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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die schönsten Stücke der Sammlung sind an Goethe und die Seinen ge¬
richtet; hier treibt die Mutterliebe ihre köstlichsten Blüten. Alles, was im fernen
Weimar vorgeht, lebt die Fran Rat mit; wenn sie nur den Namen ihres "Hcischel-
hanß" nennen hört, führt sie vor Freude auf, und jeder Tag, der ihr ein Schreiben
des Sohnes bringt, wird für sie zum Festtag; kommt er gar selbst, dann will die
Seligkeit kein Ende nehmen. Sie nimmt den lebhaftesten Anteil an seinen
Schöpfungen und sorgt für sein leibliches Wohl. Immer ist sie auf sein Bestes
bedacht. Wie zartfühlend zeigt sie sich, wenn es gilt, dem vielbeschäftigten Sohne
Gesuche seiner Frankfurter Mitbürger zu übermitteln, wie gern möchte sie ihm
1792 die Teilnahme an der Kampagne ersparen! Sie jubiliert, als er seine
Sehnsucht nach Italien stillen kann, und schreibt an Fritz von Stein, dessen
Mutter darüber anders dachte und Goethes Ausbleiben mit scheelen Augen ansah:
"Ich für meine Person gönne ihm gern die Freude und Seeligkeit in der er
jetzt lebt, bis auf den letzten Tropfen zu genießen, und in dieser glücklichen Con-
stellcition wird er Wohl Italien nie wiedersehen; ich Votire also aufs längere
Dortbleiben, vorausgesetzt, daß es mit Bewilligung des Herzogs geschieht." Die
gegen ihn erhabnen Vorwürfe, er sei in Italien kalt gegen seine Freunde geworden,
lehnt sie rundweg ab: "stellen Sie sich an seinen Platz -- in eine ganz neue
Welt versetzt, -- in eine Welt, wo er von Kindheit an mit ganzem Herzen und
ganzer Seele dran hing, und den Genuß, den er nun davon hat. Ein Hungriger,
der lange gefastet hat, wird an einer gutbesetzten Tafel, bis sein Hunger gestillt
ist weder an Vater noch Mutter, weder an Freund noch Geliebte, denken, und
Niemand wirds ihm verargen können." Keiner hat in diesem Punkte ein so
tiefes Verständnis für den Dichter bewiesen wie seine Mutter. Wie liebenswürdig
findet sie sich auch, so schwer es ihr werden mag, in Goethes Verhältnis zu
Christiane Vnlpius, als sie sieht, daß der Sohn dabei glücklich ist. Bald beginnt
eine Korrespondenz zwischen ihr und seinem "Liebgen," die immer lebhafter wird,
je näher sich die beiden Frauen kennen lernen. Auch der Goethes Bunde mit
Christiane entsprossene "Angst" erhält häufig ein liebevolles Schreiben von der
Großmutter. Selten wird der Ton, worin Briefe an Kinder gehalten werden
müssen, so gut getroffen wie hier. Nicht minder schön sind die Briefe an die
andern "Enckeleins," die Töchter der frühverstorbnen Cornelia Schlosser und deren
Stiefgeschwister. Ein hohes Glück empfand Frau Aja, als eine ihrer Enkelinnen, Luise
Nicolovius, sie zur Urgroßmutter machte. Wochenlang vorher müht sich die Fünfund-
sechzigjährige ab, die Spitzen für die Babywäsche zu klöppeln, in beständiger Furcht,
daß das Menschlein geboren würde, bevor sie ihre Arbeit beendet hätte. Mit frohem
Stolze rühmt sie nach allen Seiten ihre Tat, die sie ohne Brille ausgeführt hat,
und wie sie hervorhebt, "nicht etwa so urna laruw, nein, sondern ein Brabanter
Muster 3 Finger breit." Auf die Kunde von der Geburt des Urenkels stimmt sie
einen Jnbelhymnus an, dem keine ihrer zahlreichen Freudenexklaniationen gleicht.

