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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Goethes Mutter in ihren Briefen. Schon zu Goethes Lebzeiten ver¬
öffentlichte man ein Schreiben seiner Mutter, und nach seinem Tode mehrte sich
mit dem Wachsen der Goethephilologie das Interesse für die Frau Rat zusehends.
Fast jedes Jahrzehnt brachte mindestens eine Briefpublikation, die achtziger Jahre
vornehmlich zelligem zwei besonders wertvolle Sammlungen (Schriften der Goethe-
Gesellschaft Band 1 und 4). Jetzt ist uns auch endlich eine Gesamtausgabe ge¬
schenkt worden, die das liebe, vertraute Bild von Mutter Aja deutlicher vor
unfern Augen erstehn läßt, als es nur irgend ein Biograph zu zeichnen vermag.
Professor Dr. Albert Köster in Leipzig hat in zwei Bänden alle erreichbaren
Briefe nach sorgfältigster Textreinigung herausgegeben. Es kam ihm offenbar
darauf an, eine Gabe für das ganze deutsche Volk zu schaffen, denn er hat sich
alles gelehrten Beiwerks, das den Nichtfachmann oft stört, enthalten. In der
knappen Einleitung, die den Köster eignen feinen Geschmack verrät, werden die
Briefschreiberin, ihr Verhältnis zu den Adressaten und die Briefe selbst treffend
charakterisiert. Der zweite Band enthält ein Inhaltsverzeichnis, das in dankens¬
werter Weise bei jedem einzelnen Schreiben den Aufbewahrungsort des Originals,
wenn er zu ermitteln war, angibt. In den sich anschließenden Anmerkungen hat
sich der Herausgeber, um das Ausschreiben früherer Kommentare zu vermeiden, auf
die nötigsten Erläuterungen beschränkt, hier und da freilich auch die Noten andrer
ergänzt und berichtigt. Die dritte Beigabe ist ein Namenregister mit erklärenden
Zusätzen, eine Art eataloZuö rg,isorm6. Die seltsame, überaus charakteristische
"Rechtschreibung" der Frau Rat ist beibehalten, nur wo die Handschrift nicht ge¬
funden wurde, mußte Köster die modernisierte Fassung, das Werk des ersten Heraus¬
gebers, wiedergeben.

Die orthographischen Kenntnisse der Frauen waren im achtzehnten Jahr¬
hundert bekanntlich fast durchweg mittelmäßig, und Goethes Mutter bildet in
dieser Hinsicht keine Ausnahme. Sie äußerte sich teils aus diesem Grunde, teils
aus einer gewissen Bequemlichkeit nur ungern schriftlich, das mündliche Plaudern
war ihr lieber: "Wer einen Brief von mir erhält -- kan sichs als ein großes
geraden Zeichen anrechnen denn Unbehaglicheres weiß ich vor mich nichts -- als
Briefe schreiben! drum verdenke ich es keinem Menschen wenn er nicht schreibt --
Aber schadlos; halte ich alle die, die zu mir kommen, durch meine Zunge --."
Den schreibfaulen Enkel entschuldigt sie bei dem Vater mit den Worten: "Er hat
vielleicht eine Ader von der Großmutter -- Schreiben -- Daumen Schrauben
es ist bey mir einerlei) --." Ihre eignen Episteln beurteilt sie sehr bescheiden;
als sie der Herzogin Anna Amalia ans überströmenden Herzen eine wundervoll
lebendige Schilderung der Überraschung entworfen hat, die ihr durch den uner¬
warteten Besuch ihres Sohnes und seines fürstlichen Freundes zuteil geworden
war, bittet sie um Vergebung wegen des "kalten" Briefes, und seitdem sie die
"große Resingnation keinen Tabcick mehr zu schnupfen" glücklich ausgeführt, nennt
sie ihre Briefe "gantz erbärmlich höltzern." Nach einiger Zeit muß sie sich das
liebgewonnene Laster wieder angewöhnen, weil sie von ihm eine gute Einwirkung
auf das Flüssigerwerden ihres Stils erwartet, und meint, zurückschauend, "ohne
ein prißgen Taback waren meine Briefe wie Stroh -- wie Frachtbriefe -- aber
Jetz! das geht wie geschmiert." Bald darauf lesen wir am Schluß eines Schreibens
das naive Selbstlob: "das ist doch wieder ein gantz manierlicher Brief."

