Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Regierung gerichteten Interpellationen zum Ausdruck gelangt ist, glaubt man wohl
in Italien nirgend an Folgen, die sich aus der Haltung der italienischen Regierung
für das Dreibundverhältnis ergeben könnten. Der Dreibund sichert Italien vor
Feindseligkeiten Österreichs, und der Wert Italiens im Dreibunde besteht für Deutsch¬
land darin, daß die österreichische Armee damit für die eigentlichen Zwecke des
Bundes intakt bleibt. Solange Italien nicht an eine andre Kombination glaubt,
die es ihm mit Erfolg ermöglichen würde, gegen Österreich Krieg zu führe", wird
es immer zu der Verlängerung des Dreibundes bereit sein, wobei Italien der
empfangende, nicht der gebende Teil ist. Deutschland und Österreich wiederum
werden in die Erneuerung der Abmachung mit Italien wohl so lange willigen, als diese
Österreich eine loyale Deckung für die Integrität seiner welschen Landesteile bietet.
An diesem einen Punkte hängt hauptsächlich jede Verlängerung des Dreibundes.

Die Veränderung in den Beziehungen Italiens zu Deutschland kommt jedoch
unverkennbar in der Veränderung des Berliner Botschafterpostens zum Ausdruck,
die von Rom signalisiert wird. General Lanza, Italiens langjähriger Vertreter
in Berlin, war in seiner Person die Inkarnation des intimen Verhältnisses, das
zu Umbertos Zeiten zwischen Rom und Berlin bestand. Mit der Thronbesteigung
des jetzigen Königs ist hierin ein Wandel eingetreten, die frühere Intimität ist
verblaßt und hat schon wiederholt eine gegenteilige Färbung angenommen. General
Lanza hat deshalb schon zweimal seinen Wunsch nach Enthebung von dem Ber¬
liner Posten zu erkennen gegeben, ist aber beidemal durch den Wunsch des Kaisers,
der ihn ebenso als Diplomaten wie als Soldaten schätzt, bestimmt worden, aus¬
zuhalten. Diesesmal scheint es Ernst zu werden. Lanza sah seine Stellung als
unmöglich geworden an von dem Augenblick, wo Tittoni und sein Amtsvorgänger
geheime Abmachungen mit Frankreich trafen, die Deutschland vorenthalten wurden. Der
General erkennt jetzt mit Bedauern, daß er zu lauge in Berlin ausgehalten hat und
dadurch wider Willen Vertreter einer Politik geworden ist, deren Loyalität ihm nicht
mehr als einwandfrei galt und gelten konnte. Jetzt wird es darauf ankommen, wie
Italien den Berliner Posten zu besetzen gedenkt, zumal bei dem Eifer, den Herr Tittoni,
der bisherige Minister des Auswärtigen und nunmehrige Botschafter in London, dort
entwickelt, um die Befestigung der englisch-französisch-italienischen Bündnispolitik zu
betreiben. Ein neuer Dreibund, der es Italien ermöglichen soll, seine alten Absichten
ans Südtirol und Trieft zu verwirklichen! Rußland ist wohl als der Vierte im
Bunde gedacht. Es ist also DelcaUsche Politik, die Herr Tittoni in London betreibt.
Die Abneigung der Engländer, an Österreichs Integrität zu rühren -- sie behaupten
ja fortgesetzt in allen Weltteilen, daß Deutschland im Begriffe stehe, Österreichs
deutsche Landesteile an sich zu reißen, und daß sich "Europa" gegen diese Ver¬
schiebung des Gleichgewichts vorsehen müsse --, wird aber auch Tittoni nicht über¬
winden. Die Zerstückelung Österreichs, die England Deutschland verwehren zu
müssen glaubt, kann es unmöglich Italien gestatten. König Eduard hat seinem
bevorstehenden Besuch in Neapel einen "privaten" Mantel angehängt, teils wohl
in der Empfindung, daß sich der Golf von Neapel gegenwärtig zu festlichem Ge¬
pränge nicht eignet, teils wohl in der andern Erwägung, daß eine ostentative "Be¬
gegnung in Neapel" die Gesamtlage um einen neuen Grund der Beunruhigung
bereichern würde in einem Augenlick, wo nach der Spannung von Algeciras alle
Welt, Englands öffentliche Meinung nicht zum wenigsten, Ruhe verlangt. Der
"private" Besuch soll die Tatsache äußerlich abschwächen, vielleicht aber auch den
Italienern nahelegen, für allzu übertriebne Projekte keine Rechnung auf England zu
machen. Italien wird guttun, sich vorzusehen, daß es gelegentlich nicht zwischen
zwei oder gar drei Stühlen zu Boden kommt.

