bleiben muß. Sodann darf bei
allen Maßnahmen, die unsre wirtschaftlichen Beziehungen zu Rußland zum Gegen¬
stande haben, der augenblickliche Handelsverkehr nicht außer Ansatz bleiben. Rußlands
Einfuhr nach Deutschland belief sich im Jahre 1905 auf mehr als eine Milliarde Mark,
von denen etwa 130 Millionen auf Edelmetalle kommen. Die reine Warenausfuhr
aus Rußland nach Deutschland stellt sich nach den Veröffentlichungen des Reichs¬
anzeigers also für 1905 auf 961 Millionen Mark gegen 805 Millionen für 1904.
Es ist sonach ungeachtet des Krieges eine Zunahme von 156 Millionen Mark zu
verzeichnen, eine Zahl, die allerdings teils durch die Erhöhung der für die Be¬
rechnung maßgebenden Einheitswerte, teils durch die Vermehrung der Getreide¬
einfuhr um 587000 Tonnen entstanden ist. Die deutsche Ausfuhr nach Rußland hat
an Steinkohlen, Salz und Eiseuwaren bedeutende Zunahmen zu verzeichnen. Wenn
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