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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

einem vollen Verständnis für die Situation begegnet. Je weniger wir in Deutsch¬
land von der Flotte reden und schreiben, und je mehr wir statt dessen wirklich sür
sie tun, um so besser wird es mit der Flotte bestellt sein. Die von Gambetta
in bezug auf Elsaß-Lothringen ausgegebne Parole: "Nicht darüber reden, immer
daran denken" würde im gewissen Grade auch für die parlamentarische Behandlung
der Marineangelegenheiten passen. Mag der Flottenverein, der nach Zweck und
Wesen auf Agitation angewiesen ist, dabei ruhig seine Arbeit tun.

Während die uns umgebenden kontinentalen Mächte jede in ihrer Art von
schweren innern Wirren heimgesucht find, dürfen wir in Deutschland mit Befrie¬
digung auf den Abschluß der Handelsverträge und auf die Annahme der preußischen
Kanalvorlage sehen. Die einen wie die andern sind ja gewiß unvollkommen und
lassen in mancher Hinsicht zu wünschen übrig. Aber von den Handelsverträgen
darf man nicht nur getrost annehmen, daß sie in jeder Beziehung die Summe des
jetzt Erreichbaren darstellen, sondern auch daß sie mit überlegner diplomatischer
Kunst und unter gewissenhafter Ausnutzung aller gegebnen Vorteile zu diesem Ende
geführt worden sind. Gelingt es, ihre zwölfjährige Dauer auch zu einer Periode
ungestörten zwölfjährigen Friedens zu machen, so darf mit Sicherheit vorausgesetzt
werden, daß uicht nur die Landwirtschaft wieder zu erwünschter" Verhältnissen
gelangen, sondern daß sich auch die deutsche Industrie in alten Ehren behaupten
wird. Die Ungunst einzelner Vertragsbestimmungen wird sie durch Fleiß und
Umsicht, durch ihre Initiative auszugleichen wissen. Während dieser zwölf Jahre
bauen wir unsre Kanäle und Häfen aus, errichten die neuen Wasserstraßen, bringen
unsre Flotte auf die nötige achtunggebietende Höhe. Gelingt dies, so wird die
politische wie die wirtschaftliche Bilanz dieser Periode voraussichtlich nicht ungünstig
sein. Den Frieden aber werden wir um so sicherer bewahren, je weniger der
deutsche Reichstag das Ausland darüber in Zweifel läßt, daß Deutschland für seine
höchsten Güter auch die höchsten Opfer einzusetzen bereit ist und dadurch jedem
Zukunftsgegner das Bewußtsein einflößt, daß er Deutschland allen Eventualitäten
gewachsen finden wird. Bis dahin wird die Welt hoffentlich die Überzeugung ge¬
wonnen haben, daß Deutschland niemand bedroht, aber auch seine eigne Daseins¬
berechtigung nach keiner Richtung in Zweifel gezogen wissen will.

