Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Anastasius Grün nur ein idealistischer Schwärmer hingeben, der die Menschheit liebt, aber nicht Im Jahre 1837 folgten die "Gedichte," die zum fünfzehntenmal 1877 Anastasius Grün nur ein idealistischer Schwärmer hingeben, der die Menschheit liebt, aber nicht Im Jahre 1837 folgten die „Gedichte," die zum fünfzehntenmal 1877 <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0143" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299184"/> <fw type="header" place="top"> Anastasius Grün</fw><lb/> <p xml:id="ID_575" prev="#ID_574"> nur ein idealistischer Schwärmer hingeben, der die Menschheit liebt, aber nicht<lb/> kennt. Ohne in seiner kirchlichen und religiösen Stellung den, Lehrinhalt und<lb/> der wahren Frömmigkeit gegenüberzutreten, hat er doch kein Verständnis für<lb/> den Ewigkeitswert des Christentums schlechthin. Diesen Jkarusflug können<lb/> und wollen wir nicht mitmachen, in so lichte Höhen er uns auch führen mag,<lb/> und auch damals, als der „Schutt" bekannt wurde, gab es viele sogar idea¬<lb/> listisch hochgespannte Naturen, die über die „Berrosung" des Kreuzes den Kopf<lb/> schütteln mußten. Andre fühlten sich enttäuscht aus einem andern Grunde.<lb/> Sie hatten erwartet, der Dichter würde seine Harfe wieder unter den be¬<lb/> geisternden Sturmeskläugen demokratischer Lieder rauschen lassen, und nun bot<lb/> er ihnen durchaus Tendenziöses, nur tiefsinnige Gedaukenbilder ohne jede Be¬<lb/> ziehung zur Losung des Tages. So kam es, daß die Wirkung dieser Dich¬<lb/> tungen nicht entfernt der gleichkam, die die „Spaziergänge" erregt hatten.<lb/> Und dabei ist der „Schutt" viel poetischer empfunden und ausgeführt. Gerade<lb/> hier finden sich Bilder und Gedanken von entzückender Schönheit und in<lb/> reichster Fülle. Gottschall sagt uicht zu viel, wenn er den „Schutt" „zu den<lb/> Perlen unsrer Poesie" zählt, „denen unsre klassische Dichtung nichts Ähnliches<lb/> an die Seite zu stellen hat." (In 14. Auflage erschien das Werk 1877.)</p><lb/> <p xml:id="ID_576" next="#ID_577"> Im Jahre 1837 folgten die „Gedichte," die zum fünfzehntenmal 1877<lb/> aufgelegt worden sind. Außer einigen ältern Gedichten, wie zum Beispiel<lb/> aus den „Blättern der Liebe," die hier wieder Aufnahme fanden, bietet der<lb/> Dichter eine große Anzahl neuer, die eine reiche Mannigfaltigkeit von Stoffen<lb/> behandeln, zum Beispiel die Liebe, die Natur, die Verhältnisse des äußern<lb/> und innern Lebens, besonders aber die Freiheit. Am anziehendsten sind wohl<lb/> die Naturliedcr, die von echt dichterischer Auffassung zeugen und wieder eine<lb/> Menge der herrlichsten Bilder enthalten. Das Verhältnis, in dem Anastasius<lb/> Grün zur Natur steht, ist überhaupt für seine ganze Dichterart höchst be¬<lb/> zeichnend. Die Natur ist ihm der nie zu erschöpfende Born der Dichtung.<lb/> Erst wenn er versiegt, ists auch mit der Poesie zu Ende. Diesen Gedanken<lb/> drückt er in dem Gedicht „Der letzte Dichter" am schönsten aus. Das alte<lb/> und doch ewig neue Weben in der Natur setzt er in die innigste Beziehung<lb/> zu den Vorgängen in der Menschenseele. Im Werden und Vergehn in der<lb/> Natur findet er den Boden für seiue Auferstehuugsidee, und die Idee der<lb/> Freiheit, die ihm nicht Zügellosigkeit und schrankenlose Willkür ist, sondern<lb/> ein sittlicher Begriff, eng gebunden an Gesetz und Recht, wird ihm dnrch die<lb/> an sich freie, aber an bestimmte ewige Gesetze gebundne Bewegung der Natur¬<lb/> gegenstände versinnbildlicht. Während ferner die Welt in geistiger Finsternis<lb/> liegt, voll Unfreiheit und von Lüge und Haß beherrscht ist, erscheint ihm die<lb/> Sonne als das Sinnbild des geistigen Lichts, der Wahrheit und der Liebe.<lb/> Das Unbelebte in der Natur weiß er zu beleben und läßt es wie etwas Ver¬<lb/> nunftbegabtes an den menschlichen Vorgängen und Handlungen teilnehmen.<lb/> So zum Beispiel hält die Luft den Atem an, hemmen die geschwätzigen Pappeln<lb/> ihr Flüstern und fließt der Bach leise dahin wie im Zehengange, er, der vorher<lb/> so fröhlich dahinrauschte, weil sie alle das Kosen und Flüstern Maximilians<lb/> und Mariens von Burgund nicht stören wollen. Und auch tiefe sittliche Wahr-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0143]
Anastasius Grün
nur ein idealistischer Schwärmer hingeben, der die Menschheit liebt, aber nicht
kennt. Ohne in seiner kirchlichen und religiösen Stellung den, Lehrinhalt und
der wahren Frömmigkeit gegenüberzutreten, hat er doch kein Verständnis für
den Ewigkeitswert des Christentums schlechthin. Diesen Jkarusflug können
und wollen wir nicht mitmachen, in so lichte Höhen er uns auch führen mag,
und auch damals, als der „Schutt" bekannt wurde, gab es viele sogar idea¬
listisch hochgespannte Naturen, die über die „Berrosung" des Kreuzes den Kopf
schütteln mußten. Andre fühlten sich enttäuscht aus einem andern Grunde.
