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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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rechtigt gehalten habe. Es erschien mir unmöglich, in irgend einem hellenischen
Kunstwerk ein reines Phantasieprodukt zu scheu. Wer längere Zeit mit den
alten wie mit den heutigen Hellenen gelebt hat, der muß zugeben, daß die
Phantasie bei ihnen nicht die herrschende Seelenkraft ist und anch nicht die
Quelle ihres künstlerischen Schaffens. Originelle Erfindung verlangen sie gar
nicht von ihren Künstlern und Dichtern. Haben ihnen auch schon zwanzig
Dichter die Leiden einer Hekuba und einer Antigone geschildert, so mag es der
einundzwanzigste ruhig noch einmal tun, ohne an der Fabel das mindeste zu
ändern, und dieselben Wiederholungen sieht man an den Werken ihrer Bild¬
hauer und Baumeister. Wenn nur das neue Werk regelmäßig und harmonisch
angeordnet ist, nichts Übertriebnes und Gewaltsames hat, was das Auge oder
den Geist abstößt, wenn der Entwurf der Ausdruck einer im Gleichgewicht
ruhenden Vernunft ist, die geschickte und gewissenhafte Ausführung weder Un¬
kenntnis noch Schleuderet verrät, wenn das Ganze als ein zwar vereinfachtes
aber treues Abbild der Natur erscheint, so mag dieses Werk immerhin der
Originalität entbehren und sogar etwas alltägliches sein, dem Hellenen wird
es echt griechisch und der Hochschätzung der Kenner wert erscheinen. Die
homerischen Gedichte und besonders die Odyssee unterscheiden sich darin nicht
von den übrigen Kunstwerken der Griechen. Man darf die Irrfahrten des
Odysseus nicht mit den ungeheuerlichen Wundergeschichten der Hindu und den
Träumen der Araber vergleichen. Vielmehr stehn sie den halbwissenschaftlichen
Gedichten nahe, in denen die spätem Griechen und die Römer ihre und ihrer
Vorgänger geographische Entdeckungen kodifiziert haben. jBerard hat diese
Gedichte fleißig benutzt; es sind dies die Periegesis oder Reisebeschreibung des
Schmnus von Chios, der um 100 vor Christus lebte, die Gedichte des
Rufus Festus Avienus, eines hohen Beamten des vierten Jahrhunderts n. Chr.,
der die Phünomena des Aratus und die Erdbeschreibung des Dionysius in
lateinischen Hexametern wiedergab und in Jamben die Küsten des Mittelmeers
selbständig beschrieb, und die Periegesis des Dionysius Periegetes, eines Geo¬
graphen des dritten Jahrhunderts n. Chr., die von Eustachius kommentiert,
von Avienus und Priscimms ins Lateinische übersetzt wurde.^ Man würde
uicht allein die dem Homer schuldige Ehrfurcht verletzen sondern auch einen
Irrtum begehn, wenn man die Odyssee geradezu in die Kategorie der Lehr¬
gedichte eines schlaaf und Avienus verweisen wollte, aber man darf ihre
Verwandtschaft mit ihnen nicht aus dem Auge verlieren, darf die utilitarischen
Neigungen des lehrhaften und moralisierenden Griechengeistes nicht vergessen."
Das Verfahren des griechischen Dichters beschreibt Bearb folgendermaßen.
