Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht im entferntesten vergleichen, noch dazu bei einer Bevölkerung, von der einige
sechzig Prozent weder lesen noch schreiben können.

Wie will man die Intelligenz einiger großer Städte, die nach westeuropäischem
Maße gemessen zudem recht oberflächlich ist, mit den vierzehn Millionen Mohamme¬
danern, die Rußland bewohnen, in die Schablone eines modernen Staatswesens
gießen? Für Rußland trifft durchaus zu, was der jetzige Zar einst als Großfürst-
thronfolger zum Minister Miquel in Berlin äußerte: "Rußland ist kein Land,
sondern ein Weltteil mit allen Zonen und alleu Klimaten." Ein Gebiet, wo die
Daseinsbedingungen für die Bewohner so verschieden find und vielleicht noch ans
ein Jahrhundert hinaus sein werden, läßt sich nicht in die starren Formen des
modernen Verfassungsstaats pressen. Eine Mitwirkung der Bevölkerung an der
Regierung oder auch nur an der Gesetzgebung, die sich in den homogenen west¬
europäischen Kulturländern verhältnismäßig leicht erfüllen läßt, stößt in Rußland
auf Schwierigkeiten, die sich durch die schönsten Theorien und durch alle Weisheit
des Doktrinarismus nicht überwinden lassen. Auch das Religiöse spielt hierbei eine
große Rolle. Die orthodoxe Religion ist mit dem modernen Konstitutionalismus
uicht leicht vereinbar. Serbien und Bulgarien lehren uns, daß ihre demokratischen
Verfassungen eigentlich nur eine große Lüge und den wirklichen Verhältnissen dieser
Länder ganz und gar nicht angepaßt sind. Wenn das augenblicklich weniger in
den Vordergrund tritt, so liegt die Ursache einzig in der gespannten Situation auf
dem Balkan. Rumänien ist dank der großen geistigen Überlegenheit seines Königs
bis jetzt damit zurechtgekommen. Mau darf aber getrost sagen, daß dort nicht die
Verfassung, sondern die das Land weit überragende Persönlichkeit des Königs trotz
dieser Verfassung eine großartige Entwicklung geschaffen hat. Nächst dem Mohamme-
danismus ist keine Religion für die absolutistische Staatsform so geeignet, schafft
ihr so sehr die Grundlage wie die griechisch-orthodoxe.

Will man diese Betrachtungen vom Standpunkte der Völkerpsychologie aus
weiter verfolgen, so stößt man ganz von selbst auf den unheilvollen Einfluß, den
alle nähern Berührungen mit Frankreich regelmäßig auf die innern Verhältnisse
Rußlands geübt haben. Der Dekabristenaufstand von 1825 war eine Frucht der
Saat, die die russische Okkupationsarmee in Frankreich in sich aufgenommen hatte;
die Erinnerung daran hatte Alexander den Dritten nicht verlassen, als er mit
innerstem Widerwillen 1891 in Kronstäbe beim Besuch der französischen Flotte die
Marseillaise über sich ergehn ließ. Auch das ist eine Dracheusaat für Rußland
gewesen, aus dieser intimen Berührung zweier Extreme konnte für den in der
Kultur schwächern Teil nichts Gutes Hervorgehn.

Die Geschichte wird es dereinst rechtfertigen, daß die deutsche Politik Ru߬
land in seiner gegenwärtigen ernsten Lage die Nachbarntreue bewahrt hat. Sie
ist damit auf den Bahnen der preußischen Politik während des Krimkriegs und
des polnischen Aufstands geblieben. Wenn es Preußen darum zu tuu gewesen
wäre, hätte es die Früchte dieser Politik schon im Jahre 1863 ernten können, als
Kaiser Alexander der Zweite mit dem Antrage eines gemeinsamen Kriegs gegen
Österreich um uns herantrat. Zu der Zeit des Frankfurter Fürstentags war das
gewiß ein verführerisches Anerbieten. Aber die Weisheit und das Nationalgefühl
König Wilhelms und seines großen Beraters lehnten es ab, die deutsche Frage mit
Hilfe des Auslands zu lösen, und als wenig Monate später der Tod des Königs
von Dänemark das Zeitalter weltgeschichtlicher Entscheidungen für uns eröffnete,
trat Preußen an diese bekanntlich im Bunde mit Österreich -- trotz dem Frank¬
furter Fürstentage -- heran.

