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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

Lieber Jesu, bleib bei mir. sei du meines Lebens Zier. Steh mir bei im Erden¬
leide bis zur ewigen Himmelsfreude.

Nach diesem Sommertag kam der Sommerregeu. Der Garten wurde häßlich,
und das große Gutshaus kalt. Bei Frau Lilli brannte im Kamin ein Feuer, und
auch die alte Frau von Falkenberg ließ heizen, aber die Kinder flüchteten sich in
den warmen Stall, zu Cäsar und den Ponys, oder sie liefen durch den Regen in
den Gemüsegarten und aßen unreifes Obst.

Anneli war etwas mehr um ihre Großmutter. Wie es kam, wußte sie selbst
nicht, aber sie saß jetzt manchmal in der behaglich und altmodisch eingerichteten Wohn¬
stube und las etwas aus der Zeitung vor oder machte eine kleine Handarbeit.
Die Augen der alten Frau schienen nicht mehr ganz so kalt zu sein, und ihre
Stimme war manchmal freundlicher, aber sie sagte niemals sehr viel. Anneli wußte
ja auch jetzt, daß sie auf sie böse war wegen ihrer Mutter, und sie tat ihr manchmal
leid. Deshalb suchte sie selbst freundlich zu sein, und zuweilen wurde sie sogar
zutraulich, lachte und erzählte, was sie dachte und erlebt hatte. Den eignen
Kummer über die Mutter hatte Anneli halbwegs vergessen. Gelegentlich betrachtete
sie noch ihr Bild, und Bernb machte eine weise Bemerkung, das war aber alles.
Das Leben hatte hier zu viel schönes, sogar beim sanften Sommerregeu und beim
fauchenden Sturm. Denn auch dieser machte, trotz dem Junimonat, seine Aufwartung
und warf so viel kleine Äpfel von den Bäumen, daß es jammerschade gewesen wäre,
wenn man sie einfach hätte liegen lassen.

Aber Herr Lindemann erschien hinter den Kindern im Obstgarten und hielt
eine Rede, die er, wie Bernb sagte, später auf der Kanzel verwenden konnte. Von
Cholera handelte sie, von Leibschmerzen und ähnlichen angenehmen Dingen, sodaß
sich Anneli und Bernb rasch aus dem Staube machten und sich darin einig waren,
daß es keine unangenehmern Wesen geben könnte als Hauslehrer, Gouvernanten
vielleicht ausgenommen. Aber das dachte Anneli nur allein für sich in ihrem be¬
kümmerten Herzen.

Es war ein Sonntagmorgen, und die Falkenhorster wollten alle in das be¬
nachbarte Dorf zur Kirche fahren. Sogar Tante Lilli stand in ihrem weißen
Tuchkostüm in der Halle und betrachtete nachdenklich Aureus Kleid mit den wunder¬
lichen Figuren darin, das diese, wie immer, trug.

Frau Lilli hatte ein sanftes, verträumtes Gesicht. Weh tun wollte sie keinem
Menschen, aber sie dachte auch wenig an andre. Schon zweimal hatte sie sich vor¬
genommen, Anneli ein neues Kleid machen zu lassen, aber sie hatte es immer
wieder vergessen. Da kam der Postbote und brachte Zeitungen und Briefe. Anneli
sah, wie die Sachen in das Zimmer des Schloßherrn gebracht wurden, und zum
erstenmal kam ihr der Gedanke, wie es Onkel Willi wohl gehn möge. Von
Schreiben war beim Abschied nicht die Rede gewesen, aber sie mußte sich doch
wohl einmal vor Papier und Löschblatt setzen. Das Löschblatt war sehr notwendig,
denn die Tinte kleckste immer so abscheulich.

Anneli war noch mit diesen Gedanken beschäftigt, als sie von Mutter Maren
zu der Frau Großmutter gerufen wurde. Die alte Dame stand in ihrem schwarzen
Kirchenkleide am Fenster und hielt einen Brief in der Hand, den ihr Onkel Bodo
wohl gebracht hatte. Denn Herr von Falkenberg war auch da, zog an seinem
Schnurrbart, klemmte sein Glas in das Auge und ließ es gleich wieder fallen, wie
er immer tat, wenn er an wichtige Dinge dachte.

Bei Aureus Eintritt ging er geräuschlos hinaus, und seine Mutter wandte
sich der Kleinen zu. Sie räusperte sich mehrmals.

Liebe Anneli, sagte sie, ich habe dir etwas trauriges mitzuteilen. Deine Tante
Fritze ist krank -- nein, ich will dir lieber gleich die Wahrheit sagen, sie ist tot,
sanft am Herzschlag gestorben.

Tante Fritze ist tot. Anneli wiederholte mechanisch die Worte. Und dann
hörte sie im Geiste eine schrille Stimme sprechen. Tante Fritze wird bald ab¬
rutschen! Nun war sie abgerutscht.


