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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

Bist du sehr traurig? fragte Frau von Falkenberg, mit ungewohnter Güte in
das blaß gewordne Gesicht des kleinen Mädchens schauend.

Langsam schüttelte Anneli den Kopf. Ich kann nicht traurig sein, Großmutter.
Wie es kommt, weiß ich nicht, aber Tante Fritze wird es wahrscheinlich einerlei sein,
ob ich traurig bin oder nicht. Sie ist jetzt gewiß im Himmel, und vielleicht sieht
sie meinen Vater --

Ernsthaft hielt sie inne und sprach dann leise weiter:

Ich habe meinen Vater lieb, Großmutter, und es tut mir so leid, daß du
böse auf ihn bist!

Frau von Falkenberg unterbrach sie.

Dein Vater ist tot. Über das Grab hinaus hört das Bösesein auf. Ich
gönne dem Toten den Frieden und wünsche ihn auch deiner Tante. Du mußt
deinem Onkel einige liebevolle Worte schreiben.

Schreiben? Anneli machte große Augen. Nun ist er doch ganz allein, und
ich muß zu ihm. Papa hat oft gesagt, es wäre ein Glück, daß ich bei ihm sein
könnte. Nun will ich auch Onkel Willi nicht allein lassen.

Für Anneli war es selbstverständlich, daß sie wieder zu ihrem Onkel ging.
Die Falkenhorsts suchten sie erst von ihrem Vorhaben abzubringen, dann aber sagte
die Großmutter, man sollte sie gewähren lassen, und Herr Bodo stimmte ihr bei.

Todesnachrichten und ähnliche Dinge liebte er durchaus nicht, aber er streichelte
Aureus Wangen und versprach, daß er sie bald einmal besuchen wollte. Seine
Frau versprach dasselbe, vergaß es jedoch gleich wieder, und die Großmutter trug
Mutter Maren auf, Aureus Sachen wieder in den kleinen schwarzen Koffer zu
legen, der die Kleine schon vom Rhein her begleitet hatte, und den sie nun wieder
nach Hause mitnahm.

Sie waren alle traurig: der Kutscher im Stall, der Reitknecht, bei dem Anneli
reiten lernte, und vor allem Bernb, der laut zu schelten begann und behauptete,
seine Cousine wäre dazu da, bei ihm zu bleiben.

Dann aber fuhr schon ein Wagen vor das Haus; schüchtern legte Anneli ihre
Lippen auf die welke Wange der Großmutter, fiel Onkel Bodo um den Hals und
küßte Bernb, daß er einen dunkelroten Kopf bekam und eilig davonstürzte. Gleich
darauf kam er mit einem zappelnden Gegenstande wieder, den er ihr zum Geschenk
machte. Das war Cäsar, über den sich Anneli so freute, daß ihr der Abschied
leicht wurde. Mutter Maren begleitete sie. Die Alte war wieder etwas redseliger
geworden und erzählte auf der langen Fahrt allerhand Geschichten, aber Anneli
hörte nur den Rädern zu. Sie knirschten im Sand und sagten: Abrutschen, ab¬
rutschen! Wir müssen alle abrutschen und wissen nur nicht die Zeit.

Cäsar bekümmerte die Musik nicht. Er lag auf Aureus Schoß und schlief bald
ein, und endlich folgte sie seinem Beispiel.

(Fortsetzung folgt)




Menschenfrühling

Bist du sehr traurig? fragte Frau von Falkenberg, mit ungewohnter Güte in
das blaß gewordne Gesicht des kleinen Mädchens schauend.

Langsam schüttelte Anneli den Kopf. Ich kann nicht traurig sein, Großmutter.
Wie es kommt, weiß ich nicht, aber Tante Fritze wird es wahrscheinlich einerlei sein,
ob ich traurig bin oder nicht. Sie ist jetzt gewiß im Himmel, und vielleicht sieht
sie meinen Vater —

Ernsthaft hielt sie inne und sprach dann leise weiter:

Ich habe meinen Vater lieb, Großmutter, und es tut mir so leid, daß du
böse auf ihn bist!

Frau von Falkenberg unterbrach sie.

Dein Vater ist tot. Über das Grab hinaus hört das Bösesein auf. Ich
gönne dem Toten den Frieden und wünsche ihn auch deiner Tante. Du mußt
deinem Onkel einige liebevolle Worte schreiben.

Schreiben? Anneli machte große Augen. Nun ist er doch ganz allein, und
ich muß zu ihm. Papa hat oft gesagt, es wäre ein Glück, daß ich bei ihm sein
könnte. Nun will ich auch Onkel Willi nicht allein lassen.

Für Anneli war es selbstverständlich, daß sie wieder zu ihrem Onkel ging.
Die Falkenhorsts suchten sie erst von ihrem Vorhaben abzubringen, dann aber sagte
die Großmutter, man sollte sie gewähren lassen, und Herr Bodo stimmte ihr bei.

