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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Interessen und Ideale

deutsche Professoren die beredtesten und geistvollsten Führer des Frankfurter
Parlaments? Weil ihnen die deutsche Geschichtsforschung die wissenschaftliche
Überzeugung gegeben hatte, daß dieses deutsche Volk das historische und urkund¬
liche Recht habe auf seine politische Einheit. Wie viele haben damals für dieses
Ideal endlose Arbeit, ja Freiheit und Leben geopfert! Und wahrlich nicht Ehr¬
geiz und persönlicher Vorteil trieben Vismarck vorwärts durch unendliche Kämpfe
bis zum Ziele. Er hätte behaglich und sorglos als Landedelmann leben können,
wonach er sich immer sehnte, aber er verzichtete auf jede Ruhe und Behaglich¬
keit, er blieb bis an sein Ende dem Satze treu: ?g,triao insorviönäo vonsumor.
Wer nun vollends einen großen nationalen Krieg erlebt hat, wie den von 187V,
der weiß, wie da alles Persönliche schwindet vor der einen großen Idee des Vater¬
landes, wie da jedes persönliche Opfer als etwas selbstverständliches erscheint.

Und eben deshalb wirkt eine solche große politische Idee auch einigend.
Es war doch ein unvergeßliches Schauspiel, das in dieser Weise nie wieder¬
kehren kann, zu sehen, wie damals, als 1870 der Kriegsruf erscholl, alle
trennenden Schranken zwischen Nord und Süd fielen, wie die einmütige Be¬
geisterung vom Bodensee bis zum Meere alle kleinlichen selbstsüchtigen Bedenken
und alle Souderiuteresseu und allen alten Hader wie mit einer Sturmflut
hiuwegschwemmte, wie eben diese unwiderstehliche nationale Strömung das
Kaisertum durchsetzte, das historische und populäre Sinnbild deutscher Einheit,
allen diplomatischen Bedenken und Ränken zum Trotz. Gewiß, auch die wohl-
verstcmdnen materiellen Interessen forderten wenigstens die wirtschaftliche und
die diplomatische Einheit, aber wie wenig sie allein imstande waren, auch nur
diese zu schaffen, das hatte eine fünfzigjährige Geschichte bewiesen. Ein großer
nationaler Krieg als einigendes und erhebendes Heilmittel innerer Schäden
läßt sich nun freilich nicht auf Tag und Stunde verordnen, er kommt als eine
Fügung unerwartet und ungewollt, und das damalige nationale Ideal, die
nationale Einheit kann für uns kein Ideal mehr sein, denn es ist Wirklichkeit,
und das jüngere Geschlecht ist in dieser Wirklichkeit aufgewachsen. Aber das
nationale Ideal ändert seine Gestalt, und unser neues Ideal muß es sein, diese
Einheit auszubauen und Deutschland seine Stelle unter den Weltvölkern zu
geben und zu sichern, die es heute noch nicht hat. Ein solches Ideal seinem
hadernden und zankenden Volke aufzustellen, das war die Absicht Bismarcks,
als er die Kolonialpolitik begann. Leider hat es seinen Zweck nur wenig
erfüllt, sonst wären wir weiter.

Nur das religiöse Ideal entfaltet eine ähnliche Kraft wie das nationale,
kein andres, weder ein soziales noch ein wissenschaftliches oder künstlerisches.
Was für eine Summe vou Selbstaufopferung bis zum Tode und von einigender
Kraft, die Angehörige aller Völker und aller Stunde zu eiuer unzertrenn¬
lichen Genossenschaft zusammenschloß, das Christentum in den ersten Jahr¬
hunderten erwiesen hat, ist bekannt. Und nicht irdische Vorteile waren es, die
später Hunderttausende aus allen Völkern des Abendlandes nach dem fernen
Osten zum Heiligen Grabe trieben, daß sie unendliche Opfer an Hab und Gut
willig darbrachten, die härtesten Entbehrungen ertrugen und am wenigsten den
Tod in der Fremde schenken, sondern die Idee, dort an der heiligsten Stätte