"Der Heitere zergliedert und vermenschlicht. Aus einem Namen macht er eine
göttliche oder menschliche Person; jeder einzelne Beiname liefert ihm einen
Heros oder Gott. Der Semne häuft in seinen rituellen Formeln die Ehren¬
titel, mit denen er seinen Gott anruft. Der Grieche macht aus Adon Melkart
Bal sur (Herrscher Melkart, Herr von Tyrus) die vier Götter Adonis, Meli-
kertes, Bolos und Syrios. Alles führt der Grieche auf den Menschen und
auf menschliche Verhältnisse zurück. Der Mensch ist ihm Mittelpunkt und
Richter des Alls. Der Welt der Dinge legt er das Gesetz seiner Vernunft
auf, und er beurteilt ihre Erscheinungen mit seinen Syllogismen. Er würde


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rechtigt gehalten habe. Es erschien mir unmöglich, in irgend einem hellenischen
Kunstwerk ein reines Phantasieprodukt zu scheu. Wer längere Zeit mit den
alten wie mit den heutigen Hellenen gelebt hat, der muß zugeben, daß die
Phantasie bei ihnen nicht die herrschende Seelenkraft ist und anch nicht die
Quelle ihres künstlerischen Schaffens. Originelle Erfindung verlangen sie gar
nicht von ihren Künstlern und Dichtern. Haben ihnen auch schon zwanzig
Dichter die Leiden einer Hekuba und einer Antigone geschildert, so mag es der
einundzwanzigste ruhig noch einmal tun, ohne an der Fabel das mindeste zu
ändern, und dieselben Wiederholungen sieht man an den Werken ihrer Bild¬
hauer und Baumeister. Wenn nur das neue Werk regelmäßig und harmonisch
angeordnet ist, nichts Übertriebnes und Gewaltsames hat, was das Auge oder
den Geist abstößt, wenn der Entwurf der Ausdruck einer im Gleichgewicht
ruhenden Vernunft ist, die geschickte und gewissenhafte Ausführung weder Un¬
kenntnis noch Schleuderet verrät, wenn das Ganze als ein zwar vereinfachtes
aber treues Abbild der Natur erscheint, so mag dieses Werk immerhin der
Originalität entbehren und sogar etwas alltägliches sein, dem Hellenen wird
es echt griechisch und der Hochschätzung der Kenner wert erscheinen. Die
homerischen Gedichte und besonders die Odyssee unterscheiden sich darin nicht
von den übrigen Kunstwerken der Griechen. Man darf die Irrfahrten des
Odysseus nicht mit den ungeheuerlichen Wundergeschichten der Hindu und den
Träumen der Araber vergleichen. Vielmehr stehn sie den halbwissenschaftlichen
Gedichten nahe, in denen die spätem Griechen und die Römer ihre und ihrer
Vorgänger geographische Entdeckungen kodifiziert haben. jBerard hat diese
Gedichte fleißig benutzt; es sind dies die Periegesis oder Reisebeschreibung des
Schmnus von Chios, der um 100 vor Christus lebte, die Gedichte des
Rufus Festus Avienus, eines hohen Beamten des vierten Jahrhunderts n. Chr.,
der die Phünomena des Aratus und die Erdbeschreibung des Dionysius in
lateinischen Hexametern wiedergab und in Jamben die Küsten des Mittelmeers
selbständig beschrieb, und die Periegesis des Dionysius Periegetes, eines Geo¬
graphen des dritten Jahrhunderts n. Chr., die von Eustachius kommentiert,
von Avienus und Priscimms ins Lateinische übersetzt wurde.^ Man würde
uicht allein die dem Homer schuldige Ehrfurcht verletzen sondern auch einen
Irrtum begehn, wenn man die Odyssee geradezu in die Kategorie der Lehr¬
gedichte eines schlaaf und Avienus verweisen wollte, aber man darf ihre
Verwandtschaft mit ihnen nicht aus dem Auge verlieren, darf die utilitarischen
Neigungen des lehrhaften und moralisierenden Griechengeistes nicht vergessen."
Das Verfahren des griechischen Dichters beschreibt Bearb folgendermaßen.
