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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Bilder aus dem deutsch - französischen Kriege

trägt die Stille des Dorfes den Charakter der Verdrossenheit: die Läden und die
Türen geschlossen, sodaß der Befehl zum Öffnen gegeben werden muß, die paar
Menschen, die sich herauswagen, mißtrauisch oder ängstlich. Man merkt es, sie
fühlen sich überflüssig, sind auf die Seite geschoben, sie schleichen herum, arbeiten
können sie nichts, zu essen haben sie nicht viel, und ob sie auch mir ihr Haupt in
der eignen Hütte niederlegen, hängt von der Menschlichkeit des Feindes ab. Im
Morgen- oder im Abendlicht, wo die schweren Schatten dieser müden Jahreszeit so
dunkel fielen, meinte ich manchmal, das Land grinse mich wie ein Totenkopf an,
in dessen hohle Angen die ewige Sonne, die von all diesen Leiden nichts weiß,
vergeblich hineinscheint. Ist das nicht der Tod, diese Häuser ohne Fenster, mit
zerborstnen, von der Feuersbrunst geschwärzten Mauern, den eingestürzten Tor¬
wegen, den gefällten Bäumen, für die keine fröhlichen Menschen mehr da sind, die
sie umschatten möchten? Das französische DorfcafL mit seinen drei zerscssenen
Rohrstühlen und seinem einbeinigen Tischchen und verschossenen Billard ist von
seinen lungernden Gästen verlassen, weder die einförmigen politischen Gespräche noch
die Dominosteine, deren Geklapper damit eine gewisse Ähnlichkeit hat, sind zu ver¬
nehmen. Sogar in den kleinen Städten herrscht am frühen Morgen Totenstille; sie
sind immer wenig belebt, jetzt machen sie fast den Eindruck, ausgestorben zu sein.

Niemand mag sich zum sorgenvollen Tagewerk erheben, nur der Soldat, hier
so recht der Herr, zieht singend zum Tore hinaus. Was kümmert ihn die Zer¬
störung in diesem Lande! Es sind Elementargewalten wie Blitz und Sturm, die
hier gehaust haben. Er zieht daran vorüber wie ein Wandrer an einem furcht¬
baren Bergsturz. Wohl ist es wahr, daß die gleichmäßige Fremdheit und schene
Wildheit so vieler tausend Menschen, an denen man gleichgiltig, wenn nicht feind¬
lich vorübergeht, und so vieler tausend Orte, an die sich keine andre Erinnerung
knüpft als: hier stand ich auf Vorposten, oder: hier ist mein Kamerad gefallen,
das Herz verarmt und gleichsam ausdorrt. Ein so starkes Gefühl der Fremdheit
reizt um so stärker zur Sehnsucht nach einem Lande, wo nichts und niemand un¬
befreundet ist. Hüte dich aber, diese Sehnsucht zu nähren! Suche lieber den
Menschen in deinem Feinde, so du seiner habhaft werden kannst, als daß du deine
Gedanken zuviel in die Heimat schweifen läßst. Heimweh ist ein bitteres und gefähr¬
liches Kraut. Hier ist dein und deiner Gedanken Platz!