Interessen und Ideale

deutsche Professoren die beredtesten und geistvollsten Führer des Frankfurter
Parlaments? Weil ihnen die deutsche Geschichtsforschung die wissenschaftliche
Überzeugung gegeben hatte, daß dieses deutsche Volk das historische und urkund¬
liche Recht habe auf seine politische Einheit. Wie viele haben damals für dieses
Ideal endlose Arbeit, ja Freiheit und Leben geopfert! Und wahrlich nicht Ehr¬
geiz und persönlicher Vorteil trieben Vismarck vorwärts durch unendliche Kämpfe
bis zum Ziele. Er hätte behaglich und sorglos als Landedelmann leben können,
wonach er sich immer sehnte, aber er verzichtete auf jede Ruhe und Behaglich¬
keit, er blieb bis an sein Ende dem Satze treu: ?g,triao insorviönäo vonsumor.
Wer nun vollends einen großen nationalen Krieg erlebt hat, wie den von 187V,
der weiß, wie da alles Persönliche schwindet vor der einen großen Idee des Vater¬
landes, wie da jedes persönliche Opfer als etwas selbstverständliches erscheint.

Und eben deshalb wirkt eine solche große politische Idee auch einigend.
Es war doch ein unvergeßliches Schauspiel, das in dieser Weise nie wieder¬
kehren kann, zu sehen, wie damals, als 1870 der Kriegsruf erscholl, alle
trennenden Schranken zwischen Nord und Süd fielen, wie die einmütige Be¬
geisterung vom Bodensee bis zum Meere alle kleinlichen selbstsüchtigen Bedenken
und alle Souderiuteresseu und allen alten Hader wie mit einer Sturmflut
hiuwegschwemmte, wie eben diese unwiderstehliche nationale Strömung das
Kaisertum durchsetzte, das historische und populäre Sinnbild deutscher Einheit,
allen diplomatischen Bedenken und Ränken zum Trotz. Gewiß, auch die wohl-
verstcmdnen materiellen Interessen forderten wenigstens die wirtschaftliche und
die diplomatische Einheit, aber wie wenig sie allein imstande waren, auch nur
diese zu schaffen, das hatte eine fünfzigjährige Geschichte bewiesen. Ein großer
nationaler Krieg als einigendes und erhebendes Heilmittel innerer Schäden
läßt sich nun freilich nicht auf Tag und Stunde verordnen, er kommt als eine
Fügung unerwartet und ungewollt, und das damalige nationale Ideal, die
nationale Einheit kann für uns kein Ideal mehr sein, denn es ist Wirklichkeit,
und das jüngere Geschlecht ist in dieser Wirklichkeit aufgewachsen. Aber das
nationale Ideal ändert seine Gestalt, und unser neues Ideal muß es sein, diese
Einheit auszubauen und Deutschland seine Stelle unter den Weltvölkern zu
geben und zu sichern, die es heute noch nicht hat. Ein solches Ideal seinem
hadernden und zankenden Volke aufzustellen, das war die Absicht Bismarcks,
als er die Kolonialpolitik begann. Leider hat es seinen Zweck nur wenig
erfüllt, sonst wären wir weiter.

Nur das religiöse Ideal entfaltet eine ähnliche Kraft wie das nationale,
kein andres, weder ein soziales noch ein wissenschaftliches oder künstlerisches.
Was für eine Summe vou Selbstaufopferung bis zum Tode und von einigender
Kraft, die Angehörige aller Völker und aller Stunde zu eiuer unzertrenn¬
lichen Genossenschaft zusammenschloß, das Christentum in den ersten Jahr¬
hunderten erwiesen hat, ist bekannt. Und nicht irdische Vorteile waren es, die
später Hunderttausende aus allen Völkern des Abendlandes nach dem fernen
Osten zum Heiligen Grabe trieben, daß sie unendliche Opfer an Hab und Gut
willig darbrachten, die härtesten Entbehrungen ertrugen und am wenigsten den
Tod in der Fremde schenken, sondern die Idee, dort an der heiligsten Stätte