Wollte das heutige Deutschland Rußlands schwierige Lage ausbeuten, so hätte
das vielleicht vorübergehend mit Erfolg geschehen können, vielleicht auch nicht, denn
es ist nicht nur eine Macht in Europa, die in ihren politischen Berechnungen auf
ein Zerwürfnis zwischen Deutschland und Rußland wartet und mit Freuden bereit
sein würde, ein solches herbeizuführen und auszunutzen. Deshalb ist es auch
töricht und ein Zeichen besondrer Kurzsichtigkeit, wenn freisinnige Organe dem


Maßgebliches und Unmaßgebliches

nicht im entferntesten vergleichen, noch dazu bei einer Bevölkerung, von der einige
sechzig Prozent weder lesen noch schreiben können.

Wie will man die Intelligenz einiger großer Städte, die nach westeuropäischem
Maße gemessen zudem recht oberflächlich ist, mit den vierzehn Millionen Mohamme¬
danern, die Rußland bewohnen, in die Schablone eines modernen Staatswesens
gießen? Für Rußland trifft durchaus zu, was der jetzige Zar einst als Großfürst-
thronfolger zum Minister Miquel in Berlin äußerte: „Rußland ist kein Land,
sondern ein Weltteil mit allen Zonen und alleu Klimaten." Ein Gebiet, wo die
Daseinsbedingungen für die Bewohner so verschieden find und vielleicht noch ans
ein Jahrhundert hinaus sein werden, läßt sich nicht in die starren Formen des
modernen Verfassungsstaats pressen. Eine Mitwirkung der Bevölkerung an der
Regierung oder auch nur an der Gesetzgebung, die sich in den homogenen west¬
europäischen Kulturländern verhältnismäßig leicht erfüllen läßt, stößt in Rußland
auf Schwierigkeiten, die sich durch die schönsten Theorien und durch alle Weisheit
des Doktrinarismus nicht überwinden lassen. Auch das Religiöse spielt hierbei eine
große Rolle. Die orthodoxe Religion ist mit dem modernen Konstitutionalismus
uicht leicht vereinbar. Serbien und Bulgarien lehren uns, daß ihre demokratischen
Verfassungen eigentlich nur eine große Lüge und den wirklichen Verhältnissen dieser
Länder ganz und gar nicht angepaßt sind. Wenn das augenblicklich weniger in
den Vordergrund tritt, so liegt die Ursache einzig in der gespannten Situation auf
dem Balkan. Rumänien ist dank der großen geistigen Überlegenheit seines Königs
bis jetzt damit zurechtgekommen. Mau darf aber getrost sagen, daß dort nicht die
Verfassung, sondern die das Land weit überragende Persönlichkeit des Königs trotz
dieser Verfassung eine großartige Entwicklung geschaffen hat. Nächst dem Mohamme-
danismus ist keine Religion für die absolutistische Staatsform so geeignet, schafft
ihr so sehr die Grundlage wie die griechisch-orthodoxe.

Will man diese Betrachtungen vom Standpunkte der Völkerpsychologie aus
weiter verfolgen, so stößt man ganz von selbst auf den unheilvollen Einfluß, den
alle nähern Berührungen mit Frankreich regelmäßig auf die innern Verhältnisse
Rußlands geübt haben. Der Dekabristenaufstand von 1825 war eine Frucht der
Saat, die die russische Okkupationsarmee in Frankreich in sich aufgenommen hatte;
die Erinnerung daran hatte Alexander den Dritten nicht verlassen, als er mit
innerstem Widerwillen 1891 in Kronstäbe beim Besuch der französischen Flotte die
Marseillaise über sich ergehn ließ. Auch das ist eine Dracheusaat für Rußland
gewesen, aus dieser intimen Berührung zweier Extreme konnte für den in der
Kultur schwächern Teil nichts Gutes Hervorgehn.