Menschenfrühling

Lieber Jesu, bleib bei mir. sei du meines Lebens Zier. Steh mir bei im Erden¬
leide bis zur ewigen Himmelsfreude.

Nach diesem Sommertag kam der Sommerregeu. Der Garten wurde häßlich,
und das große Gutshaus kalt. Bei Frau Lilli brannte im Kamin ein Feuer, und
auch die alte Frau von Falkenberg ließ heizen, aber die Kinder flüchteten sich in
den warmen Stall, zu Cäsar und den Ponys, oder sie liefen durch den Regen in
den Gemüsegarten und aßen unreifes Obst.

Anneli war etwas mehr um ihre Großmutter. Wie es kam, wußte sie selbst
nicht, aber sie saß jetzt manchmal in der behaglich und altmodisch eingerichteten Wohn¬
stube und las etwas aus der Zeitung vor oder machte eine kleine Handarbeit.
Die Augen der alten Frau schienen nicht mehr ganz so kalt zu sein, und ihre
Stimme war manchmal freundlicher, aber sie sagte niemals sehr viel. Anneli wußte
ja auch jetzt, daß sie auf sie böse war wegen ihrer Mutter, und sie tat ihr manchmal
leid. Deshalb suchte sie selbst freundlich zu sein, und zuweilen wurde sie sogar
zutraulich, lachte und erzählte, was sie dachte und erlebt hatte. Den eignen
Kummer über die Mutter hatte Anneli halbwegs vergessen. Gelegentlich betrachtete
sie noch ihr Bild, und Bernb machte eine weise Bemerkung, das war aber alles.
Das Leben hatte hier zu viel schönes, sogar beim sanften Sommerregeu und beim
fauchenden Sturm. Denn auch dieser machte, trotz dem Junimonat, seine Aufwartung
und warf so viel kleine Äpfel von den Bäumen, daß es jammerschade gewesen wäre,
wenn man sie einfach hätte liegen lassen.

Aber Herr Lindemann erschien hinter den Kindern im Obstgarten und hielt
eine Rede, die er, wie Bernb sagte, später auf der Kanzel verwenden konnte. Von
Cholera handelte sie, von Leibschmerzen und ähnlichen angenehmen Dingen, sodaß
sich Anneli und Bernb rasch aus dem Staube machten und sich darin einig waren,
daß es keine unangenehmern Wesen geben könnte als Hauslehrer, Gouvernanten
vielleicht ausgenommen. Aber das dachte Anneli nur allein für sich in ihrem be¬
kümmerten Herzen.

Es war ein Sonntagmorgen, und die Falkenhorster wollten alle in das be¬
nachbarte Dorf zur Kirche fahren. Sogar Tante Lilli stand in ihrem weißen
Tuchkostüm in der Halle und betrachtete nachdenklich Aureus Kleid mit den wunder¬
lichen Figuren darin, das diese, wie immer, trug.

Frau Lilli hatte ein sanftes, verträumtes Gesicht. Weh tun wollte sie keinem
Menschen, aber sie dachte auch wenig an andre. Schon zweimal hatte sie sich vor¬
genommen, Anneli ein neues Kleid machen zu lassen, aber sie hatte es immer
wieder vergessen. Da kam der Postbote und brachte Zeitungen und Briefe. Anneli
sah, wie die Sachen in das Zimmer des Schloßherrn gebracht wurden, und zum
erstenmal kam ihr der Gedanke, wie es Onkel Willi wohl gehn möge. Von
Schreiben war beim Abschied nicht die Rede gewesen, aber sie mußte sich doch
wohl einmal vor Papier und Löschblatt setzen. Das Löschblatt war sehr notwendig,
denn die Tinte kleckste immer so abscheulich.

Anneli war noch mit diesen Gedanken beschäftigt, als sie von Mutter Maren
zu der Frau Großmutter gerufen wurde. Die alte Dame stand in ihrem schwarzen
Kirchenkleide am Fenster und hielt einen Brief in der Hand, den ihr Onkel Bodo
wohl gebracht hatte. Denn Herr von Falkenberg war auch da, zog an seinem
Schnurrbart, klemmte sein Glas in das Auge und ließ es gleich wieder fallen, wie
er immer tat, wenn er an wichtige Dinge dachte.

Bei Aureus Eintritt ging er geräuschlos hinaus, und seine Mutter wandte
sich der Kleinen zu. Sie räusperte sich mehrmals.

Liebe Anneli, sagte sie, ich habe dir etwas trauriges mitzuteilen. Deine Tante
Fritze ist krank — nein, ich will dir lieber gleich die Wahrheit sagen, sie ist tot,
sanft am Herzschlag gestorben.

Tante Fritze ist tot. Anneli wiederholte mechanisch die Worte. Und dann
hörte sie im Geiste eine schrille Stimme sprechen. Tante Fritze wird bald ab¬
rutschen! Nun war sie abgerutscht.