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[0129] Interessen und Ideale deutsche Professoren die beredtesten und geistvollsten Führer des Frankfurter Parlaments? Weil ihnen die deutsche Geschichtsforschung die wissenschaftliche Überzeugung gegeben hatte, daß dieses deutsche Volk das historische und urkund¬ liche Recht habe auf seine politische Einheit. Wie viele haben damals für dieses Ideal endlose Arbeit, ja Freiheit und Leben geopfert! Und wahrlich nicht Ehr¬ geiz und persönlicher Vorteil trieben Vismarck vorwärts durch unendliche Kämpfe bis zum Ziele. Er hätte behaglich und sorglos als Landedelmann leben können, wonach er sich immer sehnte, aber er verzichtete auf jede Ruhe und Behaglich¬ keit, er blieb bis an sein Ende dem Satze treu: ?g,triao insorviönäo vonsumor. Wer nun vollends einen großen nationalen Krieg erlebt hat, wie den von 187V, der weiß, wie da alles Persönliche schwindet vor der einen großen Idee des Vater¬ landes, wie da jedes persönliche Opfer als etwas selbstverständliches erscheint. Und eben deshalb wirkt eine solche große politische Idee auch einigend. Es war doch ein unvergeßliches Schauspiel, das in dieser Weise nie wieder¬ kehren kann, zu sehen, wie damals, als 1870 der Kriegsruf erscholl, alle trennenden Schranken zwischen Nord und Süd fielen, wie die einmütige Be¬ geisterung vom Bodensee bis zum Meere alle kleinlichen selbstsüchtigen Bedenken und alle Souderiuteresseu und allen alten Hader wie mit einer Sturmflut hiuwegschwemmte, wie eben diese unwiderstehliche nationale Strömung das Kaisertum durchsetzte, das historische und populäre Sinnbild deutscher Einheit, allen diplomatischen Bedenken und Ränken zum Trotz. Gewiß, auch die wohl- verstcmdnen materiellen Interessen forderten wenigstens die wirtschaftliche und die diplomatische Einheit, aber wie wenig sie allein imstande waren, auch nur diese zu schaffen, das hatte eine fünfzigjährige Geschichte bewiesen. Ein großer nationaler Krieg als einigendes und erhebendes Heilmittel innerer Schäden läßt sich nun freilich nicht auf Tag und Stunde verordnen, er kommt als eine Fügung unerwartet und ungewollt, und das damalige nationale Ideal, die nationale Einheit kann für uns kein Ideal mehr sein, denn es ist Wirklichkeit, und das jüngere Geschlecht ist in dieser Wirklichkeit aufgewachsen. Aber das nationale Ideal ändert seine Gestalt, und unser neues Ideal muß es sein, diese Einheit auszubauen und Deutschland seine Stelle unter den Weltvölkern zu geben und zu sichern, die es heute noch nicht hat. Ein solches Ideal seinem hadernden und zankenden Volke aufzustellen, das war die Absicht Bismarcks, als er die Kolonialpolitik begann. Leider hat es seinen Zweck nur wenig erfüllt, sonst wären wir weiter. Nur das religiöse Ideal entfaltet eine ähnliche Kraft wie das nationale, kein andres, weder ein soziales noch ein wissenschaftliches oder künstlerisches. Was für eine Summe vou Selbstaufopferung bis zum Tode und von einigender Kraft, die Angehörige aller Völker und aller Stunde zu eiuer unzertrenn¬ lichen Genossenschaft zusammenschloß, das Christentum in den ersten Jahr¬ hunderten erwiesen hat, ist bekannt. Und nicht irdische Vorteile waren es, die später Hunderttausende aus allen Völkern des Abendlandes nach dem fernen Osten zum Heiligen Grabe trieben, daß sie unendliche Opfer an Hab und Gut willig darbrachten, die härtesten Entbehrungen ertrugen und am wenigsten den Tod in der Fremde schenken, sondern die Idee, dort an der heiligsten Stätte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/129>, abgerufen am 27.12.2024.