„Der Heitere zergliedert und vermenschlicht. Aus einem Namen macht er eine
göttliche oder menschliche Person; jeder einzelne Beiname liefert ihm einen
Heros oder Gott. Der Semne häuft in seinen rituellen Formeln die Ehren¬
titel, mit denen er seinen Gott anruft. Der Grieche macht aus Adon Melkart
Bal sur (Herrscher Melkart, Herr von Tyrus) die vier Götter Adonis, Meli-
kertes, Bolos und Syrios. Alles führt der Grieche auf den Menschen und
auf menschliche Verhältnisse zurück. Der Mensch ist ihm Mittelpunkt und
Richter des Alls. Der Welt der Dinge legt er das Gesetz seiner Vernunft
auf, und er beurteilt ihre Erscheinungen mit seinen Syllogismen. Er würde


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[0035] Birards Homcrwcrk rechtigt gehalten habe. Es erschien mir unmöglich, in irgend einem hellenischen Kunstwerk ein reines Phantasieprodukt zu scheu. Wer längere Zeit mit den alten wie mit den heutigen Hellenen gelebt hat, der muß zugeben, daß die Phantasie bei ihnen nicht die herrschende Seelenkraft ist und anch nicht die Quelle ihres künstlerischen Schaffens. Originelle Erfindung verlangen sie gar nicht von ihren Künstlern und Dichtern. Haben ihnen auch schon zwanzig Dichter die Leiden einer Hekuba und einer Antigone geschildert, so mag es der einundzwanzigste ruhig noch einmal tun, ohne an der Fabel das mindeste zu ändern, und dieselben Wiederholungen sieht man an den Werken ihrer Bild¬ hauer und Baumeister. Wenn nur das neue Werk regelmäßig und harmonisch angeordnet ist, nichts Übertriebnes und Gewaltsames hat, was das Auge oder den Geist abstößt, wenn der Entwurf der Ausdruck einer im Gleichgewicht ruhenden Vernunft ist, die geschickte und gewissenhafte Ausführung weder Un¬ kenntnis noch Schleuderet verrät, wenn das Ganze als ein zwar vereinfachtes aber treues Abbild der Natur erscheint, so mag dieses Werk immerhin der Originalität entbehren und sogar etwas alltägliches sein, dem Hellenen wird es echt griechisch und der Hochschätzung der Kenner wert erscheinen. Die homerischen Gedichte und besonders die Odyssee unterscheiden sich darin nicht von den übrigen Kunstwerken der Griechen. Man darf die Irrfahrten des Odysseus nicht mit den ungeheuerlichen Wundergeschichten der Hindu und den Träumen der Araber vergleichen. Vielmehr stehn sie den halbwissenschaftlichen Gedichten nahe, in denen die spätem Griechen und die Römer ihre und ihrer Vorgänger geographische Entdeckungen kodifiziert haben. jBerard hat diese Gedichte fleißig benutzt; es sind dies die Periegesis oder Reisebeschreibung des Schmnus von Chios, der um 100 vor Christus lebte, die Gedichte des Rufus Festus Avienus, eines hohen Beamten des vierten Jahrhunderts n. Chr., der die Phünomena des Aratus und die Erdbeschreibung des Dionysius in lateinischen Hexametern wiedergab und in Jamben die Küsten des Mittelmeers selbständig beschrieb, und die Periegesis des Dionysius Periegetes, eines Geo¬ graphen des dritten Jahrhunderts n. Chr., die von Eustachius kommentiert, von Avienus und Priscimms ins Lateinische übersetzt wurde.^ Man würde uicht allein die dem Homer schuldige Ehrfurcht verletzen sondern auch einen Irrtum begehn, wenn man die Odyssee geradezu in die Kategorie der Lehr¬ gedichte eines schlaaf und Avienus verweisen wollte, aber man darf ihre Verwandtschaft mit ihnen nicht aus dem Auge verlieren, darf die utilitarischen Neigungen des lehrhaften und moralisierenden Griechengeistes nicht vergessen." Das Verfahren des griechischen Dichters beschreibt Bearb folgendermaßen. „Der Heitere zergliedert und vermenschlicht. Aus einem Namen macht er eine göttliche oder menschliche Person; jeder einzelne Beiname liefert ihm einen Heros oder Gott. Der Semne häuft in seinen rituellen Formeln die Ehren¬ titel, mit denen er seinen Gott anruft. Der Grieche macht aus Adon Melkart Bal sur (Herrscher Melkart, Herr von Tyrus) die vier Götter Adonis, Meli- kertes, Bolos und Syrios. Alles führt der Grieche auf den Menschen und auf menschliche Verhältnisse zurück. Der Mensch ist ihm Mittelpunkt und Richter des Alls. Der Welt der Dinge legt er das Gesetz seiner Vernunft auf, und er beurteilt ihre Erscheinungen mit seinen Syllogismen. Er würde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/35>, abgerufen am 22.12.2024.