Hätte sie geahnt, welchen Reiz ihre Briefe noch im zwanzigsten Jahrhundert
auf die Menschen ausüben würden! Wir lesen sie mit Entzücken, und zwar nicht
nur, weil sie von Goethes Mutter stammen, sondern um ihrer selbst willen, und
weiden uns an dem immer regen Geist der Schreiberin, ihrem unverfälschten
Wesen und ihrer Herzensgüte, ihrem Gottvertrauen und Mut in Gefahr und vor
allem an ihrem herrlichen unversiegbarer Frohsinn und immer zufriedner Gemüt.
Alle, die schon Briefe Mutter Ajas kennen, werden mit Verlangen nach der
Gesamtausgabe greifen, um das Bild, das sie sich von der prächtigen Frau ge¬
macht haben, zu vervollständigen, jenen aber, die noch nichts von ihr gelesen haben,
wird das neu erschienene Werk eine Entdeckung sein.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Goethes Mutter in ihren Briefen. Schon zu Goethes Lebzeiten ver¬
öffentlichte man ein Schreiben seiner Mutter, und nach seinem Tode mehrte sich
mit dem Wachsen der Goethephilologie das Interesse für die Frau Rat zusehends.
Fast jedes Jahrzehnt brachte mindestens eine Briefpublikation, die achtziger Jahre
vornehmlich zelligem zwei besonders wertvolle Sammlungen (Schriften der Goethe-
Gesellschaft Band 1 und 4). Jetzt ist uns auch endlich eine Gesamtausgabe ge¬
schenkt worden, die das liebe, vertraute Bild von Mutter Aja deutlicher vor
unfern Augen erstehn läßt, als es nur irgend ein Biograph zu zeichnen vermag.
Professor Dr. Albert Köster in Leipzig hat in zwei Bänden alle erreichbaren
Briefe nach sorgfältigster Textreinigung herausgegeben. Es kam ihm offenbar
darauf an, eine Gabe für das ganze deutsche Volk zu schaffen, denn er hat sich
alles gelehrten Beiwerks, das den Nichtfachmann oft stört, enthalten. In der
knappen Einleitung, die den Köster eignen feinen Geschmack verrät, werden die
Briefschreiberin, ihr Verhältnis zu den Adressaten und die Briefe selbst treffend
charakterisiert. Der zweite Band enthält ein Inhaltsverzeichnis, das in dankens¬
werter Weise bei jedem einzelnen Schreiben den Aufbewahrungsort des Originals,
wenn er zu ermitteln war, angibt. In den sich anschließenden Anmerkungen hat
sich der Herausgeber, um das Ausschreiben früherer Kommentare zu vermeiden, auf
die nötigsten Erläuterungen beschränkt, hier und da freilich auch die Noten andrer
ergänzt und berichtigt. Die dritte Beigabe ist ein Namenregister mit erklärenden
Zusätzen, eine Art eataloZuö rg,isorm6. Die seltsame, überaus charakteristische
„Rechtschreibung" der Frau Rat ist beibehalten, nur wo die Handschrift nicht ge¬
funden wurde, mußte Köster die modernisierte Fassung, das Werk des ersten Heraus¬
gebers, wiedergeben.

