Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Verantwortlicher Träger der Reichspolitik und zugleich der gesamten Politik Preußens Man wird kaum umhin können, die so schnell in den Vordergrund getretene Vom preußischen Finanzminister soll schon vor der Cassini-Depesche ein Maßgebliches und Unmaßgebliches Verantwortlicher Träger der Reichspolitik und zugleich der gesamten Politik Preußens Man wird kaum umhin können, die so schnell in den Vordergrund getretene Vom preußischen Finanzminister soll schon vor der Cassini-Depesche ein <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0119" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299160"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_507" prev="#ID_506"> Verantwortlicher Träger der Reichspolitik und zugleich der gesamten Politik Preußens<lb/> vor den Folgen einer sonst unvermeidlichen Überbürdung zu schützen? Fürst Bülow<lb/> will während seines demnächst anzutretenden Urlaubs die Geschäfte in der Hand<lb/> behalten. Gottlob, wenn er es kann. Hier und da ist von einer Stellvertretung<lb/> die Rede gewesen. Für das Reich ist diese schon durch das Gesetz vorhanden,<lb/> das den Staatssekretären in Vertretung des Reichskanzlers die Verantwortlichkeit<lb/> für ihre Ressorts zuweist, für die Vertretung des Reichskanzlers im Bundesrat und<lb/> dem Reichstage gegenüber ist außerdem besonders gesorgt, denn Graf Posndowsky führt<lb/> offiziell den Titel: Stellvertreter des Reichskanzlers. In Preußen kann der Minister-<lb/> Präsident ini Stantsministerium vorübergehend durch den dienstttltesten Minister ver¬<lb/> treten werden, für eine längere Vertretung wäre in Ermangelung eines Vize-<lb/> Präsidenten, den Preußen seit dem Rücktritt Miguels nicht mehr hat, eine besondre<lb/> Beauftragung nötig. Über die Untrennbnrkeit beider Ämter besteht hente kein<lb/> Zweifel mehr, der Ministerpräsident gibt dem Reichskanzler erst seinen vollen In¬<lb/> halt. Aber eine Entlastung nach allen Richtungen hin sollte angestrebt werden.<lb/> In diesem Sinne würde zum Beispiel die Einführung zweijähriger Etats-<lb/> Perioden im Reich wie in Preußen außerordentlich nützlich sein. Eine Vertretung,<lb/> wie seinerzeit unter Bismarck durch Einführung eines Vizekanzlers, damals Graf<lb/> Stolberg, der auch den Vorsitz im Staatsministerium hatte, wird hoffentlich nicht<lb/> wieder beliebt werden, sie hat sich als dauernde Einrichtung nicht bewährt.</p><lb/> <p xml:id="ID_508"> Man wird kaum umhin können, die so schnell in den Vordergrund getretene<lb/> russische Anleihefrnge als ein Nachspiel zu der Algeciras-Konferenz anzusehen. Das<lb/> Geldbedürfnis Rußlands hat sich nicht etwa erst in den letzten Wochen oder Monaten<lb/> angemeldet. Schon bevor die Zustimmung der Mächte zu der Konferenz im vorigen<lb/> Jahre erfolgt war, war bekannt, daß Rußland in Bälde wenigstens zwei Milliarden<lb/> aufnehmen müsse, und die Frage, wie sich der deutsche Markt dazu zu stellen habe, ist<lb/> vou sehr langer Hand her sorgfältig erwogen worden. Damals hieß es in Berlin:<lb/> „Aber — erst Algeciras!" Eine ähnliche Antwort mag darauf auch von Paris her<lb/> erfolgt sein, vielleicht mit einer bestimmten Zusage verbunden. Wenigstens würde es<lb/> nur eine solche erklärlich machen, daß die russische Politik Vor und während der<lb/> Konferenz stetig darauf gerichtet blieb, Deutschland zur Nachgiebigkeit