Die Geschichte wird es dereinst rechtfertigen, daß die deutsche Politik Ru߬
land in seiner gegenwärtigen ernsten Lage die Nachbarntreue bewahrt hat. Sie
ist damit auf den Bahnen der preußischen Politik während des Krimkriegs und
des polnischen Aufstands geblieben. Wenn es Preußen darum zu tuu gewesen
wäre, hätte es die Früchte dieser Politik schon im Jahre 1863 ernten können, als
Kaiser Alexander der Zweite mit dem Antrage eines gemeinsamen Kriegs gegen
Österreich um uns herantrat. Zu der Zeit des Frankfurter Fürstentags war das
gewiß ein verführerisches Anerbieten. Aber die Weisheit und das Nationalgefühl
König Wilhelms und seines großen Beraters lehnten es ab, die deutsche Frage mit
Hilfe des Auslands zu lösen, und als wenig Monate später der Tod des Königs
von Dänemark das Zeitalter weltgeschichtlicher Entscheidungen für uns eröffnete,
trat Preußen an diese bekanntlich im Bunde mit Österreich — trotz dem Frank¬
furter Fürstentage — heran.

Wollte das heutige Deutschland Rußlands schwierige Lage ausbeuten, so hätte
das vielleicht vorübergehend mit Erfolg geschehen können, vielleicht auch nicht, denn
es ist nicht nur eine Macht in Europa, die in ihren politischen Berechnungen auf
ein Zerwürfnis zwischen Deutschland und Rußland wartet und mit Freuden bereit
sein würde, ein solches herbeizuführen und auszunutzen. Deshalb ist es auch
töricht und ein Zeichen besondrer Kurzsichtigkeit, wenn freisinnige Organe dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0693" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/88171"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2986" prev="#ID_2985"> nicht im entferntesten vergleichen, noch dazu bei einer Bevölkerung, von der einige<lb/>
sechzig Prozent weder lesen noch schreiben können.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2987"> Wie will man die Intelligenz einiger großer Städte, die nach westeuropäischem<lb/>
Maße gemessen zudem recht oberflächlich ist, mit den vierzehn Millionen Mohamme¬<lb/>
danern, die Rußland bewohnen, in die Schablone eines modernen Staatswesens<lb/>
gießen? Für Rußland trifft durchaus zu, was der jetzige Zar einst als Großfürst-<lb/>
thronfolger zum Minister Miquel in Berlin äußerte: &#x201E;Rußland ist kein Land,<lb/>
sondern ein Weltteil mit allen Zonen und alleu Klimaten." Ein Gebiet, wo die<lb/>
Daseinsbedingungen für die Bewohner so verschieden find und vielleicht noch ans<lb/>
ein Jahrhundert hinaus sein werden, läßt sich nicht in die starren Formen des<lb/>
modernen Verfassungsstaats pressen. Eine Mitwirkung der Bevölkerung an der<lb/>
Regierung oder auch nur an der Gesetzgebung, die sich in den homogenen west¬<lb/>
europäischen Kulturländern verhältnismäßig leicht erfüllen läßt, stößt in Rußland<lb/>
auf Schwierigkeiten, die sich durch die schönsten Theorien und durch alle Weisheit<lb/>
des Doktrinarismus nicht überwinden lassen. Auch das Religiöse spielt hierbei eine<lb/>
große Rolle. Die orthodoxe Religion ist mit dem modernen Konstitutionalismus<lb/>
uicht leicht vereinbar. Serbien und Bulgarien lehren uns, daß ihre demokratischen<lb/>
Verfassungen eigentlich nur eine große Lüge und den wirklichen Verhältnissen dieser<lb/>
Länder ganz und gar nicht angepaßt sind. Wenn das augenblicklich weniger in<lb/>
den Vordergrund tritt, so liegt die Ursache einzig in der gespannten Situation auf<lb/>
dem Balkan. Rumänien ist dank der großen geistigen Überlegenheit seines Königs<lb/>
bis jetzt damit zurechtgekommen. Mau darf aber getrost sagen, daß dort nicht die<lb/>
Verfassung, sondern die das Land weit überragende Persönlichkeit des Königs trotz<lb/>
