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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Herrenmenschen

Oberkontrolleur und ein Zahnarzt mit ihren zahlreichen Familien unter den Bade¬
gästen. Wenn aber Baron von Bordeaux, der auf einem Sitze sechs Flaschen Rot¬
wein austrank, aus Bernauken zur Jagd herüberkam, und der Herr Amtshaupt¬
mann hatte gute Laune, und der Herr Postverwalter hatte Geld, so ging es im
Kurhause so hoch her, wie nur irgendwo anders in der Welt, wo man sich seines
Lebens freut. Promcnadenkonzert gab es in Tapnicken allerdings noch nicht, aber
Nachmittags zwischen fünf und sechs Uhr versammelte man sich bei gutem Wetter
am Strande oder im Kurgarten, um eine Art Lästerallee zu bilden und zu be¬
sprechen, wer die angekommnen Fremden Wohl sein, und wo sie wohnen möchten.

Die Bemerkung über die unmoderne Natur hatte Hans Schwechting auf seine
beiden Kunstgenossen gemünzt, namentlich auf de" modernen Künstler mit dem
Hciarschopfe, der in der Welt nichts als Farbe und Stimmung sah und jedes Bild
verachtete, das sich unterstand, etwas vorstellen zu wollen. Aber dieser hatte es
längst aufgegeben, auf die Anzapfungeu Schwechtings zu reagieren. Statt seiner
antwortete Pogge, indem er betrachtete, was er eben in sein Skizzenbuch gezeichnet
hatte: Rilljohn jut, Kopprechnen schwach.

Jetzt sah sich Schwechting um und bemerkte, daß Pogge zeichnete. Es war
das Konterfei Schwechtings, mit wenigen äußerst treffsichern Linien aufs Papier ge¬
bracht. Der Schwechting im Skizzenbuche hatte eiuen großen Kopf und kleine
Beine, eine gewaltige Nase, einen Schlapphut von "ungeahnter" Größe auf dem
Kopfe und Kinderhöschen an den Beinen, die nur ungenügend zugeknöpft waren,
und stellte Bäume, Häuser und Männchen aus der Spielsachenschachtel der Reihe
nach auf eine schwungvoll gezeichnete Linie. Schwechting erkannte ans den verstohlen
auf ihn gerichteten Blicken, daß Pogge etwas gegen ihn im Schilde führe, und sagte
im Ton eines Lehrers, der eiuen Schüler abfaßt: Gib mal her, mein Sohn.

Pogge reichte das Buch ohne weiteres hin, und Schwechting lehnte sich in
seinem Stuhle zurück, betrachtete das Opus mit Wohlgefallen und sagte: Und du
sollst in Zeichnen und Niedertracht Eins mit Eichenlaub bekommen, mein Sohn.
Weiß Gott, zeichnen kann der Mensch. Schade, daß er unter die Bürstenbinder
gegangen ist und seine Bilder mit der Wichsbürste malt.

Verstehst du nicht, Ranke, erwiderte Pogge. Die wahre Kunst ist struppig,
sie ist ein Naturkind, das nie das Wort Pomade gehört hat. Aber deine Muse,
alter Freund, ist eine höhere Tochter mit der Häkelnadel in der Hand und einem
bleistiftsvitzen Gesichtserker in der Physiognomie.

Darf ich auch einmal sehen? fragte Herr Groppoff.

Schwechting reichte ihm das Buch dar.

Der Herr Amtshauptmann besah die Karikatur aufmerksam. Daß damit
Schwechting dargestellt sein sollte, erkannte er allerdings, aber er verstand nicht
den Sinn der Zeichnung.

nett, sagte er, sehr nett, aber doch auch sehr boshaft. Ich würde mir das
nicht gefallen lassen, Herr Schwechting.

Lieber Gott, erwiderte Schwechting, was soll ich dabei tun? Jeder Mensch
hat nun einmal sein Laster. Wenn ich Pogge den Bleistift wegnähme, so versiele
er ins graue Elend und finge an zu brüten wie Staffelsteiger, der einmal wieder
das Morgenrot des künftigen Tages nicht finden kann.

Man muß Augen dazu haben, sagte Staffelsteiger, man muß Augen dazu
haben, Augen der Seele. ^

Und die hat Schwechting nicht, fuhr Pogge fort, sondern nur seinen Farben¬
kasten und seine akademische Brille. Wollen Sie mirs glauben, Herr Amtshaupt¬
mann, daß dieser alte Knabe noch immer ein Düsseldorfer Jüngling ist, der noch
immer nach der Verkörperung seiner Ideale sucht?

Ist nicht nötig zu suchen, antwortete Schwechting. Seht euch um. Oder
wartet bis zum Herbst, da könnt ihr hier Farben sehen, wie sie in der ganzen
Welt nicht wieder vorkommen.