zu bewegen und<lb/> sogar dem Wunsche Ausdruck zu geben, daß ein Machtwort Kaiser Wilhelms den<lb/> Schwierigkeiten, die von der deutschen Diplomatie gemacht würden, ein Ende be¬<lb/> reiten möge. Die Genesis der Cassini-Depesche, die als ein Bruch der Deutschland<lb/> gegebnen Zusagen angesehen wird und bei der von Deutschland Rußland gegenüber<lb/> beobachteten Politik jedenfalls eine auffallende Undankbarkeit bekundet, scheint noch<lb/> nicht völlig klar zu sein. Die Instruktion war auf alle Fälle verfehlt. Für die Ver¬<lb/> handlungen wegen Casablcmcas kam sie zu spät. Dadurch aber, daß sie zu einer fran¬<lb/> zösischen Intrigue mißbraucht wurde, wurde ihr Zweck vereitelt, deun dieser Mißbrauch<lb/> verhinderte Rußlands Vertreter, ihr in dem von Frankreich gewünschte» Umfange<lb/> Folge zu leisten, er sah sich im Gegenteil genötigt, sich der Verständiguugsarbcit<lb/> andrer Mächte anzuschließen. Im Grunde genommen ist die Cassini-Depesche ein<lb/> neuer Beweis dafür, daß in Rußland die Einheitlichkeit des Staatswillens fehlt<lb/> oder doch zeitweise versagt. Denn um gleichsam noch in der letzten Stunde den<lb/> Franzosen gegenüber älliMutiain zu prästieren, war weder die Depesche noch der<lb/> Zeitpunkt ihrer Absendung angetan.</p><lb/> <p xml:id="ID_509" next="#ID_510"> Vom preußischen Finanzminister soll schon vor der Cassini-Depesche ein<lb/> Jmmediatbericht erstattet worden sein, der im Hinblick auf den eignen Geldbedarf<lb/> die Ausschließung neuer fremder Anleihen vom deutschen Geldmarkt empfahl. Der<lb/> Reichskanzler nahm Veranlassung, außerdem noch das Neichsschatzamt, die Reichsbank<lb/> und die Seehandlung zu Gutachten aufzufordern, die in bezug auf die Lombardieruugs-<lb/> frage verschieden gelautet haben mögen, in bezug auf die Ausschließung fremder, in<lb/> diesem Falle russischer Anleihen jedoch übereinstimmten. Daraufhin ist um die Mitte<lb/> der vorigen Woche die Firma Mendelssohn & Co. durch den Reichskanzler davon<lb/> in Kenntnis gesetzt worden, daß im Hinblick auf den eignen Geldbedarf Preußens</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0119]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Verantwortlicher Träger der Reichspolitik und zugleich der gesamten Politik Preußens
vor den Folgen einer sonst unvermeidlichen Überbürdung zu schützen? Fürst Bülow
will während seines demnächst anzutretenden Urlaubs die Geschäfte in der Hand
behalten. Gottlob, wenn er es kann. Hier und da ist von einer Stellvertretung
die Rede gewesen. Für das Reich ist diese schon durch das Gesetz vorhanden,
das den Staatssekretären in Vertretung des Reichskanzlers die Verantwortlichkeit
für ihre Ressorts zuweist, für die Vertretung des Reichskanzlers im Bundesrat und
dem Reichstage gegenüber ist außerdem besonders gesorgt, denn Graf Posndowsky führt
offiziell den Titel: Stellvertreter des Reichskanzlers. In Preußen kann der Minister-
Präsident ini Stantsministerium vorübergehend durch den dienstttltesten Minister ver¬
treten werden, für eine längere Vertretung wäre in Ermangelung eines Vize-
Präsidenten, den Preußen seit dem Rücktritt Miguels nicht mehr hat, eine besondre
Beauftragung nötig. Über die Untrennbnrkeit beider Ämter besteht hente kein
Zweifel mehr, der Ministerpräsident gibt dem Reichskanzler erst seinen vollen In¬
halt. Aber eine Entlastung nach allen Richtungen hin sollte angestrebt werden.