In den letzten Tagen ist der russische Telegraph außerordentlich beredt ge¬
wesen, die wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands in einem möglichst günstigen Lichte
zu zeigen. Dem lag wohl die Absicht zugrunde, der ungünstigen Beurteilung der
wirtschaftlichen Lage des Reichs, wie sie in der Martinschen Publikation und in
einzelnen deutschen Blättern zum Ausdruck gelangt ist, entgegenzuwirken. Es fällt


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Regierung gerichteten Interpellationen zum Ausdruck gelangt ist, glaubt man wohl
in Italien nirgend an Folgen, die sich aus der Haltung der italienischen Regierung
für das Dreibundverhältnis ergeben könnten. Der Dreibund sichert Italien vor
Feindseligkeiten Österreichs, und der Wert Italiens im Dreibunde besteht für Deutsch¬
land darin, daß die österreichische Armee damit für die eigentlichen Zwecke des
Bundes intakt bleibt. Solange Italien nicht an eine andre Kombination glaubt,
die es ihm mit Erfolg ermöglichen würde, gegen Österreich Krieg zu führe», wird
es immer zu der Verlängerung des Dreibundes bereit sein, wobei Italien der
empfangende, nicht der gebende Teil ist. Deutschland und Österreich wiederum
werden in die Erneuerung der Abmachung mit Italien wohl so lange willigen, als diese
Österreich eine loyale Deckung für die Integrität seiner welschen Landesteile bietet.
An diesem einen Punkte hängt hauptsächlich jede Verlängerung des Dreibundes.

Die Veränderung in den Beziehungen Italiens zu Deutschland kommt jedoch
unverkennbar in der Veränderung des Berliner Botschafterpostens zum Ausdruck,
die von Rom signalisiert wird. General Lanza, Italiens langjähriger Vertreter
in Berlin, war in seiner Person die Inkarnation des intimen Verhältnisses, das
zu Umbertos Zeiten zwischen Rom und Berlin bestand. Mit der Thronbesteigung
des jetzigen Königs ist hierin ein Wandel eingetreten, die frühere Intimität ist
verblaßt und hat schon wiederholt eine gegenteilige Färbung angenommen. General
Lanza hat deshalb schon zweimal seinen Wunsch nach Enthebung von dem Ber¬
liner Posten zu erkennen gegeben, ist aber beidemal durch den Wunsch des Kaisers,
der ihn ebenso als Diplomaten wie als Soldaten schätzt, bestimmt worden, aus¬
zuhalten. Diesesmal scheint es Ernst zu werden. Lanza sah seine Stellung als
unmöglich geworden an von dem Augenblick, wo Tittoni und sein Amtsvorgänger
geheime Abmachungen mit Frankreich trafen, die Deutschland vorenthalten wurden. Der
General erkennt jetzt mit Bedauern, daß er zu lauge in Berlin ausgehalten hat und
dadurch wider Willen Vertreter einer Politik geworden ist, deren Loyalität ihm nicht
mehr als einwandfrei galt und gelten konnte. Jetzt wird es darauf ankommen, wie
Italien den Berliner Posten zu besetzen gedenkt, zumal bei dem Eifer, den Herr Tittoni,
der bisherige Minister des Auswärtigen und nunmehrige Botschafter in London, dort
entwickelt, um die Befestigung der englisch-französisch-italienischen Bündnispolitik zu
betreiben. Ein neuer Dreibund, der es Italien ermöglichen soll, seine alten Absichten
ans Südtirol und Trieft zu verwirklichen! Rußland ist wohl als der Vierte im
Bunde gedacht. Es ist also DelcaUsche Politik, die Herr Tittoni in London betreibt.