Die orthographischen Kenntnisse der Frauen waren im achtzehnten Jahr¬
hundert bekanntlich fast durchweg mittelmäßig, und Goethes Mutter bildet in
dieser Hinsicht keine Ausnahme. Sie äußerte sich teils aus diesem Grunde, teils
aus einer gewissen Bequemlichkeit nur ungern schriftlich, das mündliche Plaudern
war ihr lieber: „Wer einen Brief von mir erhält — kan sichs als ein großes
geraden Zeichen anrechnen denn Unbehaglicheres weiß ich vor mich nichts — als
Briefe schreiben! drum verdenke ich es keinem Menschen wenn er nicht schreibt —
Aber schadlos; halte ich alle die, die zu mir kommen, durch meine Zunge —."
Den schreibfaulen Enkel entschuldigt sie bei dem Vater mit den Worten: „Er hat
vielleicht eine Ader von der Großmutter — Schreiben — Daumen Schrauben
es ist bey mir einerlei) —." Ihre eignen Episteln beurteilt sie sehr bescheiden;
als sie der Herzogin Anna Amalia ans überströmenden Herzen eine wundervoll
lebendige Schilderung der Überraschung entworfen hat, die ihr durch den uner¬
warteten Besuch ihres Sohnes und seines fürstlichen Freundes zuteil geworden
war, bittet sie um Vergebung wegen des „kalten" Briefes, und seitdem sie die
„große Resingnation keinen Tabcick mehr zu schnupfen" glücklich ausgeführt, nennt
sie ihre Briefe „gantz erbärmlich höltzern." Nach einiger Zeit muß sie sich das
liebgewonnene Laster wieder angewöhnen, weil sie von ihm eine gute Einwirkung
auf das Flüssigerwerden ihres Stils erwartet, und meint, zurückschauend, „ohne
ein prißgen Taback waren meine Briefe wie Stroh — wie Frachtbriefe — aber
Jetz! das geht wie geschmiert." Bald darauf lesen wir am Schluß eines Schreibens
das naive Selbstlob: „das ist doch wieder ein gantz manierlicher Brief."

Hätte sie geahnt, welchen Reiz ihre Briefe noch im zwanzigsten Jahrhundert
auf die Menschen ausüben würden! Wir lesen sie mit Entzücken, und zwar nicht
nur, weil sie von Goethes Mutter stammen, sondern um ihrer selbst willen, und
weiden uns an dem immer regen Geist der Schreiberin, ihrem unverfälschten
Wesen und ihrer Herzensgüte, ihrem Gottvertrauen und Mut in Gefahr und vor
allem an ihrem herrlichen unversiegbarer Frohsinn und immer zufriedner Gemüt.
Alle, die schon Briefe Mutter Ajas kennen, werden mit Verlangen nach der
Gesamtausgabe greifen, um das Bild, das sie sich von der prächtigen Frau ge¬
macht haben, zu vervollständigen, jenen aber, die noch nichts von ihr gelesen haben,
wird das neu erschienene Werk eine Entdeckung sein.


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[0474] Maßgebliches und Unmaßgebliches Goethes Mutter in ihren Briefen. Schon zu Goethes Lebzeiten ver¬ öffentlichte man ein Schreiben seiner Mutter, und nach seinem Tode mehrte sich mit dem Wachsen der Goethephilologie das Interesse für die Frau Rat zusehends. Fast jedes Jahrzehnt brachte mindestens eine Briefpublikation, die achtziger Jahre vornehmlich zelligem zwei besonders wertvolle Sammlungen (Schriften der Goethe- Gesellschaft Band 1 und 4). Jetzt ist uns auch endlich eine Gesamtausgabe ge¬ schenkt worden, die das liebe, vertraute Bild von Mutter Aja deutlicher vor unfern Augen erstehn läßt, als es nur irgend ein Biograph zu zeichnen vermag. Professor Dr. Albert Köster in Leipzig hat in zwei Bänden alle erreichbaren Briefe nach sorgfältigster Textreinigung herausgegeben. Es kam ihm offenbar darauf an, eine Gabe für das ganze deutsche Volk zu schaffen, denn er hat sich alles gelehrten Beiwerks, das den Nichtfachmann oft stört, enthalten. In