Aus dem Frieden der Nacht erwacht man jeden Morgen neu zur Wirklichkeit
des Krieges. Wie gut, daß man in der Regel sofort viel zu viel zu tun hat, als
daß man den Träumen von Heimat und Heimkehr nachhängen könnte! Und wie
gut, daß die Morgenkühle so etwas Kräftigendes, fast Aufregendes in sich hat!
Der schwarze Kaffeesud, den man glühendheiß hinuntergießt, trägt von innen heraus
zur Ermunterung bei. Die Korporalschaft sammelt sich und eilt im Laufschritt zum
Ort des Abmarsches. Mur freut sich jeden Tag von neuem, ins Bataillon ein¬
zurücken, es ist doch ein imposantes Ganze, diese lange Front von tausend Mann
in sechs oder zwölf Gliedern. Eben noch voll Bewegung, Reden, Lachen, jetzt
still, daß man ein Blatt fallen hört, und in eine Linie gerichtet: Bild der Unter¬
ordnung von tausend selbständigen Menschen, und eben deshalb Bild der Ordnung
und der hohen Zweckmäßigkeit. Mit Musik hinaus aus dem fremden Dorf, und nun
"ohne Tritt," d. h. Riemen gelockert, Brotrest des Frühstücks gekaut, Zigarre
angezündet. Unser Marschieren ist in der ersten Stunde ein reines Wandern, und
da wir Deutsche sind, der Wanderpoesie trotz Waffenlärm nicht bar. Wie freuen
wir uns der Sonne und des Taues, wir schlürfen die frische Morgenluft, die uns
freudig entgegenweht. Was Schädels, daß man nicht an schönen Punkten verweilen,
die Blicke genießen kann, um so mehr sehen wir im Flug: die Welt ist neu, in
die wir hiueininarschieren, der Tag ist jung, und wir sind jung. Freilich führt
jeder Schritt, den wir vorwärts tun, von der Heimat weg. Denken wir nicht
daran, schauen wir vorwärts. Doch halt, noch einen Blick zurück, eiuen letzten auf
die Forts von Metz. Wie rötlich sie von ihren schöngeformten Hügeln herableuchten!


Bilder aus dem deutsch - französischen Kriege

trägt die Stille des Dorfes den Charakter der Verdrossenheit: die Läden und die
Türen geschlossen, sodaß der Befehl zum Öffnen gegeben werden muß, die paar
Menschen, die sich herauswagen, mißtrauisch oder ängstlich. Man merkt es, sie
fühlen sich überflüssig, sind auf die Seite geschoben, sie schleichen herum, arbeiten
können sie nichts, zu essen haben sie nicht viel, und ob sie auch mir ihr Haupt in
der eignen Hütte niederlegen, hängt von der Menschlichkeit des Feindes ab. Im
Morgen- oder im Abendlicht, wo die schweren Schatten dieser müden Jahreszeit so
dunkel fielen, meinte ich manchmal, das Land grinse mich wie ein Totenkopf an,
in dessen hohle Angen die ewige Sonne, die von all diesen Leiden nichts weiß,
vergeblich hineinscheint. Ist das nicht der Tod, diese Häuser ohne Fenster, mit
zerborstnen, von der Feuersbrunst geschwärzten Mauern, den eingestürzten Tor¬
wegen, den gefällten Bäumen, für die keine fröhlichen Menschen mehr da sind, die
sie umschatten möchten? Das französische DorfcafL mit seinen drei zerscssenen
Rohrstühlen und seinem einbeinigen Tischchen und verschossenen Billard ist von
seinen lungernden Gästen verlassen, weder die einförmigen politischen Gespräche noch
die Dominosteine, deren Geklapper damit eine gewisse Ähnlichkeit hat, sind zu ver¬
nehmen. Sogar in den kleinen Städten herrscht am frühen Morgen Totenstille; sie
sind immer wenig belebt, jetzt machen sie fast den Eindruck, ausgestorben zu sein.

Niemand mag sich zum sorgenvollen Tagewerk erheben, nur der Soldat, hier
so recht der Herr, zieht singend zum Tore hinaus. Was kümmert ihn die Zer¬
störung in diesem Lande! Es sind Elementargewalten wie Blitz und Sturm, die
hier gehaust haben. Er zieht daran vorüber wie ein Wandrer an einem furcht¬
baren Bergsturz. Wohl ist es wahr, daß die gleichmäßige Fremdheit und schene
Wildheit so vieler tausend Menschen, an denen man gleichgiltig, wenn nicht feind¬
lich vorübergeht, und so vieler tausend Orte, an die sich keine andre Erinnerung
knüpft als: hier stand ich auf Vorposten, oder: hier ist mein Kamerad gefallen,
das Herz verarmt und gleichsam ausdorrt. Ein so starkes Gefühl der Fremdheit
reizt um so stärker zur Sehnsucht nach einem Lande, wo nichts und niemand un¬
befreundet ist. Hüte dich aber, diese Sehnsucht zu nähren! Suche lieber den
Menschen in deinem Feinde, so du seiner habhaft werden kannst, als daß du deine
Gedanken zuviel in die Heimat schweifen läßst. Heimweh ist ein bitteres und gefähr¬
liches Kraut. Hier ist dein und deiner Gedanken Platz!