dieser Verfassung eine großartige Entwicklung geschaffen hat. Nächst dem Mohamme-<lb/>
danismus ist keine Religion für die absolutistische Staatsform so geeignet, schafft<lb/>
ihr so sehr die Grundlage wie die griechisch-orthodoxe.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2988"> Will man diese Betrachtungen vom Standpunkte der Völkerpsychologie aus<lb/>
weiter verfolgen, so stößt man ganz von selbst auf den unheilvollen Einfluß, den<lb/>
alle nähern Berührungen mit Frankreich regelmäßig auf die innern Verhältnisse<lb/>
Rußlands geübt haben. Der Dekabristenaufstand von 1825 war eine Frucht der<lb/>
Saat, die die russische Okkupationsarmee in Frankreich in sich aufgenommen hatte;<lb/>
die Erinnerung daran hatte Alexander den Dritten nicht verlassen, als er mit<lb/>
innerstem Widerwillen 1891 in Kronstäbe beim Besuch der französischen Flotte die<lb/>
Marseillaise über sich ergehn ließ. Auch das ist eine Dracheusaat für Rußland<lb/>
gewesen, aus dieser intimen Berührung zweier Extreme konnte für den in der<lb/>
Kultur schwächern Teil nichts Gutes Hervorgehn.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2989"> Die Geschichte wird es dereinst rechtfertigen, daß die deutsche Politik Ru߬<lb/>
land in seiner gegenwärtigen ernsten Lage die Nachbarntreue bewahrt hat. Sie<lb/>
ist damit auf den Bahnen der preußischen Politik während des Krimkriegs und<lb/>
des polnischen Aufstands geblieben. Wenn es Preußen darum zu tuu gewesen<lb/>
wäre, hätte es die Früchte dieser Politik schon im Jahre 1863 ernten können, als<lb/>
Kaiser Alexander der Zweite mit dem Antrage eines gemeinsamen Kriegs gegen<lb/>
Österreich um uns herantrat. Zu der Zeit des Frankfurter Fürstentags war das<lb/>
gewiß ein verführerisches Anerbieten. Aber die Weisheit und das Nationalgefühl<lb/>
König Wilhelms und seines großen Beraters lehnten es ab, die deutsche Frage mit<lb/>
Hilfe des Auslands zu lösen, und als wenig Monate später der Tod des Königs<lb/>
von Dänemark das Zeitalter weltgeschichtlicher Entscheidungen für uns eröffnete,<lb/>
trat Preußen an diese bekanntlich im Bunde mit Österreich &#x2014; trotz dem Frank¬<lb/>
furter Fürstentage &#x2014; heran.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2990" next="#ID_2991"> Wollte das heutige Deutschland Rußlands schwierige Lage ausbeuten, so hätte<lb/>
das vielleicht vorübergehend mit Erfolg geschehen können, vielleicht auch nicht, denn<lb/>
es ist nicht nur eine Macht in Europa, die in ihren politischen Berechnungen auf<lb/>
ein Zerwürfnis zwischen Deutschland und Rußland wartet und mit Freuden bereit<lb/>
sein würde, ein solches herbeizuführen und auszunutzen. Deshalb ist es auch<lb/>
töricht und ein Zeichen besondrer Kurzsichtigkeit, wenn freisinnige Organe dem</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0693] Maßgebliches und Unmaßgebliches nicht im entferntesten vergleichen, noch dazu bei einer Bevölkerung, von der einige sechzig Prozent weder lesen noch schreiben können. Wie will man die Intelligenz einiger großer Städte, die nach westeuropäischem Maße gemessen zudem recht oberflächlich ist, mit den vierzehn Millionen Mohamme¬ danern, die Rußland bewohnen, in die Schablone eines modernen Staatswesens gießen? Für Rußland trifft durchaus zu, was der jetzige Zar einst als Großfürst- thronfolger zum Minister Miquel in Berlin äußerte: „Rußland ist kein Land, sondern ein Weltteil mit allen Zonen und alleu Klimaten." Ein Gebiet, wo die Daseinsbedingungen für die Bewohner so verschieden find und vielleicht noch ans ein Jahrhundert hinaus sein werden, läßt sich nicht in die starren