Die Abneigung der Engländer, an Österreichs Integrität zu rühren — sie behaupten
ja fortgesetzt in allen Weltteilen, daß Deutschland im Begriffe stehe, Österreichs
deutsche Landesteile an sich zu reißen, und daß sich „Europa" gegen diese Ver¬
schiebung des Gleichgewichts vorsehen müsse —, wird aber auch Tittoni nicht über¬
winden. Die Zerstückelung Österreichs, die England Deutschland verwehren zu
müssen glaubt, kann es unmöglich Italien gestatten. König Eduard hat seinem
bevorstehenden Besuch in Neapel einen „privaten" Mantel angehängt, teils wohl
in der Empfindung, daß sich der Golf von Neapel gegenwärtig zu festlichem Ge¬
pränge nicht eignet, teils wohl in der andern Erwägung, daß eine ostentative „Be¬
gegnung in Neapel" die Gesamtlage um einen neuen Grund der Beunruhigung
bereichern würde in einem Augenlick, wo nach der Spannung von Algeciras alle
Welt, Englands öffentliche Meinung nicht zum wenigsten, Ruhe verlangt. Der
„private" Besuch soll die Tatsache äußerlich abschwächen, vielleicht aber auch den
Italienern nahelegen, für allzu übertriebne Projekte keine Rechnung auf England zu
machen. Italien wird guttun, sich vorzusehen, daß es gelegentlich nicht zwischen
zwei oder gar drei Stühlen zu Boden kommt.

In den letzten Tagen ist der russische Telegraph außerordentlich beredt ge¬
wesen, die wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands in einem möglichst günstigen Lichte
zu zeigen. Dem lag wohl die Absicht zugrunde, der ungünstigen Beurteilung der
wirtschaftlichen Lage des Reichs, wie sie in der Martinschen Publikation und in
einzelnen deutschen Blättern zum Ausdruck gelangt ist, entgegenzuwirken. Es fällt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0231" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299272"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1067" prev="#ID_1066"> Regierung gerichteten Interpellationen zum Ausdruck gelangt ist, glaubt man wohl<lb/>
in Italien nirgend an Folgen, die sich aus der Haltung der italienischen Regierung<lb/>
für das Dreibundverhältnis ergeben könnten. Der Dreibund sichert Italien vor<lb/>
Feindseligkeiten Österreichs, und der Wert Italiens im Dreibunde besteht für Deutsch¬<lb/>
land darin, daß die österreichische Armee damit für die eigentlichen Zwecke des<lb/>
Bundes intakt bleibt. Solange Italien nicht an eine andre Kombination glaubt,<lb/>
die es ihm mit Erfolg ermöglichen würde, gegen Österreich Krieg zu führe», wird<lb/>
es immer zu der Verlängerung des Dreibundes bereit sein, wobei Italien der<lb/>
empfangende, nicht der gebende Teil ist. Deutschland und Österreich wiederum<lb/>
werden in die Erneuerung der Abmachung mit Italien wohl so lange willigen, als diese<lb/>
Österreich eine loyale Deckung für die Integrität seiner welschen Landesteile bietet.<lb/>
An diesem einen Punkte hängt hauptsächlich jede Verlängerung des Dreibundes.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1068"> Die Veränderung in den Beziehungen Italiens zu Deutschland kommt jedoch<lb/>
unverkennbar in der Veränderung des Berliner Botschafterpostens zum Ausdruck,<lb/>
die von Rom signalisiert wird. General Lanza, Italiens langjähriger Vertreter<lb/>
in Berlin, war in seiner Person die Inkarnation des intimen Verhältnisses, das<lb/>
zu Umbertos Zeiten zwischen Rom und Berlin bestand. Mit der Thronbesteigung<lb/>
des jetzigen Königs ist hierin ein Wandel eingetreten, die frühere Intimität ist<lb/>
verblaßt und hat schon wiederholt eine gegenteilige Färbung angenommen. General<lb/>
Lanza hat deshalb schon zweimal seinen Wunsch nach Enthebung von dem Ber¬<lb/>
liner Posten zu erkennen gegeben, ist aber beidemal durch den Wunsch des Kaisers,<lb/>
der ihn ebenso als Diplomaten wie als Soldaten schätzt, bestimmt worden, aus¬<lb/>
