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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Reichskanzler "Gefühlspolitik" vorwerfen, weil er "aus Zartgefühl gegen das von
Unheil aller Art heimgesuchte Zarenreich den in diesem Augenblick zweifellos aus¬
sichtsvollen Versuch unterläßt, von den Auslieferungsverträgen mit Rußland loszu¬
kommen." Graf Bülow handelt so nicht aus Zartgefühl, sondern ans kluger
staatsmännischer Überlegung. Stunde Bismarck heute an seiner Stelle, er würde
genau ebenso Verfahren. Die durch die innern Schwierigkeiten geschaffne Lage
Rußlands ist am allerwenigsten dazu angetan, mit ihm wegen Aufhebung der Aus¬
lieferungsverträge in Verhandlung zu treten, sie ihm gleichsam abzupressen. Zu
einer Zeit, wo in Rußland Ruhe und Ordnung herrscht, ist ein solches Thema
viel eher diskutierbar als im gegenwärtigen Augenblick, wo die russischen Staats¬
männer Sorgen aller Art genng haben. Wenn eins dieser freisinnigen Blätter
dabei anerkennt, "volle Neutralität Rußland gegenüber sei mit Recht der Wahl¬
spruch unsrer Regierung," so ist das unmittelbar an diese Erkenntnis geknüpfte
Verlangen, gegenwärtig einen solchen Versuch zu unternehmen, unlogisch und wider¬
spruchsvoll. An Rußland jetzt mit solchen Zumutungen herantreten, hieße die
Neutralität verletzen, die auch von freisinniger Seite als die richtige Politik Deutsch¬
lands anerkannt wird. Es würde unweise sein, jetzt an Japan mit dem Ver¬
langen heranzutreten, irgendeine Unbequemlichkeit in unfern Beziehungen zu ihm
zu beseitigen. Ein solches Verlangen, während äußerer Kriegsnot gestellt, würde in
Tokio mit Recht als Unfreundlichkeit empfunden werden. Wenn das schon bei dem
siegreichen, von uns durch Tausende von Meilen getrennten Japan der Fall sein
würde, um wie viel mehr bei Rußland in seiner schwierigen Lage, das uns auf aus¬
gedehnten Land- und Seegrenzen benachbart ist und mit uns durch die vielseitigsten
Interessen fortgesetzt in engster Berührung steht! Es erinnert das tatsächlich an
das vor zwanzig Jahren von derselben Seite an Bismarck gestellte Verlangen,
für den Fürsten Alexander von Bulgarien gegen Rußland Partei zu ergreifen.
Alle solche Zumutungen erwachsen auf dem Boden eben jener "Gefühlspolitik," von
der gerade niemand mehr beherrscht und beeinflußt wird als der deutsche Fort¬
schrittsphilister. Insbesondre ist das eine Berliner Spezialität. Begeisterten sich
die Berliner doch nach den Märztagen von 1848 für dieselben Polen, die in
derselben Zeit die Deutschen in der Provinz Posen an Leib und Leben, Hab und Gut
bedrohten, und deren aufrührerische Tendenz damals -- wie heute und immer --
gegen die Zusammengehörigkeit mit dem preußischen Staate gerichtet war. Die
Polen, die auf deu Berliner Barrikaden kommandierten, blieben durchaus in ihrer
Rolle, denn sie bekämpften das preußische Königtum, das Heer, das gesamte Ge¬
füge des Staates.

Die Berliner haben gnr keine Veranlassung, sich auf eine Revolution viel zu¬
gute zu halten, die durchaus nicht die ihrige war. Sie haben sich dazu ver¬
hetzen und mißbrauchen lassen. Wie der eigentliche Kern der Bevölkerung darüber
dachte, dafür legte der jubelnde Empfang Zeugnis ab, der wenig Wochen später
den ersten in die Hauptstadt einrückenden Truppen zuteil wurde. Dem Schreiber
dieser Zeilen steht er als einer der nachhaltigsten Eindrücke aus der Knabenzeit
noch heute deutlich vor der Seele. Die Vossische Zeitung hat also gar keine Veran¬
lassung, es dem Grafen Bülow zu verübeln, wenn er von der Berliner März¬
revolution etwas despektierlich gesprochen hat.

Gegenüber den sozialdemokratischen Deklamationen gegen Rußland und den
Zarismus muß immer wieder daran erinnert werden, daß die französische Re¬
publik sowohl im Juni 1848 bei den Pariser Arbeiterschlachten wie im Mai 1871
der Kommune gegenüber hundertmal blutiger und rücksichtsloser aufgetreten ist als
alle russischen Behörden nud Militärbefehlshaber. Hätte Cavaignac im Februar
dieses Jahres in Petersburg kommandiert, so würde die Säuberung der Straßen
vielleicht den Umfang an Toten erreicht haben, den lügenhafte Berichte den Peters¬
burger Vorgängen anzudichten versucht haben.