Herrenmenschen

Oberkontrolleur und ein Zahnarzt mit ihren zahlreichen Familien unter den Bade¬
gästen. Wenn aber Baron von Bordeaux, der auf einem Sitze sechs Flaschen Rot¬
wein austrank, aus Bernauken zur Jagd herüberkam, und der Herr Amtshaupt¬
mann hatte gute Laune, und der Herr Postverwalter hatte Geld, so ging es im
Kurhause so hoch her, wie nur irgendwo anders in der Welt, wo man sich seines
Lebens freut. Promcnadenkonzert gab es in Tapnicken allerdings noch nicht, aber
Nachmittags zwischen fünf und sechs Uhr versammelte man sich bei gutem Wetter
am Strande oder im Kurgarten, um eine Art Lästerallee zu bilden und zu be¬
sprechen, wer die angekommnen Fremden Wohl sein, und wo sie wohnen möchten.

Die Bemerkung über die unmoderne Natur hatte Hans Schwechting auf seine
beiden Kunstgenossen gemünzt, namentlich auf de« modernen Künstler mit dem
Hciarschopfe, der in der Welt nichts als Farbe und Stimmung sah und jedes Bild
verachtete, das sich unterstand, etwas vorstellen zu wollen. Aber dieser hatte es
längst aufgegeben, auf die Anzapfungeu Schwechtings zu reagieren. Statt seiner
antwortete Pogge, indem er betrachtete, was er eben in sein Skizzenbuch gezeichnet
hatte: Rilljohn jut, Kopprechnen schwach.

Jetzt sah sich Schwechting um und bemerkte, daß Pogge zeichnete. Es war
das Konterfei Schwechtings, mit wenigen äußerst treffsichern Linien aufs Papier ge¬
bracht. Der Schwechting im Skizzenbuche hatte eiuen großen Kopf und kleine
Beine, eine gewaltige Nase, einen Schlapphut von „ungeahnter" Größe auf dem
Kopfe und Kinderhöschen an den Beinen, die nur ungenügend zugeknöpft waren,
und stellte Bäume, Häuser und Männchen aus der Spielsachenschachtel der Reihe
nach auf eine schwungvoll gezeichnete Linie. Schwechting erkannte ans den verstohlen
auf ihn gerichteten Blicken, daß Pogge etwas gegen ihn im Schilde führe, und sagte
im Ton eines Lehrers, der eiuen Schüler abfaßt: Gib mal her, mein Sohn.

Pogge reichte das Buch ohne weiteres hin, und Schwechting lehnte sich in
seinem Stuhle zurück, betrachtete das Opus mit Wohlgefallen und sagte: Und du
sollst in Zeichnen und Niedertracht Eins mit Eichenlaub bekommen, mein Sohn.
Weiß Gott, zeichnen kann der Mensch. Schade, daß er unter die Bürstenbinder
gegangen ist und seine Bilder mit der Wichsbürste malt.

Verstehst du nicht, Ranke, erwiderte Pogge. Die wahre Kunst ist struppig,
sie ist ein Naturkind, das nie das Wort Pomade gehört hat. Aber deine Muse,
alter Freund, ist eine höhere Tochter mit der Häkelnadel in der Hand und einem
bleistiftsvitzen Gesichtserker in der Physiognomie.

Darf ich auch einmal sehen? fragte Herr Groppoff.

Schwechting reichte ihm das Buch dar.

Der Herr Amtshauptmann besah die Karikatur aufmerksam. Daß damit
Schwechting dargestellt sein sollte, erkannte er allerdings, aber er verstand nicht
den Sinn der Zeichnung.

nett, sagte er, sehr nett, aber doch auch sehr boshaft. Ich würde mir das
nicht gefallen lassen, Herr Schwechting.

Lieber Gott, erwiderte Schwechting, was soll ich dabei tun? Jeder Mensch
hat nun einmal sein Laster. Wenn ich Pogge den Bleistift wegnähme, so versiele
er ins graue Elend und finge an zu brüten wie Staffelsteiger, der einmal wieder
das Morgenrot des künftigen Tages nicht finden kann.

Man muß Augen dazu haben, sagte Staffelsteiger, man muß Augen dazu
haben, Augen der Seele. ^

Und die hat Schwechting nicht, fuhr Pogge fort, sondern nur seinen Farben¬
kasten und seine akademische Brille. Wollen Sie mirs glauben, Herr Amtshaupt¬
mann, daß dieser alte Knabe noch immer ein Düsseldorfer Jüngling ist, der noch
immer nach der Verkörperung seiner Ideale sucht?

Ist nicht nötig zu suchen, antwortete Schwechting. Seht euch um. Oder
wartet bis zum Herbst, da könnt ihr hier Farben sehen, wie sie in der ganzen
Welt nicht wieder vorkommen.