Aus dem Frieden der Nacht erwacht man jeden Morgen neu zur Wirklichkeit
des Krieges. Wie gut, daß man in der Regel sofort viel zu viel zu tun hat, als
daß man den Träumen von Heimat und Heimkehr nachhängen könnte! Und wie
gut, daß die Morgenkühle so etwas Kräftigendes, fast Aufregendes in sich hat!
Der schwarze Kaffeesud, den man glühendheiß hinuntergießt, trägt von innen heraus
zur Ermunterung bei. Die Korporalschaft sammelt sich und eilt im Laufschritt zum
Ort des Abmarsches. Mur freut sich jeden Tag von neuem, ins Bataillon ein¬
zurücken, es ist doch ein imposantes Ganze, diese lange Front von tausend Mann
in sechs oder zwölf Gliedern. Eben noch voll Bewegung, Reden, Lachen, jetzt
still, daß man ein Blatt fallen hört, und in eine Linie gerichtet: Bild der Unter¬
ordnung von tausend selbständigen Menschen, und eben deshalb Bild der Ordnung
und der hohen Zweckmäßigkeit. Mit Musik hinaus aus dem fremden Dorf, und nun
„ohne Tritt," d. h. Riemen gelockert, Brotrest des Frühstücks gekaut, Zigarre
angezündet. Unser Marschieren ist in der ersten Stunde ein reines Wandern, und
da wir Deutsche sind, der Wanderpoesie trotz Waffenlärm nicht bar. Wie freuen
wir uns der Sonne und des Taues, wir schlürfen die frische Morgenluft, die uns
freudig entgegenweht. Was Schädels, daß man nicht an schönen Punkten verweilen,
die Blicke genießen kann, um so mehr sehen wir im Flug: die Welt ist neu, in
die wir hiueininarschieren, der Tag ist jung, und wir sind jung. Freilich führt
jeder Schritt, den wir vorwärts tun, von der Heimat weg. Denken wir nicht
daran, schauen wir vorwärts. Doch halt, noch einen Blick zurück, eiuen letzten auf
die Forts von Metz. Wie rötlich sie von ihren schöngeformten Hügeln herableuchten!