Die Freunde und die Freundinnen ihres Wolfgang nennt sie auch ihre Söhne
und Töchter und schreibt ebenso mütterlich an sie wie an den "Häschelhcmß."
Der hohen Gönnerin Goethes, der Herzogin Anna Amalici, trat die Frau Rat
bekanntlich so nahe, daß beide neun Jahre lang Briefe wechselten. Wieland, der
ebenfalls zu ihren Korrespondenten gehörte und immer die größte Freude empfand,
wenn er eine "Epistola" aus Frankfurt erhielt, berichtet: "Wenn die Herzogin
Mutter einen Brief von Mutter Aja bekommen hat, so spricht sie nicht anders
davon, als ob ihr ein groß Glück widerfahren wäre, recht wie das Weib im
Evangelio, die ihre Nachbarinnen anruft, sich mit ihr zu freuen, daß sie ihren
Groschen funden habe." In den Briefen, die sie an Anna Amalias Hofdame,
Luise von Göchhausen, richtet, greift die Dichtermutter sogar zu Versen, die zwar
nicht fehlerfrei sind, aber von Poetischer Begabung zeugen. Nicht durchweg er¬
quicklich, jedoch ebenso interessant ist der briefliche Verkehr, den die Theaterfreundin
mit den Schauspielern Großmann und Unzelmann unterhielt.

Der Verleger Karl Ernst Poeschel in Leipzig hat Sorge getragen, daß der
edle Wein ans einem würdigen Pokal getrunken wird. Der Genuß ist um den


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Die schönsten Stücke der Sammlung sind an Goethe und die Seinen ge¬
richtet; hier treibt die Mutterliebe ihre köstlichsten Blüten. Alles, was im fernen
Weimar vorgeht, lebt die Fran Rat mit; wenn sie nur den Namen ihres „Hcischel-
hanß" nennen hört, führt sie vor Freude auf, und jeder Tag, der ihr ein Schreiben
des Sohnes bringt, wird für sie zum Festtag; kommt er gar selbst, dann will die
Seligkeit kein Ende nehmen. Sie nimmt den lebhaftesten Anteil an seinen
Schöpfungen und sorgt für sein leibliches Wohl. Immer ist sie auf sein Bestes
bedacht. Wie zartfühlend zeigt sie sich, wenn es gilt, dem vielbeschäftigten Sohne
Gesuche seiner Frankfurter Mitbürger zu übermitteln, wie gern möchte sie ihm
1792 die Teilnahme an der Kampagne ersparen! Sie jubiliert, als er seine
Sehnsucht nach Italien stillen kann, und schreibt an Fritz von Stein, dessen
Mutter darüber anders dachte und Goethes Ausbleiben mit scheelen Augen ansah:
„Ich für meine Person gönne ihm gern die Freude und Seeligkeit in der er
jetzt lebt, bis auf den letzten Tropfen zu genießen, und in dieser glücklichen Con-
stellcition wird er Wohl Italien nie wiedersehen; ich Votire also aufs längere
Dortbleiben, vorausgesetzt, daß es mit Bewilligung des Herzogs geschieht." Die
gegen ihn erhabnen Vorwürfe, er sei in Italien kalt gegen seine Freunde geworden,
lehnt sie rundweg ab: „stellen Sie sich an seinen Platz — in eine ganz neue
Welt versetzt, — in eine Welt, wo er von Kindheit an mit ganzem Herzen und
ganzer Seele dran hing, und den Genuß, den er nun davon hat. Ein Hungriger,
der lange gefastet hat, wird an einer gutbesetzten Tafel, bis sein Hunger gestillt
ist weder an Vater noch Mutter, weder an Freund noch Geliebte, denken, und
Niemand wirds ihm verargen können." Keiner hat in diesem Punkte ein so
tiefes Verständnis für den Dichter bewiesen wie seine Mutter. Wie liebenswürdig
findet sie sich auch, so schwer es ihr werden mag, in Goethes Verhältnis zu
Christiane Vnlpius, als sie sieht, daß der Sohn dabei glücklich ist. Bald beginnt
eine Korrespondenz zwischen ihr und seinem „Liebgen," die immer lebhafter wird,
je näher sich die beiden Frauen kennen lernen. Auch der Goethes Bunde mit
Christiane entsprossene „Angst" erhält häufig ein liebevolles Schreiben von der
Großmutter. Selten wird der Ton, worin Briefe an Kinder gehalten werden
müssen, so gut getroffen wie hier. Nicht minder schön sind die Briefe an die
andern „Enckeleins," die Töchter der frühverstorbnen Cornelia Schlosser und deren
Stiefgeschwister. Ein hohes Glück empfand Frau Aja, als eine ihrer Enkelinnen, Luise
Nicolovius, sie zur Urgroßmutter machte. Wochenlang vorher müht sich die Fünfund-
sechzigjährige ab, die Spitzen für die Babywäsche zu klöppeln, in beständiger Furcht,
daß das Menschlein geboren würde, bevor sie ihre Arbeit beendet hätte. Mit frohem
Stolze rühmt sie nach allen Seiten ihre Tat, die sie ohne Brille ausgeführt hat,
und wie sie hervorhebt, „nicht etwa so urna laruw, nein, sondern ein Brabanter
Muster 3 Finger breit." Auf die Kunde von der Geburt des Urenkels stimmt sie
einen Jnbelhymnus an, dem keine ihrer zahlreichen Freudenexklaniationen gleicht.

