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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Was Bebel anlangt, so schrieben wir vor acht Tagen an dieser Stelle:
"Vielleicht erleben wir die Sehnsucht nach Bismarck auch noch bei Bebel, der
ebenso gut wie den Geist Scharnhorsts auch den Geist Bismarcks anrufen kann."
Das Heft war kaum in den Händen der Leser, da war es schon geschehn! An
eben diesem historischen 5. April hat Bebel im Reichstage den Fürsten Bismarck
gegen den jetzigen Reichskanzler angerufen, indem er sagte, unter Bismarck wäre
die Reise nach Tanger niemals möglich gewesen, Bismarck würde auch die
Konferenz von Algeciras nicht veranlaßt haben. Hierin stimmt Bebel mit einzelnen
Preßorganen, die sich als bevorzugte Pfleger der Bismarckischen Politik geben,
wörtlich überein. Das sollten auch jene bedenken. Die Abgeschmacktheit solcher
Berufungen braucht hier nicht noch einmal erörtert zu werden, abgesehen davon,
daß von einer "Reise nach Tanger" gar nicht gesprochen werden kann. Es hat
sich nicht um eine "Reise nach Tanger," sondern um eine gelegentliche Landung ans
der Fahrt von Lissabon nach Gibraltar gehandelt. Herr Bebel ironisiert die Wendung
in der Rede des Kaisers "ein freies Marokko." Selbstverständlich war damit nicht
eine "Freiheit" im Sinne europäischen Verfassungslebens gemeint, z. B. die Freiheit,
unter der sich Herr Bebel offenbar sehr wohl befindet, sondern "frei" ist vom Kaiser
im Sinne von "unabhängig" gebraucht worden, "frei von jeder Fremdherrschaft."
Die Landung in Tanger hat gewiß einen originellen Charakter gehabt, außerhalb
des sonst üblichen Schemas der Diplomatie und der traditionellen Gebräuche der
Höfe, aber sie war an sich nicht nur nicht tadelnswert, sondern nützlicher als ein sonst
vielleicht unvermeidlicher Flottenbesuch. Wie die Dinge damals standen, mußte die
deutsche Flagge an der Küste von Marokko gezeigt werden, und es verdient alle
Anerkennung, nicht Tadel, daß der Kaiser das in eigner Person vollzog. Wohl¬
gemerkt, eine "Reise nach Tanger" war es nicht. Aber da der Kaiser ohnehin dort
vorüberfuhr, so würde Bismarck die Landung, vielleicht im Hinblick auf die damit
verknüpfte persönliche Gefahr, nicht gern gesehen haben, aber mit dem Gedanken
an sich wohl einverstanden gewesen sein. Es war eine Tat, der die Franzosen
nichts entgegenzustellen hatten, die außerhalb aller diplomatischen Behandlung blieb,
der französischen Bedrängung des Sultans gegenüber ein von der höchsten Autorität
des Deutschen Reiches eingelegtes Karcls?! -- ohne Frankreich damit unmittelbar
zu nahe zu treten. Gegen Frankreich gerichtete Kundgebungen waren vom Kaiser
ausdrücklich zurückgewiesen worden, die Landung besagte nur: Wir siud auch noch da!
Von einer "Mobilmachung" des Kaisers für die "Reise nach Tanger," wie Herr
Bebel annimmt, kann also gar nicht gesprochen werden. Der Tribünenwitz hat sich
alsbald dieser Rede Bebels bemächtigt und sie für die Erkrankung des Reichskanzlers
verantwortlich gemacht: es sei kein Wunder, wenn dem Fürsten Bülow bei dieser
Rede übel geworden sei! Nun, Bebel hat schon Schlimmres geredet, auch mag ihm
zugute gehalten werden, daß er unter ersichtlicher innerer Bewegung abbrach.