Sie hatten erwartet, der Dichter würde seine Harfe wieder unter den be¬
geisternden Sturmeskläugen demokratischer Lieder rauschen lassen, und nun bot
er ihnen durchaus Tendenziöses, nur tiefsinnige Gedaukenbilder ohne jede Be¬
ziehung zur Losung des Tages. So kam es, daß die Wirkung dieser Dich¬
tungen nicht entfernt der gleichkam, die die „Spaziergänge" erregt hatten.
Und dabei ist der „Schutt" viel poetischer empfunden und ausgeführt. Gerade
hier finden sich Bilder und Gedanken von entzückender Schönheit und in
reichster Fülle. Gottschall sagt uicht zu viel, wenn er den „Schutt" „zu den
Perlen unsrer Poesie" zählt, „denen unsre klassische Dichtung nichts Ähnliches
an die Seite zu stellen hat." (In 14. Auflage erschien das Werk 1877.)
Im Jahre 1837 folgten die „Gedichte," die zum fünfzehntenmal 1877
aufgelegt worden sind. Außer einigen ältern Gedichten, wie zum Beispiel
aus den „Blättern der Liebe," die hier wieder Aufnahme fanden, bietet der
Dichter eine große Anzahl neuer, die eine reiche Mannigfaltigkeit von Stoffen
behandeln, zum Beispiel die Liebe, die Natur, die Verhältnisse des äußern
und innern Lebens, besonders aber die Freiheit. Am anziehendsten sind wohl
die Naturliedcr, die von echt dichterischer Auffassung zeugen und wieder eine
Menge der herrlichsten Bilder enthalten. Das Verhältnis, in dem Anastasius
Grün zur Natur steht, ist überhaupt für seine ganze Dichterart höchst be¬
zeichnend. Die Natur ist ihm der nie zu erschöpfende Born der Dichtung.
Erst wenn er versiegt, ists auch mit der Poesie zu Ende. Diesen Gedanken
drückt er in dem Gedicht „Der letzte Dichter" am schönsten aus. Das alte
und doch ewig neue Weben in der Natur setzt er in die innigste Beziehung
zu den Vorgängen in der Menschenseele. Im Werden und Vergehn in der
Natur findet er den Boden für seiue Auferstehuugsidee, und die Idee der
Freiheit, die ihm nicht Zügellosigkeit und schrankenlose Willkür ist, sondern
ein sittlicher Begriff, eng gebunden an Gesetz und Recht, wird ihm dnrch die
an sich freie, aber an bestimmte ewige Gesetze gebundne Bewegung der Natur¬
gegenstände versinnbildlicht. Während ferner die Welt in geistiger Finsternis
liegt, voll Unfreiheit und von Lüge und Haß beherrscht ist, erscheint ihm die
Sonne als das Sinnbild des geistigen Lichts, der Wahrheit und der Liebe.
Das Unbelebte in der Natur weiß er zu beleben und läßt es wie etwas Ver¬
nunftbegabtes an den menschlichen Vorgängen und Handlungen teilnehmen.
So zum Beispiel hält die Luft den Atem an, hemmen die geschwätzigen Pappeln
ihr Flüstern und fließt der Bach leise dahin wie im Zehengange, er, der vorher
so fröhlich dahinrauschte, weil sie alle das Kosen und Flüstern Maximilians
und Mariens von Burgund nicht stören wollen. Und auch tiefe sittliche Wahr-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |