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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Herrenmenschen

Das Fischerhaus hatte eine lange Reihe von Jahren dein alten David Locken
gehört, bis dieser eines Dezembertags vom Eise nicht nach Hause gekommen war.
War er in ein Loch im Eise geraten, war er mit einer Scholle abgetrieben oder
irgendwo sitzen geblieben und erfroren, niemand hat es erfahren. Dann war die
alte Mutter Locken zu ihren Kindern gezogen, die in einem ähnlichen Hause auf
der entgegengesetzten Seite des Dorfes in der Nähe des Badestrandes wohnten,
und so war das Haus leer geblieben. Zumeist darum, weil das Gerede ging, der
alte Locken, der eiuer der Frommen im Dorfe gewesen war, sitze an jedem Subatä-
nbend, wenn der Feiertag angegangen war, auf seiner Bettstelle und lese in der
Bibel. Alte Frauen versicherten auf ihre Seligkeit, sie hätten ihn mit seiner alten
zittrigen Stimme singen hören. Eines Tages war Staffelsteiger ans seiner Snche
nach Erdgeruch, Birken und Sumpflöchern nach Tapnicken gekommen und hatte
dus Haus gemietet. Aber er fühlte sich einsam und wußte sich, da er hervorragend
unpraktisch war, in vielen Dingen allein nicht zu helfen. Und so nahm er das
nächste Jahr die beiden Siamesen, Schwechting und Pogge, mit und machte sie zu
Teilhabern seines Kontrakts. Kaum waren diese eingezogen, so stellten sie das
unterste zu oberst, trieben Allotria und bauten das ganze Haus nach ihrem Ge¬
schmack um. Es war toll. Sie hatten vor nichts Respekt, weder vor Böcklin
noch vor seinen, Staffelsteigers, tiefsinnigen mystisch-impressionistischen Ideen. Aber
man konnte ja diesen beiden Eulenspiegelu nicht böse sein, und so begnügte sich
Staffelsteiger damit, die Würde seines Standpunkts stillschweigend zu wahren und
ihre Neckereien mit wohlwollender Überlegenheit zu ertragen.

In diesen Raum traten also die fünf Herren, deren Bekanntschaft wir eben
gemacht haben, ein, gefolgt von Petereit und Burpel, die die Kiste trugen und sie
unter eindringlichen Beschwörungsformeln Pogges mit äußerster Vorsicht nieder¬
setzten und öffneten. Währenddessen hatte Doktor Ramborn erstaunt und belustigt,
und indem er die Spitzen und Bosheiten wohl verstand, die in den Bildnereicu
lagen, alles angesehen, hatte die Schöpfer dieser Wunderwerke sowie die Künstler-
kolonie in Tapnicken und alles, was damit zusammenhing, gerühmt, und Herr
Groppoff hatte als Chef von Tapnicken seinen Anteil Lob mit Würde entgegen-
genommen. Jetzt setzte man sich an den Tisch und stellte eine Staffelei in das
rechte Licht. Schwechting holte etliche seiner phantastischen Trinkgefäße herbei und
stellte eine italienische rohrumsponnene Bentelflasche auf den Tisch, die zwar nicht
Chicmtt, aber doch einen andern guten Tropfen enthielt. Man trank, man sammelte
sich, und -- da stand der Prometheus.

Man sah eine nackte männliche Gestalt von den derben und unedel" Formen
eines norddeutschen Packknechts. Sie schritt in rhythmischer Bewegung, die Hände
verlangend ausgestreckt, dem Vordergründe zu. I" der einen Hand trug sie eine
Fackel, deren Flamme so sehr stilisiert war, daß nur noch die rote Farbe an Feuer
erinnerte. Die Augen waren verzückt in die Ferne gerichtet, der Mund war zu
einem überirdischen Lache" geöffnet. Am Boden niedergeschmettert lagen ein nackter
Mann und ein nacktes Weib, über die der Mann mit der Fackel hinwegschritt,
indem er die Fran ins Gesicht trat und dem Manne die Ferse auf den Nacken
setzte. Zwischen den Felsblöcken, die umherlagen, und den exotischen Blumen, die
aus dem Grase wuchsen, und die bisher uoch unentdeckten botanischen Gattungen
angehörten, sah man etwas, was wie Menschenarme und Menschenbeine aussah, und
was sich verschwindend in die dunkle Ferne fortsetzte. Den Hintergrund bildeten
graue Ballen, die Wolken oder much Wollsäcke darstellen konnten, und ein roter
Streifen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Präriebraude hatte.

(Fortsetzung folgt)




Herrenmenschen

Das Fischerhaus hatte eine lange Reihe von Jahren dein alten David Locken
gehört, bis dieser eines Dezembertags vom Eise nicht nach Hause gekommen war.
War er in ein Loch im Eise geraten, war er mit einer Scholle abgetrieben oder
irgendwo sitzen geblieben und erfroren, niemand hat es erfahren. Dann war die
alte Mutter Locken zu ihren Kindern gezogen, die in einem ähnlichen Hause auf
der entgegengesetzten Seite des Dorfes in der Nähe des Badestrandes wohnten,
und so war das Haus leer geblieben. Zumeist darum, weil das Gerede ging, der
alte Locken, der eiuer der Frommen im Dorfe gewesen war, sitze an jedem Subatä-
nbend, wenn der Feiertag angegangen war, auf seiner Bettstelle und lese in der
Bibel. Alte Frauen versicherten auf ihre Seligkeit, sie hätten ihn mit seiner alten
zittrigen Stimme singen hören. Eines Tages war Staffelsteiger ans seiner Snche
nach Erdgeruch, Birken und Sumpflöchern nach Tapnicken gekommen und hatte
dus Haus gemietet. Aber er fühlte sich einsam und wußte sich, da er hervorragend
unpraktisch war, in vielen Dingen allein nicht zu helfen. Und so nahm er das
nächste Jahr die beiden Siamesen, Schwechting und Pogge, mit und machte sie zu
Teilhabern seines Kontrakts. Kaum waren diese eingezogen, so stellten sie das
unterste zu oberst, trieben Allotria und bauten das ganze Haus nach ihrem Ge¬
schmack um. Es war toll. Sie hatten vor nichts Respekt, weder vor Böcklin
noch vor seinen, Staffelsteigers, tiefsinnigen mystisch-impressionistischen Ideen. Aber
man konnte ja diesen beiden Eulenspiegelu nicht böse sein, und so begnügte sich
Staffelsteiger damit, die Würde seines Standpunkts stillschweigend zu wahren und
ihre Neckereien mit wohlwollender Überlegenheit zu ertragen.

In diesen Raum traten also die fünf Herren, deren Bekanntschaft wir eben
gemacht haben, ein, gefolgt von Petereit und Burpel, die die Kiste trugen und sie
unter eindringlichen Beschwörungsformeln Pogges mit äußerster Vorsicht nieder¬
setzten und öffneten. Währenddessen hatte Doktor Ramborn erstaunt und belustigt,
und indem er die Spitzen und Bosheiten wohl verstand, die in den Bildnereicu
lagen, alles angesehen, hatte die Schöpfer dieser Wunderwerke sowie die Künstler-
kolonie in Tapnicken und alles, was damit zusammenhing, gerühmt, und Herr
Groppoff hatte als Chef von Tapnicken seinen Anteil Lob mit Würde entgegen-
genommen. Jetzt setzte man sich an den Tisch und stellte eine Staffelei in das
rechte Licht. Schwechting holte etliche seiner phantastischen Trinkgefäße herbei und
stellte eine italienische rohrumsponnene Bentelflasche auf den Tisch, die zwar nicht
Chicmtt, aber doch einen andern guten Tropfen enthielt. Man trank, man sammelte
sich, und — da stand der Prometheus.

Man sah eine nackte männliche Gestalt von den derben und unedel» Formen
eines norddeutschen Packknechts. Sie schritt in rhythmischer Bewegung, die Hände
verlangend ausgestreckt, dem Vordergründe zu. I« der einen Hand trug sie eine
Fackel, deren Flamme so sehr stilisiert war, daß nur noch die rote Farbe an Feuer
erinnerte. Die Augen waren verzückt in die Ferne gerichtet, der Mund war zu
einem überirdischen Lache« geöffnet. Am Boden niedergeschmettert lagen ein nackter
Mann und ein nacktes Weib, über die der Mann mit der Fackel hinwegschritt,
indem er die Fran ins Gesicht trat und dem Manne die Ferse auf den Nacken
setzte. Zwischen den Felsblöcken, die umherlagen, und den exotischen Blumen, die
aus dem Grase wuchsen, und die bisher uoch unentdeckten botanischen Gattungen
angehörten, sah man etwas, was wie Menschenarme und Menschenbeine aussah, und
was sich verschwindend in die dunkle Ferne fortsetzte. Den Hintergrund bildeten
graue Ballen, die Wolken oder much Wollsäcke darstellen konnten, und ein roter
Streifen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Präriebraude hatte.

(Fortsetzung folgt)




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[0578] Herrenmenschen Das Fischerhaus hatte eine lange Reihe von Jahren dein alten David Locken gehört, bis dieser eines Dezembertags vom Eise nicht nach Hause gekommen war. War er in ein Loch im Eise geraten, war er mit einer Scholle abgetrieben oder irgendwo sitzen geblieben und erfroren, niemand hat es erfahren. Dann war die alte Mutter Locken zu ihren Kindern gezogen, die in einem ähnlichen Hause auf der entgegengesetzten Seite des Dorfes in der Nähe des Badestrandes wohnten, und so war das Haus leer geblieben. Zumeist darum, weil das Gerede ging, der alte Locken, der eiuer der Frommen im Dorfe gewesen war, sitze an jedem Subatä- nbend, wenn der Feiertag angegangen war, auf seiner Bettstelle und lese in der Bibel. Alte Frauen versicherten auf ihre Seligkeit, sie hätten ihn mit seiner alten zittrigen Stimme singen hören. Eines Tages war Staffelsteiger ans seiner Snche nach Erdgeruch, Birken und Sumpflöchern nach Tapnicken gekommen und hatte dus Haus gemietet. Aber er fühlte sich einsam und wußte sich, da er hervorragend unpraktisch war, in vielen Dingen allein nicht zu helfen. Und so nahm er das nächste Jahr die beiden Siamesen, Schwechting und Pogge, mit und machte sie zu Teilhabern seines Kontrakts. Kaum waren diese eingezogen, so stellten sie das unterste zu oberst, trieben Allotria und bauten das ganze Haus nach ihrem Ge¬ schmack um. Es war toll. Sie hatten vor nichts Respekt, weder vor Böcklin noch vor seinen, Staffelsteigers, tiefsinnigen mystisch-impressionistischen Ideen. Aber man konnte ja diesen beiden Eulenspiegelu nicht böse sein, und so begnügte sich Staffelsteiger damit, die Würde seines Standpunkts stillschweigend zu wahren und ihre Neckereien mit wohlwollender Überlegenheit zu ertragen. In diesen Raum traten also die fünf Herren, deren Bekanntschaft wir eben gemacht haben, ein, gefolgt von Petereit und Burpel, die die Kiste trugen und sie unter eindringlichen Beschwörungsformeln Pogges mit äußerster Vorsicht nieder¬ setzten und öffneten. Währenddessen hatte Doktor Ramborn erstaunt und belustigt, und indem er die Spitzen und Bosheiten wohl verstand, die in den Bildnereicu lagen, alles angesehen, hatte die Schöpfer dieser Wunderwerke sowie die Künstler- kolonie in Tapnicken und alles, was damit zusammenhing, gerühmt, und Herr Groppoff hatte als Chef von Tapnicken seinen Anteil Lob mit Würde entgegen- genommen. Jetzt setzte man sich an den Tisch und stellte eine Staffelei in das rechte Licht. Schwechting holte etliche seiner phantastischen Trinkgefäße herbei und stellte eine italienische rohrumsponnene Bentelflasche auf den Tisch, die zwar nicht Chicmtt, aber doch einen andern guten Tropfen enthielt. Man trank, man sammelte sich, und — da stand der Prometheus. Man sah eine nackte männliche Gestalt von den derben und unedel» Formen eines norddeutschen Packknechts. Sie schritt in rhythmischer Bewegung, die Hände verlangend ausgestreckt, dem Vordergründe zu. I« der einen Hand trug sie eine Fackel, deren Flamme so sehr stilisiert war, daß nur noch die rote Farbe an Feuer erinnerte. Die Augen waren verzückt in die Ferne gerichtet, der Mund war zu einem überirdischen Lache« geöffnet. Am Boden niedergeschmettert lagen ein nackter Mann und ein nacktes Weib, über die der Mann mit der Fackel hinwegschritt, indem er die Fran ins Gesicht trat und dem Manne die Ferse auf den Nacken setzte. Zwischen den Felsblöcken, die umherlagen, und den exotischen Blumen, die aus dem Grase wuchsen, und die bisher uoch unentdeckten botanischen Gattungen angehörten, sah man etwas, was wie Menschenarme und Menschenbeine aussah, und was sich verschwindend in die dunkle Ferne fortsetzte. Den Hintergrund bildeten graue Ballen, die Wolken oder much Wollsäcke darstellen konnten, und ein roter Streifen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Präriebraude hatte. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/578>, abgerufen am 22.12.2024.