Unser Heer muß zu Lande wie zur See auf der Höhe seiner Aufgaben und
seiner großen Pflichten stehn. Es so zu erhalten, ist bei weitem die dringlichste
und die vornehmste Sorge der verbündeten deutschen Regierungen und des Reichs¬
tags. Der ungestörte Friede ist aber anch weiter nötig, wenn wir unsre innern
Verhältnisse in Ruhe so ausgestalten wollen, daß auch sie allen wirtschaftlichen und
politischen innern Schwierigkeiten gewachsen bleiben. In der zu Ende gehenden
Handelsvertragsperiode haben fünf Kriege gespielt: der japanisch-chinesische, der
spanisch-amerikanische, der griechisch-türkische, der südafrikanische und der russisch¬
japanische; sie find sämtlich auf Deutschlands Interessen nicht ohne Einfluß geblieben,
ihre Nachwirkungen werden zum Teil uoch weit hinausgreifen. Deutschland selbst ist
zweimal zur Teilnahme an kriegerischen Begebenheiten berufen gewesen: die chinesische
Expedition und unser Kolonialkrieg in Südwestafrika. Wir werden schwerlich damit
rechnen dürfen, daß in den nächsten zwölf Jahren trotz allen Schiedsgerichtsverträgen
der Weltfrieden ungestört bleiben, und ebenso daß uns jeder Anlaß, für eigne Inter¬
essen das Schwert zu ziehn, erspart sein wird. Während sich die kriegerischen Ereig¬
nisse der siebziger und der achtziger Jahre in der Hauptsache ausschließlich in Europa
abgespielt haben: Karlistenkrieg in Spanien, der serbisch-türkische, der russisch-türkische
und der serbisch-bulgarische Krieg, sind die Kriege der zweiten Periode mit Aus¬
nahme des griechisch-türkischen in drei andern Weltteilen ausgekämpft worden, Japan
und Amerika haben als neue Mitbewerber auf dem Gebiete der Weltpolitik tief in
die europäischen Interessen hineingegriffen, sie werden es in Zukunft noch mehr tun.
Da wird nicht nur unsre Staatskunst scharfen Ausguck halten müssen, sondern
Deutschland wird die ganze Kraft und Intelligenz seiner Arbeit zusammennehmen
müssen, wenn es sich in Frieden und in Ehren behaupten will.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

einem vollen Verständnis für die Situation begegnet. Je weniger wir in Deutsch¬
land von der Flotte reden und schreiben, und je mehr wir statt dessen wirklich sür
sie tun, um so besser wird es mit der Flotte bestellt sein. Die von Gambetta
in bezug auf Elsaß-Lothringen ausgegebne Parole: „Nicht darüber reden, immer
daran denken" würde im gewissen Grade auch für die parlamentarische Behandlung
der Marineangelegenheiten passen. Mag der Flottenverein, der nach Zweck und
Wesen auf Agitation angewiesen ist, dabei ruhig seine Arbeit tun.

Während die uns umgebenden kontinentalen Mächte jede in ihrer Art von
schweren innern Wirren heimgesucht find, dürfen wir in Deutschland mit Befrie¬
digung auf den Abschluß der Handelsverträge und auf die Annahme der preußischen
Kanalvorlage sehen. Die einen wie die andern sind ja gewiß unvollkommen und
lassen in mancher Hinsicht zu wünschen übrig. Aber von den Handelsverträgen
darf man nicht nur getrost annehmen, daß sie in jeder Beziehung die Summe des
jetzt Erreichbaren darstellen, sondern auch daß sie mit überlegner diplomatischer
Kunst und unter gewissenhafter Ausnutzung aller gegebnen Vorteile zu diesem Ende
geführt worden sind. Gelingt es, ihre zwölfjährige Dauer auch zu einer Periode
ungestörten zwölfjährigen Friedens zu machen, so darf mit Sicherheit vorausgesetzt
werden, daß uicht nur die Landwirtschaft wieder zu erwünschter» Verhältnissen
gelangen, sondern daß sich auch die deutsche Industrie in alten Ehren behaupten
wird. Die Ungunst einzelner Vertragsbestimmungen wird sie durch Fleiß und
Umsicht, durch ihre Initiative auszugleichen wissen. Während dieser zwölf Jahre
bauen wir unsre Kanäle und Häfen aus, errichten die neuen Wasserstraßen, bringen
unsre Flotte auf die nötige achtunggebietende Höhe. Gelingt dies, so wird die
politische wie die wirtschaftliche Bilanz dieser Periode voraussichtlich nicht ungünstig
sein. Den Frieden aber werden wir um so sicherer bewahren, je weniger der
deutsche Reichstag das Ausland darüber in Zweifel läßt, daß Deutschland für seine
höchsten Güter auch die höchsten Opfer einzusetzen bereit ist und dadurch jedem
Zukunftsgegner das Bewußtsein einflößt, daß er Deutschland allen Eventualitäten
gewachsen finden wird. Bis dahin wird die Welt hoffentlich die Überzeugung ge¬
wonnen haben, daß Deutschland niemand bedroht, aber auch seine eigne Daseins¬
berechtigung nach keiner Richtung in Zweifel gezogen wissen will.