der knappen Einleitung, die den Köster eignen feinen Geschmack verrät, werden die Briefschreiberin, ihr Verhältnis zu den Adressaten und die Briefe selbst treffend charakterisiert. Der zweite Band enthält ein Inhaltsverzeichnis, das in dankens¬ werter Weise bei jedem einzelnen Schreiben den Aufbewahrungsort des Originals, wenn er zu ermitteln war, angibt. In den sich anschließenden Anmerkungen hat sich der Herausgeber, um das Ausschreiben früherer Kommentare zu vermeiden, auf die nötigsten Erläuterungen beschränkt, hier und da freilich auch die Noten andrer ergänzt und berichtigt. Die dritte Beigabe ist ein Namenregister mit erklärenden Zusätzen, eine Art eataloZuö rg,isorm6. Die seltsame, überaus charakteristische „Rechtschreibung" der Frau Rat ist beibehalten, nur wo die Handschrift nicht ge¬ funden wurde, mußte Köster die modernisierte Fassung, das Werk des ersten Heraus¬ gebers, wiedergeben. Die orthographischen Kenntnisse der Frauen waren im achtzehnten Jahr¬ hundert bekanntlich fast durchweg mittelmäßig, und Goethes Mutter bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Sie äußerte sich teils aus diesem Grunde, teils aus einer gewissen Bequemlichkeit nur ungern schriftlich, das mündliche Plaudern war ihr lieber: „Wer einen Brief von mir erhält — kan sichs als ein großes geraden Zeichen anrechnen denn Unbehaglicheres weiß ich vor mich nichts — als Briefe schreiben! drum verdenke ich es keinem Menschen wenn er nicht schreibt — Aber schadlos; halte ich alle die, die zu mir kommen, durch meine Zunge —." Den schreibfaulen Enkel entschuldigt sie bei dem Vater mit den Worten: „Er hat vielleicht eine Ader von der Großmutter — Schreiben — Daumen Schrauben es ist bey mir einerlei) —." Ihre eignen Episteln beurteilt sie sehr bescheiden; als sie der Herzogin Anna Amalia ans überströmenden Herzen eine wundervoll lebendige Schilderung der Überraschung entworfen hat, die ihr durch den uner¬ warteten Besuch ihres Sohnes und seines fürstlichen Freundes zuteil geworden war, bittet sie um Vergebung wegen des „kalten" Briefes, und seitdem sie die „große Resingnation keinen Tabcick mehr zu schnupfen" glücklich ausgeführt, nennt sie ihre Briefe „gantz erbärmlich höltzern." Nach einiger Zeit muß sie sich das liebgewonnene Laster wieder angewöhnen, weil sie von ihm eine gute Einwirkung auf das Flüssigerwerden ihres Stils erwartet, und meint, zurückschauend, „ohne ein prißgen Taback waren meine Briefe wie Stroh — wie Frachtbriefe — aber Jetz! das geht wie geschmiert." Bald darauf lesen wir am Schluß eines Schreibens das naive Selbstlob: „das ist doch wieder ein gantz manierlicher Brief." Hätte sie geahnt, welchen Reiz ihre Briefe noch im zwanzigsten Jahrhundert auf die Menschen ausüben würden! Wir lesen sie mit Entzücken, und zwar nicht nur, weil sie von Goethes Mutter stammen, sondern um ihrer selbst willen, und weiden uns an dem immer regen Geist der Schreiberin, ihrem unverfälschten Wesen und ihrer Herzensgüte, ihrem Gottvertrauen und Mut in Gefahr und vor allem an ihrem herrlichen unversiegbarer Frohsinn und immer zufriedner Gemüt. Alle, die schon Briefe Mutter Ajas kennen, werden mit Verlangen nach der Gesamtausgabe greifen, um das Bild, das sie sich von der prächtigen Frau ge¬ macht haben, zu vervollständigen, jenen aber, die noch nichts von ihr gelesen haben, wird das neu erschienene Werk eine Entdeckung sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/474>, abgerufen am 23.07.2024.