In dieses Milieu hinein gehört nun auch der Bebelsche Brief an Jaures, der
aufs neue beweist, wie wenig ernst die Bebelschen Radomontaden zu nehmen sind,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Reichskanzler „Gefühlspolitik" vorwerfen, weil er „aus Zartgefühl gegen das von
Unheil aller Art heimgesuchte Zarenreich den in diesem Augenblick zweifellos aus¬
sichtsvollen Versuch unterläßt, von den Auslieferungsverträgen mit Rußland loszu¬
kommen." Graf Bülow handelt so nicht aus Zartgefühl, sondern ans kluger
staatsmännischer Überlegung. Stunde Bismarck heute an seiner Stelle, er würde
genau ebenso Verfahren. Die durch die innern Schwierigkeiten geschaffne Lage
Rußlands ist am allerwenigsten dazu angetan, mit ihm wegen Aufhebung der Aus¬
lieferungsverträge in Verhandlung zu treten, sie ihm gleichsam abzupressen. Zu
einer Zeit, wo in Rußland Ruhe und Ordnung herrscht, ist ein solches Thema
viel eher diskutierbar als im gegenwärtigen Augenblick, wo die russischen Staats¬
männer Sorgen aller Art genng haben. Wenn eins dieser freisinnigen Blätter
dabei anerkennt, „volle Neutralität Rußland gegenüber sei mit Recht der Wahl¬
spruch unsrer Regierung," so ist das unmittelbar an diese Erkenntnis geknüpfte
Verlangen, gegenwärtig einen solchen Versuch zu unternehmen, unlogisch und wider¬
spruchsvoll. An Rußland jetzt mit solchen Zumutungen herantreten, hieße die
Neutralität verletzen, die auch von freisinniger Seite als die richtige Politik Deutsch¬
lands anerkannt wird. Es würde unweise sein, jetzt an Japan mit dem Ver¬
langen heranzutreten, irgendeine Unbequemlichkeit in unfern Beziehungen zu ihm
zu beseitigen. Ein solches Verlangen, während äußerer Kriegsnot gestellt, würde in
Tokio mit Recht als Unfreundlichkeit empfunden werden. Wenn das schon bei dem
siegreichen, von uns durch Tausende von Meilen getrennten Japan der Fall sein
würde, um wie viel mehr bei Rußland in seiner schwierigen Lage, das uns auf aus¬
gedehnten Land- und Seegrenzen benachbart ist und mit uns durch die vielseitigsten
Interessen fortgesetzt in engster Berührung steht! Es erinnert das tatsächlich an
das vor zwanzig Jahren von derselben Seite an Bismarck gestellte Verlangen,
für den Fürsten Alexander von Bulgarien gegen Rußland Partei zu ergreifen.
Alle solche Zumutungen erwachsen auf dem Boden eben jener „Gefühlspolitik," von
der gerade niemand mehr beherrscht und beeinflußt wird als der deutsche Fort¬
schrittsphilister. Insbesondre ist das eine Berliner Spezialität. Begeisterten sich
die Berliner doch nach den Märztagen von 1848 für dieselben Polen, die in
derselben Zeit die Deutschen in der Provinz Posen an Leib und Leben, Hab und Gut
bedrohten, und deren aufrührerische Tendenz damals — wie heute und immer —
gegen die Zusammengehörigkeit mit dem preußischen Staate gerichtet war. Die
Polen, die auf deu Berliner Barrikaden kommandierten, blieben durchaus in ihrer
Rolle, denn sie bekämpften das preußische Königtum, das Heer, das gesamte Ge¬
füge des Staates.

Die Berliner haben gnr keine Veranlassung, sich auf eine Revolution viel zu¬
gute zu halten, die durchaus nicht die ihrige war. Sie haben sich dazu ver¬
hetzen und mißbrauchen lassen. Wie der eigentliche Kern der Bevölkerung darüber
dachte, dafür legte der jubelnde Empfang Zeugnis ab, der wenig Wochen später
den ersten in die Hauptstadt einrückenden Truppen zuteil wurde. Dem Schreiber
dieser Zeilen steht er als einer der nachhaltigsten Eindrücke aus der Knabenzeit
noch heute deutlich vor der Seele. Die Vossische Zeitung hat also gar keine Veran¬
lassung, es dem Grafen Bülow zu verübeln, wenn er von der Berliner März¬
revolution etwas despektierlich gesprochen hat.

Gegenüber den sozialdemokratischen Deklamationen gegen Rußland und den
Zarismus muß immer wieder daran erinnert werden, daß die französische Re¬
publik sowohl im Juni 1848 bei den Pariser Arbeiterschlachten wie im Mai 1871
der Kommune gegenüber hundertmal blutiger und rücksichtsloser aufgetreten ist als
alle russischen Behörden nud Militärbefehlshaber. Hätte Cavaignac im Februar
dieses Jahres in Petersburg kommandiert, so würde die Säuberung der Straßen
vielleicht den Umfang an Toten erreicht haben, den lügenhafte Berichte den Peters¬
burger Vorgängen anzudichten versucht haben.