Der Unfall des Fürsten Bülow, der, wenn er ihm in der Wohnung begegnet
wäre, nach außen kaum bemerkbar geworden sein würde, hat ihm nicht nur warme
Sympathien des Reichstags, ans ganz Deutschland und dem ganzen Ausland ein¬
getragen, wobei die Kundgebung im englischen Oberhause besonders erwähnenswert
bleibt, sondern ist für die Parteien und die Presse in Deutschland, ebenso wie
für den Kanzler selbst, ein recht ernstes nnzmonto geworden. Der Eindruck, daß
ein Plötzliches Ausscheiden des Fürsten Bülow ein schwerer Verlust für Deutschland
sein würde, war allgemein und ist auch heute noch keineswegs überwunden. Man
sah fast mit Schrecken auf eine Berufstätigkeit, die eben erst den Staatssekretär des
Auswärtigen gebrochen hatte und nun den Reichskanzler selbst so ernst bedrohte.
Fürst Bülow ist 57 Jahre alt, nur 7 Jahre jünger als sein Vater war, als er
mit 64 Jahren den Anstrengungen des Dienstes im Herbst 1879 -- ebenfalls
als Staatssekretär des Auswärtigen -- erlag. Diesesmcil war es zum Glück eine
vorübergehende Warnung, durch das Zusammenwirken einer Reihe äußerer Um¬
stände, darunter auch die Nachwirkungen einer Entfettungskur, hervorgerufen; aber
sollte es nicht angängig sein, durch personelle und organisatorische Maßnahmen den


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Was Bebel anlangt, so schrieben wir vor acht Tagen an dieser Stelle:
„Vielleicht erleben wir die Sehnsucht nach Bismarck auch noch bei Bebel, der
ebenso gut wie den Geist Scharnhorsts auch den Geist Bismarcks anrufen kann."
Das Heft war kaum in den Händen der Leser, da war es schon geschehn! An
eben diesem historischen 5. April hat Bebel im Reichstage den Fürsten Bismarck
gegen den jetzigen Reichskanzler angerufen, indem er sagte, unter Bismarck wäre
die Reise nach Tanger niemals möglich gewesen, Bismarck würde auch die
Konferenz von Algeciras nicht veranlaßt haben. Hierin stimmt Bebel mit einzelnen
Preßorganen, die sich als bevorzugte Pfleger der Bismarckischen Politik geben,
wörtlich überein. Das sollten auch jene bedenken. Die Abgeschmacktheit solcher
Berufungen braucht hier nicht noch einmal erörtert zu werden, abgesehen davon,
daß von einer „Reise nach Tanger" gar nicht gesprochen werden kann. Es hat
sich nicht um eine „Reise nach Tanger," sondern um eine gelegentliche Landung ans
der Fahrt von Lissabon nach Gibraltar gehandelt. Herr Bebel ironisiert die Wendung
in der Rede des Kaisers „ein freies Marokko." Selbstverständlich war damit nicht
eine „Freiheit" im Sinne europäischen Verfassungslebens gemeint, z. B. die Freiheit,
unter der sich Herr Bebel offenbar sehr wohl befindet, sondern „frei" ist vom Kaiser
im Sinne von „unabhängig" gebraucht worden, „frei von jeder Fremdherrschaft."
Die Landung in Tanger hat gewiß einen originellen Charakter gehabt, außerhalb
des sonst üblichen Schemas der Diplomatie und der traditionellen Gebräuche der
Höfe, aber sie war an sich nicht nur nicht tadelnswert, sondern nützlicher als ein sonst
vielleicht unvermeidlicher Flottenbesuch. Wie die Dinge damals standen, mußte die
deutsche Flagge an der Küste von Marokko gezeigt werden, und es verdient alle
Anerkennung, nicht Tadel, daß der Kaiser das in eigner Person vollzog. Wohl¬
gemerkt, eine „Reise nach Tanger" war es nicht. Aber da der Kaiser ohnehin dort
vorüberfuhr, so würde Bismarck die Landung, vielleicht im Hinblick auf die damit
verknüpfte persönliche Gefahr, nicht gern gesehen haben, aber mit dem Gedanken
an sich wohl einverstanden gewesen sein. Es war eine Tat, der die Franzosen
nichts entgegenzustellen hatten, die außerhalb aller diplomatischen Behandlung blieb,
der französischen Bedrängung des Sultans gegenüber ein von der höchsten Autorität
des Deutschen Reiches eingelegtes Karcls?! — ohne Frankreich damit unmittelbar
zu nahe zu treten. Gegen Frankreich gerichtete Kundgebungen waren vom Kaiser
ausdrücklich zurückgewiesen worden, die Landung besagte nur: Wir siud auch noch da!