zuhalten. Diesesmal scheint es Ernst zu werden. Lanza sah seine Stellung als<lb/>
unmöglich geworden an von dem Augenblick, wo Tittoni und sein Amtsvorgänger<lb/>
geheime Abmachungen mit Frankreich trafen, die Deutschland vorenthalten wurden. Der<lb/>
General erkennt jetzt mit Bedauern, daß er zu lauge in Berlin ausgehalten hat und<lb/>
dadurch wider Willen Vertreter einer Politik geworden ist, deren Loyalität ihm nicht<lb/>
mehr als einwandfrei galt und gelten konnte. Jetzt wird es darauf ankommen, wie<lb/>
Italien den Berliner Posten zu besetzen gedenkt, zumal bei dem Eifer, den Herr Tittoni,<lb/>
der bisherige Minister des Auswärtigen und nunmehrige Botschafter in London, dort<lb/>
entwickelt, um die Befestigung der englisch-französisch-italienischen Bündnispolitik zu<lb/>
betreiben. Ein neuer Dreibund, der es Italien ermöglichen soll, seine alten Absichten<lb/>
ans Südtirol und Trieft zu verwirklichen! Rußland ist wohl als der Vierte im<lb/>
Bunde gedacht. Es ist also DelcaUsche Politik, die Herr Tittoni in London betreibt.<lb/>
Die Abneigung der Engländer, an Österreichs Integrität zu rühren &#x2014; sie behaupten<lb/>
ja fortgesetzt in allen Weltteilen, daß Deutschland im Begriffe stehe, Österreichs<lb/>
deutsche Landesteile an sich zu reißen, und daß sich &#x201E;Europa" gegen diese Ver¬<lb/>
schiebung des Gleichgewichts vorsehen müsse &#x2014;, wird aber auch Tittoni nicht über¬<lb/>
winden. Die Zerstückelung Österreichs, die England Deutschland verwehren zu<lb/>
müssen glaubt, kann es unmöglich Italien gestatten. König Eduard hat seinem<lb/>
bevorstehenden Besuch in Neapel einen &#x201E;privaten" Mantel angehängt, teils wohl<lb/>
in der Empfindung, daß sich der Golf von Neapel gegenwärtig zu festlichem Ge¬<lb/>
pränge nicht eignet, teils wohl in der andern Erwägung, daß eine ostentative &#x201E;Be¬<lb/>
gegnung in Neapel" die Gesamtlage um einen neuen Grund der Beunruhigung<lb/>
bereichern würde in einem Augenlick, wo nach der Spannung von Algeciras alle<lb/>
Welt, Englands öffentliche Meinung nicht zum wenigsten, Ruhe verlangt. Der<lb/>
&#x201E;private" Besuch soll die Tatsache äußerlich abschwächen, vielleicht aber auch den<lb/>
Italienern nahelegen, für allzu übertriebne Projekte keine Rechnung auf England zu<lb/>
machen. Italien wird guttun, sich vorzusehen, daß es gelegentlich nicht zwischen<lb/>
zwei oder gar drei Stühlen zu Boden kommt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1069" next="#ID_1070"> In den letzten Tagen ist der russische Telegraph außerordentlich beredt ge¬<lb/>
wesen, die wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands in einem möglichst günstigen Lichte<lb/>
zu zeigen. Dem lag wohl die Absicht zugrunde, der ungünstigen Beurteilung der<lb/>
wirtschaftlichen Lage des Reichs, wie sie in der Martinschen Publikation und in<lb/>
einzelnen deutschen Blättern zum Ausdruck gelangt ist, entgegenzuwirken. Es fällt</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0231] Maßgebliches und Unmaßgebliches Regierung gerichteten Interpellationen zum Ausdruck gelangt ist, glaubt man wohl in Italien nirgend an Folgen, die sich aus der Haltung der italienischen Regierung für das Dreibundverhältnis ergeben könnten. Der Dreibund sichert Italien vor Feindseligkeiten Österreichs, und der Wert Italiens im Dreibunde besteht für Deutsch¬ land darin, daß die österreichische Armee damit für die eigentlichen Zwecke des Bundes intakt bleibt. Solange Italien nicht an eine andre Kombination glaubt, die es ihm mit Erfolg ermöglichen würde, gegen Österreich Krieg zu führe», wird es immer zu der Verlängerung des Dreibundes bereit sein, wobei Italien der empfangende, nicht der gebende Teil ist. Deutschland und Österreich wiederum werden in die Erneuerung der Abmachung mit Italien