In diesem Sinne würde zum Beispiel die Einführung zweijähriger Etats-
Perioden im Reich wie in Preußen außerordentlich nützlich sein. Eine Vertretung,
wie seinerzeit unter Bismarck durch Einführung eines Vizekanzlers, damals Graf
Stolberg, der auch den Vorsitz im Staatsministerium hatte, wird hoffentlich nicht
wieder beliebt werden, sie hat sich als dauernde Einrichtung nicht bewährt.
Man wird kaum umhin können, die so schnell in den Vordergrund getretene
russische Anleihefrnge als ein Nachspiel zu der Algeciras-Konferenz anzusehen. Das
Geldbedürfnis Rußlands hat sich nicht etwa erst in den letzten Wochen oder Monaten
angemeldet. Schon bevor die Zustimmung der Mächte zu der Konferenz im vorigen
Jahre erfolgt war, war bekannt, daß Rußland in Bälde wenigstens zwei Milliarden
aufnehmen müsse, und die Frage, wie sich der deutsche Markt dazu zu stellen habe, ist
vou sehr langer Hand her sorgfältig erwogen worden. Damals hieß es in Berlin:
„Aber — erst Algeciras!" Eine ähnliche Antwort mag darauf auch von Paris her
erfolgt sein, vielleicht mit einer bestimmten Zusage verbunden. Wenigstens würde es
nur eine solche erklärlich machen, daß die russische Politik Vor und während der
Konferenz stetig darauf gerichtet blieb, Deutschland zur Nachgiebigkeit zu bewegen und
sogar dem Wunsche Ausdruck zu geben, daß ein Machtwort Kaiser Wilhelms den
Schwierigkeiten, die von der deutschen Diplomatie gemacht würden, ein Ende be¬
reiten möge. Die Genesis der Cassini-Depesche, die als ein Bruch der Deutschland
gegebnen Zusagen angesehen wird und bei der von Deutschland Rußland gegenüber
beobachteten Politik jedenfalls eine auffallende Undankbarkeit bekundet, scheint noch
nicht völlig klar zu sein. Die Instruktion war auf alle Fälle verfehlt. Für die Ver¬
handlungen wegen Casablcmcas kam sie zu spät. Dadurch aber, daß sie zu einer fran¬
zösischen Intrigue mißbraucht wurde, wurde ihr Zweck vereitelt, deun dieser Mißbrauch
verhinderte Rußlands Vertreter, ihr in dem von Frankreich gewünschte» Umfange
Folge zu leisten, er sah sich im Gegenteil genötigt, sich der Verständiguugsarbcit
andrer Mächte anzuschließen. Im Grunde genommen ist die Cassini-Depesche ein
neuer Beweis dafür, daß in Rußland die Einheitlichkeit des Staatswillens fehlt
oder doch zeitweise versagt. Denn um gleichsam noch in der letzten Stunde den
Franzosen gegenüber älliMutiain zu prästieren, war weder die Depesche noch der
Zeitpunkt ihrer Absendung angetan.
Vom preußischen Finanzminister soll schon vor der Cassini-Depesche ein
Jmmediatbericht erstattet worden sein, der im Hinblick auf den eignen Geldbedarf
die Ausschließung neuer fremder Anleihen vom deutschen Geldmarkt empfahl. Der
Reichskanzler nahm Veranlassung, außerdem noch das Neichsschatzamt, die Reichsbank
und die Seehandlung zu Gutachten aufzufordern, die in bezug auf die Lombardieruugs-
frage verschieden gelautet haben mögen, in bezug auf die Ausschließung fremder, in
diesem Falle russischer Anleihen jedoch übereinstimmten. Daraufhin ist um die Mitte
der vorigen Woche die Firma Mendelssohn & Co. durch den Reichskanzler davon
in Kenntnis gesetzt worden, daß im Hinblick auf den eignen Geldbedarf Preußens
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