Unser Heer muß zu Lande wie zur See auf der Höhe seiner Aufgaben und
seiner großen Pflichten stehn. Es so zu erhalten, ist bei weitem die dringlichste
und die vornehmste Sorge der verbündeten deutschen Regierungen und des Reichs¬
tags. Der ungestörte Friede ist aber anch weiter nötig, wenn wir unsre innern
Verhältnisse in Ruhe so ausgestalten wollen, daß auch sie allen wirtschaftlichen und
politischen innern Schwierigkeiten gewachsen bleiben. In der zu Ende gehenden
Handelsvertragsperiode haben fünf Kriege gespielt: der japanisch-chinesische, der
spanisch-amerikanische, der griechisch-türkische, der südafrikanische und der russisch¬
japanische; sie find sämtlich auf Deutschlands Interessen nicht ohne Einfluß geblieben,
ihre Nachwirkungen werden zum Teil uoch weit hinausgreifen. Deutschland selbst ist
zweimal zur Teilnahme an kriegerischen Begebenheiten berufen gewesen: die chinesische
Expedition und unser Kolonialkrieg in Südwestafrika. Wir werden schwerlich damit
rechnen dürfen, daß in den nächsten zwölf Jahren trotz allen Schiedsgerichtsverträgen
der Weltfrieden ungestört bleiben, und ebenso daß uns jeder Anlaß, für eigne Inter¬
essen das Schwert zu ziehn, erspart sein wird. Während sich die kriegerischen Ereig¬
nisse der siebziger und der achtziger Jahre in der Hauptsache ausschließlich in Europa
abgespielt haben: Karlistenkrieg in Spanien, der serbisch-türkische, der russisch-türkische
und der serbisch-bulgarische Krieg, sind die Kriege der zweiten Periode mit Aus¬
nahme des griechisch-türkischen in drei andern Weltteilen ausgekämpft worden, Japan
und Amerika haben als neue Mitbewerber auf dem Gebiete der Weltpolitik tief in
die europäischen Interessen hineingegriffen, sie werden es in Zukunft noch mehr tun.
Da wird nicht nur unsre Staatskunst scharfen Ausguck halten müssen, sondern
Deutschland wird die ganze Kraft und Intelligenz seiner Arbeit zusammennehmen
müssen, wenn es sich in Frieden und in Ehren behaupten will.