In dieses Milieu hinein gehört nun auch der Bebelsche Brief an Jaures, der
aufs neue beweist, wie wenig ernst die Bebelschen Radomontaden zu nehmen sind,


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[0694] Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichskanzler „Gefühlspolitik" vorwerfen, weil er „aus Zartgefühl gegen das von Unheil aller Art heimgesuchte Zarenreich den in diesem Augenblick zweifellos aus¬ sichtsvollen Versuch unterläßt, von den Auslieferungsverträgen mit Rußland loszu¬ kommen." Graf Bülow handelt so nicht aus Zartgefühl, sondern ans kluger staatsmännischer Überlegung. Stunde Bismarck heute an seiner Stelle, er würde genau ebenso Verfahren. Die durch die innern Schwierigkeiten geschaffne Lage Rußlands ist am allerwenigsten dazu angetan, mit ihm wegen Aufhebung der Aus¬ lieferungsverträge in Verhandlung zu treten, sie ihm gleichsam abzupressen. Zu einer Zeit, wo in Rußland Ruhe und Ordnung herrscht, ist ein solches Thema viel eher diskutierbar als im gegenwärtigen Augenblick, wo die russischen Staats¬ männer Sorgen aller Art genng haben. Wenn eins dieser freisinnigen Blätter dabei anerkennt, „volle Neutralität Rußland gegenüber sei mit Recht der Wahl¬ spruch unsrer Regierung," so ist das unmittelbar an diese Erkenntnis geknüpfte Verlangen, gegenwärtig einen solchen Versuch zu unternehmen, unlogisch und wider¬ spruchsvoll. An Rußland jetzt mit solchen Zumutungen herantreten, hieße die Neutralität verletzen, die auch von freisinniger Seite als die richtige Politik Deutsch¬ lands anerkannt wird. Es würde unweise sein, jetzt an Japan mit dem Ver¬ langen heranzutreten, irgendeine Unbequemlichkeit in unfern Beziehungen zu ihm zu beseitigen. Ein solches Verlangen, während äußerer Kriegsnot gestellt, würde in Tokio mit Recht als Unfreundlichkeit empfunden werden. Wenn das schon bei dem siegreichen, von uns durch Tausende von Meilen getrennten Japan der Fall sein würde, um wie viel mehr bei Rußland in seiner schwierigen Lage, das uns auf aus¬ gedehnten Land- und Seegrenzen benachbart ist und mit uns durch die vielseitigsten Interessen fortgesetzt in engster Berührung steht! Es erinnert das tatsächlich an das vor zwanzig Jahren von derselben Seite an Bismarck gestellte Verlangen, für den Fürsten Alexander von Bulgarien gegen Rußland Partei zu ergreifen. Alle solche Zumutungen erwachsen auf dem Boden eben jener „Gefühlspolitik," von der gerade niemand mehr beherrscht und beeinflußt wird als der deutsche Fort¬ schrittsphilister. Insbesondre ist das eine Berliner Spezialität. Begeisterten sich die Berliner doch nach den Märztagen von 1848 für dieselben Polen, die in derselben Zeit die Deutschen in der Provinz Posen an Leib und Leben, Hab und Gut bedrohten, und deren aufrührerische Tendenz damals — wie heute und immer — gegen die Zusammengehörigkeit mit dem preußischen Staate gerichtet war. Die Polen, die auf deu Berliner Barrikaden kommandierten, blieben durchaus in ihrer Rolle, denn sie bekämpften das preußische Königtum, das Heer, das gesamte Ge¬ füge des Staates. Die Berliner haben gnr keine Veranlassung, sich auf eine Revolution viel zu¬ gute zu halten, die durchaus nicht die ihrige war. Sie haben sich dazu ver¬ hetzen und mißbrauchen lassen. Wie der eigentliche Kern der Bevölkerung darüber dachte, dafür legte der jubelnde Empfang Zeugnis ab, der wenig Wochen später den ersten in die Hauptstadt einrückenden Truppen zuteil wurde. Dem Schreiber dieser Zeilen steht er als einer der nachhaltigsten Eindrücke aus der Knabenzeit noch heute deutlich vor der Seele. Die Vossische Zeitung hat also gar keine Veran¬ lassung, es dem Grafen Bülow zu verübeln, wenn er von der Berliner März¬ revolution etwas despektierlich gesprochen hat. Gegenüber den sozialdemokratischen Deklamationen gegen Rußland und den Zarismus muß immer wieder daran erinnert werden, daß die französische Re¬ publik sowohl im Juni 1848 bei den Pariser Arbeiterschlachten wie im Mai 1871 der Kommune gegenüber hundertmal blutiger und rücksichtsloser aufgetreten ist als alle russischen Behörden nud Militärbefehlshaber. Hätte Cavaignac im Februar dieses Jahres in Petersburg kommandiert, so würde die Säuberung der Straßen vielleicht den Umfang an Toten erreicht haben, den lügenhafte Berichte den Peters¬ burger Vorgängen anzudichten versucht haben. In dieses Milieu hinein gehört nun auch der Bebelsche Brief an Jaures, der aufs neue beweist, wie wenig ernst die Bebelschen Radomontaden zu nehmen sind,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/694>, abgerufen am 18.06.2024.