Die Freunde und die Freundinnen ihres Wolfgang nennt sie auch ihre Söhne
und Töchter und schreibt ebenso mütterlich an sie wie an den „Häschelhcmß."
Der hohen Gönnerin Goethes, der Herzogin Anna Amalici, trat die Frau Rat
bekanntlich so nahe, daß beide neun Jahre lang Briefe wechselten. Wieland, der
ebenfalls zu ihren Korrespondenten gehörte und immer die größte Freude empfand,
wenn er eine „Epistola" aus Frankfurt erhielt, berichtet: „Wenn die Herzogin
Mutter einen Brief von Mutter Aja bekommen hat, so spricht sie nicht anders
davon, als ob ihr ein groß Glück widerfahren wäre, recht wie das Weib im
Evangelio, die ihre Nachbarinnen anruft, sich mit ihr zu freuen, daß sie ihren
Groschen funden habe." In den Briefen, die sie an Anna Amalias Hofdame,
Luise von Göchhausen, richtet, greift die Dichtermutter sogar zu Versen, die zwar
nicht fehlerfrei sind, aber von Poetischer Begabung zeugen. Nicht durchweg er¬
quicklich, jedoch ebenso interessant ist der briefliche Verkehr, den die Theaterfreundin
mit den Schauspielern Großmann und Unzelmann unterhielt.

Der Verleger Karl Ernst Poeschel in Leipzig hat Sorge getragen, daß der
edle Wein ans einem würdigen Pokal getrunken wird. Der Genuß ist um den