Formen des modernen Verfassungsstaats pressen. Eine Mitwirkung der Bevölkerung an der Regierung oder auch nur an der Gesetzgebung, die sich in den homogenen west¬ europäischen Kulturländern verhältnismäßig leicht erfüllen läßt, stößt in Rußland auf Schwierigkeiten, die sich durch die schönsten Theorien und durch alle Weisheit des Doktrinarismus nicht überwinden lassen. Auch das Religiöse spielt hierbei eine große Rolle. Die orthodoxe Religion ist mit dem modernen Konstitutionalismus uicht leicht vereinbar. Serbien und Bulgarien lehren uns, daß ihre demokratischen Verfassungen eigentlich nur eine große Lüge und den wirklichen Verhältnissen dieser Länder ganz und gar nicht angepaßt sind. Wenn das augenblicklich weniger in den Vordergrund tritt, so liegt die Ursache einzig in der gespannten Situation auf dem Balkan. Rumänien ist dank der großen geistigen Überlegenheit seines Königs bis jetzt damit zurechtgekommen. Mau darf aber getrost sagen, daß dort nicht die Verfassung, sondern die das Land weit überragende Persönlichkeit des Königs trotz dieser Verfassung eine großartige Entwicklung geschaffen hat. Nächst dem Mohamme- danismus ist keine Religion für die absolutistische Staatsform so geeignet, schafft ihr so sehr die Grundlage wie die griechisch-orthodoxe. Will man diese Betrachtungen vom Standpunkte der Völkerpsychologie aus weiter verfolgen, so stößt man ganz von selbst auf den unheilvollen Einfluß, den alle nähern Berührungen mit Frankreich regelmäßig auf die innern Verhältnisse Rußlands geübt haben. Der Dekabristenaufstand von 1825 war eine Frucht der Saat, die die russische Okkupationsarmee in Frankreich in sich aufgenommen hatte; die Erinnerung daran hatte Alexander den Dritten nicht verlassen, als er mit innerstem Widerwillen 1891 in Kronstäbe beim Besuch der französischen Flotte die Marseillaise über sich ergehn ließ. Auch das ist eine Dracheusaat für Rußland gewesen, aus dieser intimen Berührung zweier Extreme konnte für den in der Kultur schwächern Teil nichts Gutes Hervorgehn. Die Geschichte wird es dereinst rechtfertigen, daß die deutsche Politik Ru߬ land in seiner gegenwärtigen ernsten Lage die Nachbarntreue bewahrt hat. Sie ist damit auf den Bahnen der preußischen Politik während des Krimkriegs und des polnischen Aufstands geblieben. Wenn es Preußen darum zu tuu gewesen wäre, hätte es die Früchte dieser Politik schon im Jahre 1863 ernten können, als Kaiser Alexander der Zweite mit dem Antrage eines gemeinsamen Kriegs gegen Österreich um uns herantrat. Zu der Zeit des Frankfurter Fürstentags war das gewiß ein verführerisches Anerbieten. Aber die Weisheit und das Nationalgefühl König Wilhelms und seines großen Beraters lehnten es ab, die deutsche Frage mit Hilfe des Auslands zu lösen, und als wenig Monate später der Tod des Königs von Dänemark das Zeitalter weltgeschichtlicher Entscheidungen für uns eröffnete, trat Preußen an diese bekanntlich im Bunde mit Österreich — trotz dem Frank¬ furter Fürstentage — heran. Wollte das heutige Deutschland Rußlands schwierige Lage ausbeuten, so hätte das vielleicht vorübergehend mit Erfolg geschehen können, vielleicht auch nicht, denn es ist nicht nur eine Macht in Europa, die in ihren politischen Berechnungen auf ein Zerwürfnis zwischen Deutschland und Rußland wartet und mit Freuden bereit sein würde, ein solches herbeizuführen und auszunutzen. Deshalb ist es auch töricht und ein Zeichen besondrer Kurzsichtigkeit, wenn freisinnige Organe dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/693
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/693>, abgerufen am 26.06.2024.