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[0055] Bilder aus dem deutsch - französischen Kriege trägt die Stille des Dorfes den Charakter der Verdrossenheit: die Läden und die Türen geschlossen, sodaß der Befehl zum Öffnen gegeben werden muß, die paar Menschen, die sich herauswagen, mißtrauisch oder ängstlich. Man merkt es, sie fühlen sich überflüssig, sind auf die Seite geschoben, sie schleichen herum, arbeiten können sie nichts, zu essen haben sie nicht viel, und ob sie auch mir ihr Haupt in der eignen Hütte niederlegen, hängt von der Menschlichkeit des Feindes ab. Im Morgen- oder im Abendlicht, wo die schweren Schatten dieser müden Jahreszeit so dunkel fielen, meinte ich manchmal, das Land grinse mich wie ein Totenkopf an, in dessen hohle Angen die ewige Sonne, die von all diesen Leiden nichts weiß, vergeblich hineinscheint. Ist das nicht der Tod, diese Häuser ohne Fenster, mit zerborstnen, von der Feuersbrunst geschwärzten Mauern, den eingestürzten Tor¬ wegen, den gefällten Bäumen, für die keine fröhlichen Menschen mehr da sind, die sie umschatten möchten? Das französische DorfcafL mit seinen drei zerscssenen Rohrstühlen und seinem einbeinigen Tischchen und verschossenen Billard ist von seinen lungernden Gästen verlassen, weder die einförmigen politischen Gespräche noch die Dominosteine, deren Geklapper damit eine gewisse Ähnlichkeit hat, sind zu ver¬ nehmen. Sogar in den kleinen Städten herrscht am frühen Morgen Totenstille; sie sind immer wenig belebt, jetzt machen sie fast den Eindruck, ausgestorben zu sein. Niemand mag sich zum sorgenvollen Tagewerk erheben, nur der Soldat, hier so recht der Herr, zieht singend zum Tore hinaus. Was kümmert ihn die Zer¬ störung in diesem Lande! Es sind Elementargewalten wie Blitz und Sturm, die hier gehaust haben. Er zieht daran vorüber wie ein Wandrer an einem furcht¬ baren Bergsturz. Wohl ist es wahr, daß die gleichmäßige Fremdheit und schene Wildheit so vieler tausend Menschen, an denen man gleichgiltig, wenn nicht feind¬ lich vorübergeht, und so vieler tausend Orte, an die sich keine andre Erinnerung knüpft als: hier stand ich auf Vorposten, oder: hier ist mein Kamerad gefallen, das Herz verarmt und gleichsam ausdorrt. Ein so starkes Gefühl der Fremdheit reizt um so stärker zur Sehnsucht nach einem Lande, wo nichts und niemand un¬ befreundet ist. Hüte dich aber, diese Sehnsucht zu nähren! Suche lieber den Menschen in deinem Feinde, so du seiner habhaft werden kannst, als daß du deine Gedanken zuviel in die Heimat schweifen läßst. Heimweh ist ein bitteres und gefähr¬ liches Kraut. Hier ist dein und deiner Gedanken Platz! Aus dem Frieden der Nacht erwacht man jeden Morgen neu zur Wirklichkeit des Krieges. Wie gut, daß man in der Regel sofort viel zu viel zu tun hat, als daß man den Träumen von Heimat und Heimkehr nachhängen könnte! Und wie gut, daß die Morgenkühle so etwas Kräftigendes, fast Aufregendes in sich hat! Der schwarze Kaffeesud, den man glühendheiß hinuntergießt, trägt von innen heraus zur Ermunterung bei. Die Korporalschaft sammelt sich und eilt im Laufschritt zum Ort des Abmarsches. Mur freut sich jeden Tag von neuem, ins Bataillon ein¬ zurücken, es ist doch ein imposantes Ganze, diese lange Front von tausend Mann in sechs oder zwölf Gliedern. Eben noch voll Bewegung, Reden, Lachen, jetzt still, daß man ein Blatt fallen hört, und in eine Linie gerichtet: Bild der Unter¬ ordnung von tausend selbständigen Menschen, und eben deshalb Bild der Ordnung und der hohen Zweckmäßigkeit. Mit Musik hinaus aus dem fremden Dorf, und nun „ohne Tritt," d. h. Riemen gelockert, Brotrest des Frühstücks gekaut, Zigarre angezündet. Unser Marschieren ist in der ersten Stunde ein reines Wandern, und da wir Deutsche sind, der Wanderpoesie trotz Waffenlärm nicht bar. Wie freuen wir uns der Sonne und des Taues, wir schlürfen die frische Morgenluft, die uns freudig entgegenweht. Was Schädels, daß man nicht an schönen Punkten verweilen, die Blicke genießen kann, um so mehr sehen wir im Flug: die Welt ist neu, in die wir hiueininarschieren, der Tag ist jung, und wir sind jung. Freilich führt jeder Schritt, den wir vorwärts tun, von der Heimat weg. Denken wir nicht daran, schauen wir vorwärts. Doch halt, noch einen Blick zurück, eiuen letzten auf die Forts von Metz. Wie rötlich sie von ihren schöngeformten Hügeln herableuchten!

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/55>, abgerufen am 22.12.2024.