Von einer „Mobilmachung" des Kaisers für die „Reise nach Tanger," wie Herr
Bebel annimmt, kann also gar nicht gesprochen werden. Der Tribünenwitz hat sich
alsbald dieser Rede Bebels bemächtigt und sie für die Erkrankung des Reichskanzlers
verantwortlich gemacht: es sei kein Wunder, wenn dem Fürsten Bülow bei dieser
Rede übel geworden sei! Nun, Bebel hat schon Schlimmres geredet, auch mag ihm
zugute gehalten werden, daß er unter ersichtlicher innerer Bewegung abbrach.

Der Unfall des Fürsten Bülow, der, wenn er ihm in der Wohnung begegnet
wäre, nach außen kaum bemerkbar geworden sein würde, hat ihm nicht nur warme
Sympathien des Reichstags, ans ganz Deutschland und dem ganzen Ausland ein¬
getragen, wobei die Kundgebung im englischen Oberhause besonders erwähnenswert
bleibt, sondern ist für die Parteien und die Presse in Deutschland, ebenso wie
für den Kanzler selbst, ein recht ernstes nnzmonto geworden. Der Eindruck, daß
ein Plötzliches Ausscheiden des Fürsten Bülow ein schwerer Verlust für Deutschland
sein würde, war allgemein und ist auch heute noch keineswegs überwunden. Man
sah fast mit Schrecken auf eine Berufstätigkeit, die eben erst den Staatssekretär des
Auswärtigen gebrochen hatte und nun den Reichskanzler selbst so ernst bedrohte.
Fürst Bülow ist 57 Jahre alt, nur 7 Jahre jünger als sein Vater war, als er
mit 64 Jahren den Anstrengungen des Dienstes im Herbst 1879 — ebenfalls
als Staatssekretär des Auswärtigen — erlag. Diesesmcil war es zum Glück eine
vorübergehende Warnung, durch das Zusammenwirken einer Reihe äußerer Um¬
stände, darunter auch die Nachwirkungen einer Entfettungskur, hervorgerufen; aber
sollte es nicht angängig sein, durch personelle und organisatorische Maßnahmen den


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[0118] Maßgebliches und Unmaßgebliches Was Bebel anlangt, so schrieben wir vor acht Tagen an dieser Stelle: „Vielleicht erleben wir die Sehnsucht nach Bismarck auch noch bei Bebel, der ebenso gut wie den Geist Scharnhorsts auch den Geist Bismarcks anrufen kann." Das Heft war kaum in den Händen der Leser, da war es schon geschehn! An eben diesem historischen 5. April hat Bebel im Reichstage den Fürsten Bismarck gegen den jetzigen Reichskanzler angerufen, indem er sagte, unter Bismarck wäre die Reise nach Tanger niemals möglich gewesen, Bismarck würde auch die Konferenz von Algeciras nicht veranlaßt haben. Hierin stimmt Bebel mit einzelnen Preßorganen, die sich als bevorzugte Pfleger der Bismarckischen Politik geben, wörtlich überein. Das sollten auch jene bedenken. Die Abgeschmacktheit solcher Berufungen braucht hier nicht noch einmal erörtert zu werden, abgesehen davon, daß von einer „Reise nach Tanger" gar nicht gesprochen werden kann. Es hat sich nicht um eine „Reise nach Tanger," sondern um eine gelegentliche Landung ans der Fahrt von Lissabon nach Gibraltar gehandelt. Herr Bebel ironisiert die Wendung in der Rede des Kaisers „ein freies Marokko." Selbstverständlich war damit nicht eine „Freiheit" im Sinne europäischen Verfassungslebens gemeint, z. B. die Freiheit, unter der sich Herr Bebel offenbar sehr wohl