wohl so lange willigen, als diese Österreich eine loyale Deckung für die Integrität seiner welschen Landesteile bietet. An diesem einen Punkte hängt hauptsächlich jede Verlängerung des Dreibundes. Die Veränderung in den Beziehungen Italiens zu Deutschland kommt jedoch unverkennbar in der Veränderung des Berliner Botschafterpostens zum Ausdruck, die von Rom signalisiert wird. General Lanza, Italiens langjähriger Vertreter in Berlin, war in seiner Person die Inkarnation des intimen Verhältnisses, das zu Umbertos Zeiten zwischen Rom und Berlin bestand. Mit der Thronbesteigung des jetzigen Königs ist hierin ein Wandel eingetreten, die frühere Intimität ist verblaßt und hat schon wiederholt eine gegenteilige Färbung angenommen. General Lanza hat deshalb schon zweimal seinen Wunsch nach Enthebung von dem Ber¬ liner Posten zu erkennen gegeben, ist aber beidemal durch den Wunsch des Kaisers, der ihn ebenso als Diplomaten wie als Soldaten schätzt, bestimmt worden, aus¬ zuhalten. Diesesmal scheint es Ernst zu werden. Lanza sah seine Stellung als unmöglich geworden an von dem Augenblick, wo Tittoni und sein Amtsvorgänger geheime Abmachungen mit Frankreich trafen, die Deutschland vorenthalten wurden. Der General erkennt jetzt mit Bedauern, daß er zu lauge in Berlin ausgehalten hat und dadurch wider Willen Vertreter einer Politik geworden ist, deren Loyalität ihm nicht mehr als einwandfrei galt und gelten konnte. Jetzt wird es darauf ankommen, wie Italien den Berliner Posten zu besetzen gedenkt, zumal bei dem Eifer, den Herr Tittoni, der bisherige Minister des Auswärtigen und nunmehrige Botschafter in London, dort entwickelt, um die Befestigung der englisch-französisch-italienischen Bündnispolitik zu betreiben. Ein neuer Dreibund, der es Italien ermöglichen soll, seine alten Absichten ans Südtirol und Trieft zu verwirklichen! Rußland ist wohl als der Vierte im Bunde gedacht. Es ist also DelcaUsche Politik, die Herr Tittoni in London betreibt. Die Abneigung der Engländer, an Österreichs Integrität zu rühren — sie behaupten ja fortgesetzt in allen Weltteilen, daß Deutschland im Begriffe stehe, Österreichs deutsche Landesteile an sich zu reißen, und daß sich „Europa" gegen diese Ver¬ schiebung des Gleichgewichts vorsehen müsse —, wird aber auch Tittoni nicht über¬ winden. Die Zerstückelung Österreichs, die England Deutschland verwehren zu müssen glaubt, kann es unmöglich Italien gestatten. König Eduard hat seinem bevorstehenden Besuch in Neapel einen „privaten" Mantel angehängt, teils wohl in der Empfindung, daß sich der Golf von Neapel gegenwärtig zu festlichem Ge¬ pränge nicht eignet, teils wohl in der andern Erwägung, daß eine ostentative „Be¬ gegnung in Neapel" die Gesamtlage um einen neuen Grund der Beunruhigung bereichern würde in einem Augenlick, wo nach der Spannung von Algeciras alle Welt, Englands öffentliche Meinung nicht zum wenigsten, Ruhe verlangt. Der „private" Besuch soll die Tatsache äußerlich abschwächen, vielleicht aber auch den Italienern nahelegen, für allzu übertriebne Projekte keine Rechnung auf England zu machen. Italien wird guttun, sich vorzusehen, daß es gelegentlich nicht zwischen zwei oder gar drei Stühlen zu Boden kommt. In den letzten Tagen ist der russische Telegraph außerordentlich beredt ge¬ wesen, die wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands in einem möglichst günstigen Lichte zu zeigen. Dem lag wohl die Absicht zugrunde, der ungünstigen Beurteilung der wirtschaftlichen Lage des Reichs, wie sie in der Martinschen Publikation und in einzelnen deutschen Blättern zum Ausdruck gelangt ist, entgegenzuwirken. Es fällt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/231
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/231>, abgerufen am 27.12.2024.