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[0228] Menschenfrühling Lieber Jesu, bleib bei mir. sei du meines Lebens Zier. Steh mir bei im Erden¬ leide bis zur ewigen Himmelsfreude. Nach diesem Sommertag kam der Sommerregeu. Der Garten wurde häßlich, und das große Gutshaus kalt. Bei Frau Lilli brannte im Kamin ein Feuer, und auch die alte Frau von Falkenberg ließ heizen, aber die Kinder flüchteten sich in den warmen Stall, zu Cäsar und den Ponys, oder sie liefen durch den Regen in den Gemüsegarten und aßen unreifes Obst. Anneli war etwas mehr um ihre Großmutter. Wie es kam, wußte sie selbst nicht, aber sie saß jetzt manchmal in der behaglich und altmodisch eingerichteten Wohn¬ stube und las etwas aus der Zeitung vor oder machte eine kleine Handarbeit. Die Augen der alten Frau schienen nicht mehr ganz so kalt zu sein, und ihre Stimme war manchmal freundlicher, aber sie sagte niemals sehr viel. Anneli wußte ja auch jetzt, daß sie auf sie böse war wegen ihrer Mutter, und sie tat ihr manchmal leid. Deshalb suchte sie selbst freundlich zu sein, und zuweilen wurde sie sogar zutraulich, lachte und erzählte, was sie dachte und erlebt hatte. Den eignen Kummer über die Mutter hatte Anneli halbwegs vergessen. Gelegentlich betrachtete sie noch ihr Bild, und Bernb machte eine weise Bemerkung, das war aber alles. Das Leben hatte hier zu viel schönes, sogar beim sanften Sommerregeu und beim fauchenden Sturm. Denn auch dieser machte, trotz dem Junimonat, seine Aufwartung und warf so viel kleine Äpfel von den Bäumen, daß es jammerschade gewesen wäre, wenn man sie einfach hätte liegen lassen. Aber Herr Lindemann erschien hinter den Kindern im Obstgarten und hielt eine Rede, die er, wie Bernb sagte, später auf der Kanzel verwenden konnte. Von Cholera handelte sie, von Leibschmerzen und ähnlichen angenehmen Dingen, sodaß sich Anneli und Bernb rasch aus dem Staube machten und sich darin einig waren, daß es keine unangenehmern Wesen geben könnte als Hauslehrer, Gouvernanten vielleicht ausgenommen. Aber das dachte Anneli nur allein für sich in ihrem be¬ kümmerten Herzen. Es war ein Sonntagmorgen, und die Falkenhorster wollten alle in das be¬ nachbarte Dorf zur Kirche fahren. Sogar Tante Lilli stand in ihrem weißen Tuchkostüm in der Halle und betrachtete nachdenklich Aureus Kleid mit den wunder¬ lichen Figuren darin, das diese, wie immer, trug. Frau Lilli hatte ein sanftes, verträumtes Gesicht. Weh tun wollte sie keinem Menschen, aber sie dachte auch wenig an andre. Schon zweimal hatte sie sich vor¬ genommen, Anneli ein neues Kleid machen zu lassen, aber sie hatte es immer wieder vergessen. Da kam der Postbote und brachte Zeitungen und Briefe. Anneli sah, wie die Sachen in das Zimmer des Schloßherrn gebracht wurden, und zum erstenmal kam ihr der Gedanke, wie es Onkel Willi wohl gehn möge. Von Schreiben war beim Abschied nicht die Rede gewesen, aber sie mußte sich doch wohl einmal vor Papier und Löschblatt setzen. Das Löschblatt war sehr notwendig, denn die Tinte kleckste immer so abscheulich. Anneli war noch mit diesen Gedanken beschäftigt, als sie von Mutter Maren zu der Frau Großmutter gerufen wurde. Die alte Dame stand in ihrem schwarzen Kirchenkleide am Fenster und hielt einen Brief in der Hand, den ihr Onkel Bodo wohl gebracht hatte. Denn Herr von Falkenberg war auch da, zog an seinem Schnurrbart, klemmte sein Glas in das Auge und ließ es gleich wieder fallen, wie er immer tat, wenn er an wichtige Dinge dachte. Bei Aureus Eintritt ging er geräuschlos hinaus, und seine Mutter wandte sich der Kleinen zu. Sie räusperte sich mehrmals. Liebe Anneli, sagte sie, ich habe dir etwas trauriges mitzuteilen. Deine Tante Fritze ist krank — nein, ich will dir lieber gleich die Wahrheit sagen, sie ist tot, sanft am Herzschlag gestorben. Tante Fritze ist tot. Anneli wiederholte mechanisch die Worte. Und dann hörte sie im Geiste eine schrille Stimme sprechen. Tante Fritze wird bald ab¬ rutschen! Nun war sie abgerutscht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/228>, abgerufen am 24.07.2024.