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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Line Kunstgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts

wie ein künstliches Feuerwerk erscheinen. In dieser antiken Schule hat sich
die französische Kunst eine Herrschaft über die Form, den sichern Geschmack
bis hinab in die kleinsten dekorativen Aufgaben und das Gleichgewicht zwischen
Inhalt und Form in der großen Kunst erworben und erhalten, wodurch sie
in dieser Periode auf das übrige Europa hat einwirken können. Obgleich der
strenge Klassizismus Davids von nationalen, romantischen Richtungen ab¬
gelöst wird, und sich einzelne der später" Realisten ganz in die Gegenwart
stellen, die Antike in Form und Gebärde kommt immer wieder zum Durch¬
bruch, wenn sie auch nur, wie bei den Landschaftern, aus Erinnerungen an
Claude Lorrain oder Poussin nachklingt. Eine Ausnahme machen selbstver¬
ständlich die auf bildmüßige Form verzichtenden Naturexperimente. Noch fester
hat sich das antike Band um die Plastik gelegt, und weil es hier sowohl wie
in der Architektur niemals zu einem völligen Bruch mit der Überlieferung,
dem alten Formenschatz, gekommen ist, so hat auch die modernste ornamentlose
Linienkunst der Architektur und dem Kunstgeiverbc der Franzosen nichts an¬
haben können. Sie allein wissen, was sie an ihren alten Formen haben. Ihre
historische Bildung und ihr fest geschulter Geschmack haben sie vor dem Neuen
bewahrt. Dieser Widerstand sichert Frankreich seine Stellung in der Zukunft.
Die Linienkunst wird doch noch einmal an Langeweile zugrunde zehn; Barock.
Rokoko und Empire siud aber nicht tot zu machen. So ist es ja auch auf
dem Gebiete der literarischen Formen: trotz aller modernen Technik gilt dem
gebildeten Franzosen die Periode seines klassischen Stils immer noch als
das Höchste!

Wie Schmid in seinem Vorwort hervorhebt, urteilen wir jetzt über die
Gesamtentwicklung der neuern Kunst anders als noch 1848 oder 1870. Be¬
sonders Deutschlands Anteil erscheint nicht mehr so groß wie früher; es muß
zeitlich hinter Frankreich und England gestellt werden, denen es wohl mehr
Anregung entnahm als gab. Ganz gewiß! Und im Entnehmen von England
sind wir ja gerade jetzt wieder im besten Zuge. Wir bauen Landhäuser im
englischen Stil, lassen uns mit englischen Möbeln und Töpfereien über¬
schwemmen und sollen nun auch uoch bei den englischen Kirchenbaumeistern in
die Schule gehn. Dem Deutschen ist niemals wohler, als wenn er in eine
fremde Haut schlüpfen kann, sagte Bismarck. England ist sehr spät, erst im
achtzehnten Jahrhundert, selbständig in den Kreis der europäischen Kunst ein¬
getreten, und zwar so, daß anders als in Frankreich die antike Formensprache
und der nationale Ausdruck meist unvermittelt nebeneinander Hergehn. Wo
der Klassizismus auftritt, wie in der Plastik, in einem Teile der monumen¬
talen Architektur oder gar in Flaxmans einst vielgefeierten Zeichnungen, die
den technisch bedingten Stil der griechischen Vasenmaler in affektierter Be¬
schränkung nachahmten, da wirkt er auf jedes natürliche Gefühl in seiner
Nacktheit un.d Trockenheit besonders unangenehm. Originelle Leistungen, deren
Einfluß auf die kontinentale Kunst zu begreifen ist, haben erst die berühmten
Maler der Bildnisse und Landschaften und die Darsteller eines eigentümlich
englischen Sittenbildes aufzuweisen. Sie haben Natursinn, drücken die Landes¬
art aus und malen vortrefflich. Ganz ungetrübt leuchten freilich auch die


Line Kunstgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts

wie ein künstliches Feuerwerk erscheinen. In dieser antiken Schule hat sich
die französische Kunst eine Herrschaft über die Form, den sichern Geschmack
bis hinab in die kleinsten dekorativen Aufgaben und das Gleichgewicht zwischen
Inhalt und Form in der großen Kunst erworben und erhalten, wodurch sie
in dieser Periode auf das übrige Europa hat einwirken können. Obgleich der
strenge Klassizismus Davids von nationalen, romantischen Richtungen ab¬
gelöst wird, und sich einzelne der später» Realisten ganz in die Gegenwart
stellen, die Antike in Form und Gebärde kommt immer wieder zum Durch¬
bruch, wenn sie auch nur, wie bei den Landschaftern, aus Erinnerungen an
Claude Lorrain oder Poussin nachklingt. Eine Ausnahme machen selbstver¬
ständlich die auf bildmüßige Form verzichtenden Naturexperimente. Noch fester
hat sich das antike Band um die Plastik gelegt, und weil es hier sowohl wie
in der Architektur niemals zu einem völligen Bruch mit der Überlieferung,
dem alten Formenschatz, gekommen ist, so hat auch die modernste ornamentlose
Linienkunst der Architektur und dem Kunstgeiverbc der Franzosen nichts an¬
haben können. Sie allein wissen, was sie an ihren alten Formen haben. Ihre
historische Bildung und ihr fest geschulter Geschmack haben sie vor dem Neuen
bewahrt. Dieser Widerstand sichert Frankreich seine Stellung in der Zukunft.
Die Linienkunst wird doch noch einmal an Langeweile zugrunde zehn; Barock.
Rokoko und Empire siud aber nicht tot zu machen. So ist es ja auch auf
dem Gebiete der literarischen Formen: trotz aller modernen Technik gilt dem
gebildeten Franzosen die Periode seines klassischen Stils immer noch als
das Höchste!