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[0470] Maßgebliches und Unmaßgebliches einem vollen Verständnis für die Situation begegnet. Je weniger wir in Deutsch¬ land von der Flotte reden und schreiben, und je mehr wir statt dessen wirklich sür sie tun, um so besser wird es mit der Flotte bestellt sein. Die von Gambetta in bezug auf Elsaß-Lothringen ausgegebne Parole: „Nicht darüber reden, immer daran denken" würde im gewissen Grade auch für die parlamentarische Behandlung der Marineangelegenheiten passen. Mag der Flottenverein, der nach Zweck und Wesen auf Agitation angewiesen ist, dabei ruhig seine Arbeit tun. Während die uns umgebenden kontinentalen Mächte jede in ihrer Art von schweren innern Wirren heimgesucht find, dürfen wir in Deutschland mit Befrie¬ digung auf den Abschluß der Handelsverträge und auf die Annahme der preußischen Kanalvorlage sehen. Die einen wie die andern sind ja gewiß unvollkommen und lassen in mancher Hinsicht zu wünschen übrig. Aber von den Handelsverträgen darf man nicht nur getrost annehmen, daß sie in jeder Beziehung die Summe des jetzt Erreichbaren darstellen, sondern auch daß sie mit überlegner diplomatischer Kunst und unter gewissenhafter Ausnutzung aller gegebnen Vorteile zu diesem Ende geführt worden sind. Gelingt es, ihre zwölfjährige Dauer auch zu einer Periode ungestörten zwölfjährigen Friedens zu machen, so darf mit Sicherheit vorausgesetzt werden, daß uicht nur die Landwirtschaft wieder zu erwünschter» Verhältnissen gelangen, sondern daß sich auch die deutsche Industrie in alten Ehren behaupten wird. Die Ungunst einzelner Vertragsbestimmungen wird sie durch Fleiß und Umsicht, durch ihre Initiative auszugleichen wissen. Während dieser zwölf Jahre bauen wir unsre Kanäle und Häfen aus, errichten die neuen Wasserstraßen, bringen unsre Flotte auf die nötige achtunggebietende Höhe. Gelingt dies, so wird die politische wie die wirtschaftliche Bilanz dieser Periode voraussichtlich nicht ungünstig sein. Den Frieden aber werden wir um so sicherer bewahren, je weniger der deutsche Reichstag das Ausland darüber in Zweifel läßt, daß Deutschland für seine höchsten Güter auch die höchsten Opfer einzusetzen bereit ist und dadurch jedem Zukunftsgegner das Bewußtsein einflößt, daß er Deutschland allen Eventualitäten gewachsen finden wird. Bis dahin wird die Welt hoffentlich die Überzeugung ge¬ wonnen haben, daß Deutschland niemand bedroht, aber auch seine eigne Daseins¬ berechtigung nach keiner Richtung in Zweifel gezogen wissen will. Unser Heer muß zu Lande wie zur See auf der Höhe seiner Aufgaben und seiner großen Pflichten stehn. Es so zu erhalten, ist bei weitem die dringlichste und die vornehmste Sorge der verbündeten deutschen Regierungen und des Reichs¬ tags. Der ungestörte Friede ist aber anch weiter nötig, wenn wir unsre innern Verhältnisse in Ruhe so ausgestalten wollen, daß auch sie allen wirtschaftlichen und politischen innern Schwierigkeiten gewachsen bleiben. In der zu Ende gehenden Handelsvertragsperiode haben fünf Kriege gespielt: der japanisch-chinesische, der spanisch-amerikanische, der griechisch-türkische, der südafrikanische und der russisch¬ japanische; sie find sämtlich auf Deutschlands Interessen nicht ohne Einfluß geblieben, ihre Nachwirkungen werden zum Teil uoch weit hinausgreifen. Deutschland selbst ist zweimal zur Teilnahme an kriegerischen Begebenheiten berufen gewesen: die chinesische Expedition und unser Kolonialkrieg in Südwestafrika. Wir werden schwerlich damit rechnen dürfen, daß in den nächsten zwölf Jahren trotz allen Schiedsgerichtsverträgen der Weltfrieden ungestört bleiben, und ebenso daß uns jeder Anlaß, für eigne Inter¬ essen das Schwert zu ziehn, erspart sein wird. Während sich die kriegerischen Ereig¬ nisse der siebziger und der achtziger Jahre in der Hauptsache ausschließlich in Europa abgespielt haben: Karlistenkrieg in Spanien, der serbisch-türkische, der russisch-türkische und der serbisch-bulgarische Krieg, sind die Kriege der zweiten Periode mit Aus¬ nahme des griechisch-türkischen in drei andern Weltteilen ausgekämpft worden, Japan und Amerika haben als neue Mitbewerber auf dem Gebiete der Weltpolitik tief in die europäischen Interessen hineingegriffen, sie werden es in Zukunft noch mehr tun. Da wird nicht nur unsre Staatskunst scharfen Ausguck halten müssen, sondern Deutschland wird die ganze Kraft und Intelligenz seiner Arbeit zusammennehmen müssen, wenn es sich in Frieden und in Ehren behaupten will.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/470>, abgerufen am 22.12.2024.