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[0475] Maßgebliches und Unmaßgebliches Die schönsten Stücke der Sammlung sind an Goethe und die Seinen ge¬ richtet; hier treibt die Mutterliebe ihre köstlichsten Blüten. Alles, was im fernen Weimar vorgeht, lebt die Fran Rat mit; wenn sie nur den Namen ihres „Hcischel- hanß" nennen hört, führt sie vor Freude auf, und jeder Tag, der ihr ein Schreiben des Sohnes bringt, wird für sie zum Festtag; kommt er gar selbst, dann will die Seligkeit kein Ende nehmen. Sie nimmt den lebhaftesten Anteil an seinen Schöpfungen und sorgt für sein leibliches Wohl. Immer ist sie auf sein Bestes bedacht. Wie zartfühlend zeigt sie sich, wenn es gilt, dem vielbeschäftigten Sohne Gesuche seiner Frankfurter Mitbürger zu übermitteln, wie gern möchte sie ihm 1792 die Teilnahme an der Kampagne ersparen! Sie jubiliert, als er seine Sehnsucht nach Italien stillen kann, und schreibt an Fritz von Stein, dessen Mutter darüber anders dachte und Goethes Ausbleiben mit scheelen Augen ansah: „Ich für meine Person gönne ihm gern die Freude und Seeligkeit in der er jetzt lebt, bis auf den letzten Tropfen zu genießen, und in dieser glücklichen Con- stellcition wird er Wohl Italien nie wiedersehen; ich Votire also aufs längere Dortbleiben, vorausgesetzt, daß es mit Bewilligung des Herzogs geschieht." Die gegen ihn erhabnen Vorwürfe, er sei in Italien kalt gegen seine Freunde geworden, lehnt sie rundweg ab: „stellen Sie sich an seinen Platz — in eine ganz neue Welt versetzt, — in eine Welt, wo er von Kindheit an mit ganzem Herzen und ganzer Seele dran hing, und den Genuß, den er nun davon hat. Ein Hungriger, der lange gefastet hat, wird an einer gutbesetzten Tafel, bis sein Hunger gestillt ist weder an Vater noch Mutter, weder an Freund noch Geliebte, denken, und Niemand wirds ihm verargen können." Keiner hat in diesem Punkte ein so tiefes Verständnis für den Dichter bewiesen wie seine Mutter. Wie liebenswürdig findet sie sich auch, so schwer es ihr werden mag, in Goethes Verhältnis zu Christiane Vnlpius, als sie sieht, daß der Sohn dabei glücklich ist. Bald beginnt eine Korrespondenz zwischen ihr und seinem „Liebgen," die immer lebhafter wird, je näher sich die beiden Frauen kennen lernen. Auch der Goethes Bunde mit Christiane entsprossene „Angst" erhält häufig ein liebevolles Schreiben von der Großmutter. Selten wird der Ton, worin Briefe an Kinder gehalten werden müssen, so gut getroffen wie hier. Nicht minder schön sind die Briefe an die andern „Enckeleins," die Töchter der frühverstorbnen Cornelia Schlosser und deren Stiefgeschwister. Ein hohes Glück empfand Frau Aja, als eine ihrer Enkelinnen, Luise Nicolovius, sie zur Urgroßmutter machte. Wochenlang vorher müht sich die Fünfund- sechzigjährige ab, die Spitzen für die Babywäsche zu klöppeln, in beständiger Furcht, daß das Menschlein geboren würde, bevor sie ihre Arbeit beendet hätte. Mit frohem Stolze rühmt sie nach allen Seiten ihre Tat, die sie ohne Brille ausgeführt hat, und wie sie hervorhebt, „nicht etwa so urna laruw, nein, sondern ein Brabanter Muster 3 Finger breit." Auf die Kunde von der Geburt des Urenkels stimmt sie einen Jnbelhymnus an, dem keine ihrer zahlreichen Freudenexklaniationen gleicht. Die Freunde und die Freundinnen ihres Wolfgang nennt sie auch ihre Söhne und Töchter und schreibt ebenso mütterlich an sie wie an den „Häschelhcmß." Der hohen Gönnerin Goethes, der Herzogin Anna Amalici, trat die Frau Rat bekanntlich so nahe, daß beide neun Jahre lang Briefe wechselten. Wieland, der ebenfalls zu ihren Korrespondenten gehörte und immer die größte Freude empfand, wenn er eine „Epistola" aus Frankfurt erhielt, berichtet: „Wenn die Herzogin Mutter einen Brief von Mutter Aja bekommen hat, so spricht sie nicht anders davon, als ob ihr ein groß Glück widerfahren wäre, recht wie das Weib im Evangelio, die ihre Nachbarinnen anruft, sich mit ihr zu freuen, daß sie ihren Groschen funden habe." In den Briefen, die sie an Anna Amalias Hofdame, Luise von Göchhausen, richtet, greift die Dichtermutter sogar zu Versen, die zwar nicht fehlerfrei sind, aber von Poetischer Begabung zeugen. Nicht durchweg er¬ quicklich, jedoch ebenso interessant ist der briefliche Verkehr, den die Theaterfreundin mit den Schauspielern Großmann und Unzelmann unterhielt. Der Verleger Karl Ernst Poeschel in Leipzig hat Sorge getragen, daß der edle Wein ans einem würdigen Pokal getrunken wird. Der Genuß ist um den

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/475>, abgerufen am 23.07.2024.