Todesnachrichten und ähnliche Dinge liebte er durchaus nicht, aber er streichelte
Aureus Wangen und versprach, daß er sie bald einmal besuchen wollte. Seine
Frau versprach dasselbe, vergaß es jedoch gleich wieder, und die Großmutter trug
Mutter Maren auf, Aureus Sachen wieder in den kleinen schwarzen Koffer zu
legen, der die Kleine schon vom Rhein her begleitet hatte, und den sie nun wieder
nach Hause mitnahm.

Sie waren alle traurig: der Kutscher im Stall, der Reitknecht, bei dem Anneli
reiten lernte, und vor allem Bernb, der laut zu schelten begann und behauptete,
seine Cousine wäre dazu da, bei ihm zu bleiben.

Dann aber fuhr schon ein Wagen vor das Haus; schüchtern legte Anneli ihre
Lippen auf die welke Wange der Großmutter, fiel Onkel Bodo um den Hals und
küßte Bernb, daß er einen dunkelroten Kopf bekam und eilig davonstürzte. Gleich
darauf kam er mit einem zappelnden Gegenstande wieder, den er ihr zum Geschenk
machte. Das war Cäsar, über den sich Anneli so freute, daß ihr der Abschied
leicht wurde. Mutter Maren begleitete sie. Die Alte war wieder etwas redseliger
geworden und erzählte auf der langen Fahrt allerhand Geschichten, aber Anneli
hörte nur den Rädern zu. Sie knirschten im Sand und sagten: Abrutschen, ab¬
rutschen! Wir müssen alle abrutschen und wissen nur nicht die Zeit.

Cäsar bekümmerte die Musik nicht. Er lag auf Aureus Schoß und schlief bald
ein, und endlich folgte sie seinem Beispiel.

(Fortsetzung folgt)




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[0229] Menschenfrühling Bist du sehr traurig? fragte Frau von Falkenberg, mit ungewohnter Güte in das blaß gewordne Gesicht des kleinen Mädchens schauend. Langsam schüttelte Anneli den Kopf. Ich kann nicht traurig sein, Großmutter. Wie es kommt, weiß ich nicht, aber Tante Fritze wird es wahrscheinlich einerlei sein, ob ich traurig bin oder nicht. Sie ist jetzt gewiß im Himmel, und vielleicht sieht sie meinen Vater — Ernsthaft hielt sie inne und sprach dann leise weiter: Ich habe meinen Vater lieb, Großmutter, und es tut mir so leid, daß du böse auf ihn bist! Frau von Falkenberg unterbrach sie. Dein Vater ist tot. Über das Grab hinaus hört das Bösesein auf. Ich gönne dem Toten den Frieden und wünsche ihn auch deiner Tante. Du mußt deinem Onkel einige liebevolle Worte schreiben. Schreiben? Anneli machte große Augen. Nun ist er doch ganz allein, und ich muß zu ihm. Papa hat oft gesagt, es wäre ein Glück, daß ich bei ihm sein könnte. Nun will ich auch Onkel Willi nicht allein lassen. Für Anneli war es selbstverständlich, daß sie wieder zu ihrem Onkel ging. Die Falkenhorsts suchten sie erst von ihrem Vorhaben abzubringen, dann aber sagte die Großmutter, man sollte sie gewähren lassen, und Herr Bodo stimmte ihr bei. Todesnachrichten und ähnliche Dinge liebte er durchaus nicht, aber er streichelte Aureus Wangen und versprach, daß er sie bald einmal besuchen wollte. Seine Frau versprach dasselbe, vergaß es jedoch gleich wieder, und die Großmutter trug Mutter Maren auf, Aureus Sachen wieder in den kleinen schwarzen Koffer zu legen, der die Kleine schon vom Rhein her begleitet hatte, und den sie nun wieder nach Hause mitnahm. Sie waren alle traurig: der Kutscher im Stall, der Reitknecht, bei dem Anneli reiten lernte, und vor allem Bernb, der laut zu schelten begann und behauptete, seine Cousine wäre dazu da, bei ihm zu bleiben. Dann aber fuhr schon ein Wagen vor das Haus; schüchtern legte Anneli ihre Lippen auf die welke Wange der Großmutter, fiel Onkel Bodo um den Hals und küßte Bernb, daß er einen dunkelroten Kopf bekam und eilig davonstürzte. Gleich darauf kam er mit einem zappelnden Gegenstande wieder, den er ihr zum Geschenk machte. Das war Cäsar, über den sich Anneli so freute, daß ihr der Abschied leicht wurde. Mutter Maren begleitete sie. Die Alte war wieder etwas redseliger geworden und erzählte auf der langen Fahrt allerhand Geschichten, aber Anneli hörte nur den Rädern zu. Sie knirschten im Sand und sagten: Abrutschen, ab¬ rutschen! Wir müssen alle abrutschen und wissen nur nicht die Zeit. Cäsar bekümmerte die Musik nicht. Er lag auf Aureus Schoß und schlief bald ein, und endlich folgte sie seinem Beispiel. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/229>, abgerufen am 24.07.2024.