befindet, sondern „frei" ist vom Kaiser im Sinne von „unabhängig" gebraucht worden, „frei von jeder Fremdherrschaft." Die Landung in Tanger hat gewiß einen originellen Charakter gehabt, außerhalb des sonst üblichen Schemas der Diplomatie und der traditionellen Gebräuche der Höfe, aber sie war an sich nicht nur nicht tadelnswert, sondern nützlicher als ein sonst vielleicht unvermeidlicher Flottenbesuch. Wie die Dinge damals standen, mußte die deutsche Flagge an der Küste von Marokko gezeigt werden, und es verdient alle Anerkennung, nicht Tadel, daß der Kaiser das in eigner Person vollzog. Wohl¬ gemerkt, eine „Reise nach Tanger" war es nicht. Aber da der Kaiser ohnehin dort vorüberfuhr, so würde Bismarck die Landung, vielleicht im Hinblick auf die damit verknüpfte persönliche Gefahr, nicht gern gesehen haben, aber mit dem Gedanken an sich wohl einverstanden gewesen sein. Es war eine Tat, der die Franzosen nichts entgegenzustellen hatten, die außerhalb aller diplomatischen Behandlung blieb, der französischen Bedrängung des Sultans gegenüber ein von der höchsten Autorität des Deutschen Reiches eingelegtes Karcls?! — ohne Frankreich damit unmittelbar zu nahe zu treten. Gegen Frankreich gerichtete Kundgebungen waren vom Kaiser ausdrücklich zurückgewiesen worden, die Landung besagte nur: Wir siud auch noch da! Von einer „Mobilmachung" des Kaisers für die „Reise nach Tanger," wie Herr Bebel annimmt, kann also gar nicht gesprochen werden. Der Tribünenwitz hat sich alsbald dieser Rede Bebels bemächtigt und sie für die Erkrankung des Reichskanzlers verantwortlich gemacht: es sei kein Wunder, wenn dem Fürsten Bülow bei dieser Rede übel geworden sei! Nun, Bebel hat schon Schlimmres geredet, auch mag ihm zugute gehalten werden, daß er unter ersichtlicher innerer Bewegung abbrach. Der Unfall des Fürsten Bülow, der, wenn er ihm in der Wohnung begegnet wäre, nach außen kaum bemerkbar geworden sein würde, hat ihm nicht nur warme Sympathien des Reichstags, ans ganz Deutschland und dem ganzen Ausland ein¬ getragen, wobei die Kundgebung im englischen Oberhause besonders erwähnenswert bleibt, sondern ist für die Parteien und die Presse in Deutschland, ebenso wie für den Kanzler selbst, ein recht ernstes nnzmonto geworden. Der Eindruck, daß ein Plötzliches Ausscheiden des Fürsten Bülow ein schwerer Verlust für Deutschland sein würde, war allgemein und ist auch heute noch keineswegs überwunden. Man sah fast mit Schrecken auf eine Berufstätigkeit, die eben erst den Staatssekretär des Auswärtigen gebrochen hatte und nun den Reichskanzler selbst so ernst bedrohte. Fürst Bülow ist 57 Jahre alt, nur 7 Jahre jünger als sein Vater war, als er mit 64 Jahren den Anstrengungen des Dienstes im Herbst 1879 — ebenfalls als Staatssekretär des Auswärtigen — erlag. Diesesmcil war es zum Glück eine vorübergehende Warnung, durch das Zusammenwirken einer Reihe äußerer Um¬ stände, darunter auch die Nachwirkungen einer Entfettungskur, hervorgerufen; aber sollte es nicht angängig sein, durch personelle und organisatorische Maßnahmen den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/118>, abgerufen am 30.06.2024.