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[0574] Herrenmenschen Oberkontrolleur und ein Zahnarzt mit ihren zahlreichen Familien unter den Bade¬ gästen. Wenn aber Baron von Bordeaux, der auf einem Sitze sechs Flaschen Rot¬ wein austrank, aus Bernauken zur Jagd herüberkam, und der Herr Amtshaupt¬ mann hatte gute Laune, und der Herr Postverwalter hatte Geld, so ging es im Kurhause so hoch her, wie nur irgendwo anders in der Welt, wo man sich seines Lebens freut. Promcnadenkonzert gab es in Tapnicken allerdings noch nicht, aber Nachmittags zwischen fünf und sechs Uhr versammelte man sich bei gutem Wetter am Strande oder im Kurgarten, um eine Art Lästerallee zu bilden und zu be¬ sprechen, wer die angekommnen Fremden Wohl sein, und wo sie wohnen möchten. Die Bemerkung über die unmoderne Natur hatte Hans Schwechting auf seine beiden Kunstgenossen gemünzt, namentlich auf de« modernen Künstler mit dem Hciarschopfe, der in der Welt nichts als Farbe und Stimmung sah und jedes Bild verachtete, das sich unterstand, etwas vorstellen zu wollen. Aber dieser hatte es längst aufgegeben, auf die Anzapfungeu Schwechtings zu reagieren. Statt seiner antwortete Pogge, indem er betrachtete, was er eben in sein Skizzenbuch gezeichnet hatte: Rilljohn jut, Kopprechnen schwach. Jetzt sah sich Schwechting um und bemerkte, daß Pogge zeichnete. Es war das Konterfei Schwechtings, mit wenigen äußerst treffsichern Linien aufs Papier ge¬ bracht. Der Schwechting im Skizzenbuche hatte eiuen großen Kopf und kleine Beine, eine gewaltige Nase, einen Schlapphut von „ungeahnter" Größe auf dem Kopfe und Kinderhöschen an den Beinen, die nur ungenügend zugeknöpft waren, und stellte Bäume, Häuser und Männchen aus der Spielsachenschachtel der Reihe nach auf eine schwungvoll gezeichnete Linie. Schwechting erkannte ans den verstohlen auf ihn gerichteten Blicken, daß Pogge etwas gegen ihn im Schilde führe, und sagte im Ton eines Lehrers, der eiuen Schüler abfaßt: Gib mal her, mein Sohn. Pogge reichte das Buch ohne weiteres hin, und Schwechting lehnte sich in seinem Stuhle zurück, betrachtete das Opus mit Wohlgefallen und sagte: Und du sollst in Zeichnen und Niedertracht Eins mit Eichenlaub bekommen, mein Sohn. Weiß Gott, zeichnen kann der Mensch. Schade, daß er unter die Bürstenbinder gegangen ist und seine Bilder mit der Wichsbürste malt. Verstehst du nicht, Ranke, erwiderte Pogge. Die wahre Kunst ist struppig, sie ist ein Naturkind, das nie das Wort Pomade gehört hat. Aber deine Muse, alter Freund, ist eine höhere Tochter mit der Häkelnadel in der Hand und einem bleistiftsvitzen Gesichtserker in der Physiognomie. Darf ich auch einmal sehen? fragte Herr Groppoff. Schwechting reichte ihm das Buch dar. Der Herr Amtshauptmann besah die Karikatur aufmerksam. Daß damit Schwechting dargestellt sein sollte, erkannte er allerdings, aber er verstand nicht den Sinn der Zeichnung. nett, sagte er, sehr nett, aber doch auch sehr boshaft. Ich würde mir das nicht gefallen lassen, Herr Schwechting. Lieber Gott, erwiderte Schwechting, was soll ich dabei tun? Jeder Mensch hat nun einmal sein Laster. Wenn ich Pogge den Bleistift wegnähme, so versiele er ins graue Elend und finge an zu brüten wie Staffelsteiger, der einmal wieder das Morgenrot des künftigen Tages nicht finden kann. Man muß Augen dazu haben, sagte Staffelsteiger, man muß Augen dazu haben, Augen der Seele. ^ Und die hat Schwechting nicht, fuhr Pogge fort, sondern nur seinen Farben¬ kasten und seine akademische Brille. Wollen Sie mirs glauben, Herr Amtshaupt¬ mann, daß dieser alte Knabe noch immer ein Düsseldorfer Jüngling ist, der noch immer nach der Verkörperung seiner Ideale sucht? Ist nicht nötig zu suchen, antwortete Schwechting. Seht euch um. Oder wartet bis zum Herbst, da könnt ihr hier Farben sehen, wie sie in der ganzen Welt nicht wieder vorkommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/574>, abgerufen am 22.12.2024.