Wie Schmid in seinem Vorwort hervorhebt, urteilen wir jetzt über die
Gesamtentwicklung der neuern Kunst anders als noch 1848 oder 1870. Be¬
sonders Deutschlands Anteil erscheint nicht mehr so groß wie früher; es muß
zeitlich hinter Frankreich und England gestellt werden, denen es wohl mehr
Anregung entnahm als gab. Ganz gewiß! Und im Entnehmen von England
sind wir ja gerade jetzt wieder im besten Zuge. Wir bauen Landhäuser im
englischen Stil, lassen uns mit englischen Möbeln und Töpfereien über¬
schwemmen und sollen nun auch uoch bei den englischen Kirchenbaumeistern in
die Schule gehn. Dem Deutschen ist niemals wohler, als wenn er in eine
fremde Haut schlüpfen kann, sagte Bismarck. England ist sehr spät, erst im
achtzehnten Jahrhundert, selbständig in den Kreis der europäischen Kunst ein¬
getreten, und zwar so, daß anders als in Frankreich die antike Formensprache
und der nationale Ausdruck meist unvermittelt nebeneinander Hergehn. Wo
der Klassizismus auftritt, wie in der Plastik, in einem Teile der monumen¬
talen Architektur oder gar in Flaxmans einst vielgefeierten Zeichnungen, die
den technisch bedingten Stil der griechischen Vasenmaler in affektierter Be¬
schränkung nachahmten, da wirkt er auf jedes natürliche Gefühl in seiner
Nacktheit un.d Trockenheit besonders unangenehm. Originelle Leistungen, deren
Einfluß auf die kontinentale Kunst zu begreifen ist, haben erst die berühmten
Maler der Bildnisse und Landschaften und die Darsteller eines eigentümlich
englischen Sittenbildes aufzuweisen. Sie haben Natursinn, drücken die Landes¬
art aus und malen vortrefflich. Ganz ungetrübt leuchten freilich auch die


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[0039] Line Kunstgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts wie ein künstliches Feuerwerk erscheinen. In dieser antiken Schule hat sich die französische Kunst eine Herrschaft über die Form, den sichern Geschmack bis hinab in die kleinsten dekorativen Aufgaben und das Gleichgewicht zwischen Inhalt und Form in der großen Kunst erworben und erhalten, wodurch sie in dieser Periode auf das übrige Europa hat einwirken können. Obgleich der strenge Klassizismus Davids von nationalen, romantischen Richtungen ab¬ gelöst wird, und sich einzelne der später» Realisten ganz in die Gegenwart stellen, die Antike in Form und Gebärde kommt immer wieder zum Durch¬ bruch, wenn sie auch nur, wie bei den Landschaftern, aus Erinnerungen an Claude Lorrain oder Poussin nachklingt. Eine Ausnahme machen selbstver¬ ständlich die auf bildmüßige Form verzichtenden Naturexperimente. Noch fester hat sich das antike Band um die Plastik gelegt, und weil es hier sowohl wie in der Architektur niemals zu einem völligen Bruch mit der Überlieferung, dem alten Formenschatz, gekommen ist, so hat auch die modernste ornamentlose Linienkunst der Architektur und dem Kunstgeiverbc der Franzosen nichts an¬ haben können. Sie allein wissen, was sie an ihren alten Formen haben. Ihre historische Bildung und ihr fest geschulter Geschmack haben sie vor dem Neuen bewahrt. Dieser Widerstand sichert Frankreich seine Stellung in der Zukunft. Die Linienkunst wird doch noch einmal an Langeweile zugrunde zehn; Barock. Rokoko und Empire siud aber nicht tot zu machen. So ist es ja auch auf dem Gebiete der literarischen Formen: trotz aller modernen Technik gilt dem gebildeten Franzosen die Periode seines klassischen Stils immer noch als das Höchste! Wie Schmid in seinem Vorwort hervorhebt, urteilen wir jetzt über die Gesamtentwicklung der neuern Kunst anders als noch 1848 oder 1870. Be¬ sonders Deutschlands Anteil erscheint nicht mehr so groß wie früher; es muß zeitlich hinter Frankreich und England gestellt werden, denen es wohl mehr Anregung entnahm als gab. Ganz gewiß! Und im Entnehmen von England sind wir ja gerade jetzt wieder im besten Zuge. Wir bauen Landhäuser im englischen Stil, lassen uns mit englischen Möbeln und Töpfereien über¬ schwemmen und sollen nun auch uoch bei den englischen Kirchenbaumeistern in die Schule gehn. Dem Deutschen ist niemals wohler, als wenn er in eine fremde Haut schlüpfen kann, sagte Bismarck. England ist sehr spät, erst im achtzehnten Jahrhundert, selbständig in den Kreis der europäischen Kunst ein¬ getreten, und zwar so, daß anders als in Frankreich die antike Formensprache und der nationale Ausdruck meist unvermittelt nebeneinander Hergehn. Wo der Klassizismus auftritt, wie in der Plastik, in einem Teile der monumen¬ talen Architektur oder gar in Flaxmans einst vielgefeierten Zeichnungen, die den technisch bedingten Stil der griechischen Vasenmaler in affektierter Be¬ schränkung nachahmten, da wirkt er auf jedes natürliche Gefühl in seiner Nacktheit un.d Trockenheit besonders unangenehm. Originelle Leistungen, deren Einfluß auf die kontinentale Kunst zu begreifen ist, haben erst die berühmten Maler der Bildnisse und Landschaften und die Darsteller eines eigentümlich englischen Sittenbildes aufzuweisen. Sie haben Natursinn, drücken die Landes¬ art aus und malen vortrefflich. Ganz ungetrübt leuchten freilich auch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/39>, abgerufen am 22.12.2024.