Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutschösterreichische Parteien

losen Verhöhnungen der christlichen Dogmen in den Ausgaben an den großen
Feiertagen. Die Zahl der Juden ist in Österreich größer als in irgendeinem
Staate von Westeuropa, und deshalb hat die alte Antipathie gegen das
Judentum dort mehr Gelegenheit, sich zu äußern, als anderswo. Die Ursache
dafür liegt keineswegs in einem besondern Grade von Roheit oder Intoleranz,
wie die Philosemiten behaupten, sondern in der Hauptsache in der Stellung,
die sich die Juden selbst gegeben haben. Sie leben über ein Jahrtausend in
unserm Weltteil, mehr oder weniger dicht unter allen Volksstümmen, aber
von einer Verschmelzung, von einem Aufgehn in die Gemeinschaft mit den
Landesgenossen ist nirgends in einem auch nur erwähnenswerten Umfange die
Rede gewesen. während sich andre Einwandrer oft schon nach kurzer Zeit in
der Bevölkerung gänzlich aufzulösen pflegen. Es ist nicht richtig, daß man
dies den Juden über die Maßen erschwert habe; es lassen sich aus allen
Jahrhunderten Belege beibringen, daß man es ihnen im Gegenteil zuweilen
recht leicht machen wollte, aber ihr fester Wille, hartnäckig ihrer Religion wie
ihrem Stamme treu zu bleiben, ist immer unerschütterlich geblieben. Gewissen
Nationen mag das als nachahmenswertes Beispiel dienen, aber die Juden
dürfen sich nicht darüber wundern, wenn man darum überall ihr Wesen und
Tun als das eines fremden Volks empfindet. Das vorige Jahrhundert hat
ihnen im ganzen Westen die vollständige Gleichberechtigung gebracht, aber sie
sind trotzdem Juden geblieben, die in gewissen Dingen vollkommen für sich
abgeschlossen sind und für andre unzugänglich bleiben, also damit beweisen,
daß sie unter uns als ein besondres Volk fortzuleben gedenken. Vom natio¬
nalen Standpunkt aus ist das in hohem Maße achtungswert, aber es ist mit
dem notwendigen Übelstande verknüpft, daß sich die Leute das nicht immer
gefallen lassen, sondern unter gewissen Anregungen ab und zu gegen die
Fremdlinge Vorgehn, die immer welche geblieben sind, auch wenn sie des
Landes Sprache sprechen und seiner Rechte -- oder wie es früher war, ge¬
wisser Privilegien -- teilhaftig sind. Dieser Anlaß zum Antisemitismus hat
von je bestanden und wird auch weiter bestehn, solange sich die Juden in
jedem Lande als ein für sich bestehendes Volk betrachten, das seine nächsten
Genossen in seinen Stammesangehörigen im Auslande sieht, aber nicht in den
Landesbewohnern. Der Antisemitismus hat sich je nach den Strömungen und
dem Bildungsgrade der verschiednen Jahrhunderte als wirtschaftlicher, natio¬
naler oder religiöser gezeigt, zuweilen haben auch mehrere dieser Beweggründe
nebeneinander gewirkt, er hat sich zuweilen mit der grauenhaften Roheit seiner
Zeit, mit der übrigens auch andre Gegner behandelt wurden, geltend gemacht,
und er besteht auch heute noch. Darüber können sich nur Doktrinäre täuschen,
die meinen, mit gleichmachenden Paragraphen ließe sich auch alles gleichmachen.
Solange der Jude den andern fremd bleiben will, wird er auch weiter als
Fremder gelten trotz allen Gesetzen und fortschreitender Humanität.

Das vergangne Jahrhundert ist uicht bloß das Jahrhundert der politischen
Gleichberechtigung, sondern auch das des nationalen Erwachens gewesen.
Beide politischen Erscheinungen decken sich nicht nur nicht, sondern schließen sich
zum Teil vollständig aus; das Nationalgefühl ist an sich eine Auflehnung


Deutschösterreichische Parteien

losen Verhöhnungen der christlichen Dogmen in den Ausgaben an den großen
Feiertagen. Die Zahl der Juden ist in Österreich größer als in irgendeinem
Staate von Westeuropa, und deshalb hat die alte Antipathie gegen das
Judentum dort mehr Gelegenheit, sich zu äußern, als anderswo. Die Ursache
dafür liegt keineswegs in einem besondern Grade von Roheit oder Intoleranz,
wie die Philosemiten behaupten, sondern in der Hauptsache in der Stellung,
die sich die Juden selbst gegeben haben. Sie leben über ein Jahrtausend in
unserm Weltteil, mehr oder weniger dicht unter allen Volksstümmen, aber
von einer Verschmelzung, von einem Aufgehn in die Gemeinschaft mit den
Landesgenossen ist nirgends in einem auch nur erwähnenswerten Umfange die
Rede gewesen. während sich andre Einwandrer oft schon nach kurzer Zeit in
der Bevölkerung gänzlich aufzulösen pflegen. Es ist nicht richtig, daß man
dies den Juden über die Maßen erschwert habe; es lassen sich aus allen
Jahrhunderten Belege beibringen, daß man es ihnen im Gegenteil zuweilen
recht leicht machen wollte, aber ihr fester Wille, hartnäckig ihrer Religion wie
ihrem Stamme treu zu bleiben, ist immer unerschütterlich geblieben. Gewissen
Nationen mag das als nachahmenswertes Beispiel dienen, aber die Juden
dürfen sich nicht darüber wundern, wenn man darum überall ihr Wesen und
Tun als das eines fremden Volks empfindet. Das vorige Jahrhundert hat
ihnen im ganzen Westen die vollständige Gleichberechtigung gebracht, aber sie
sind trotzdem Juden geblieben, die in gewissen Dingen vollkommen für sich
abgeschlossen sind und für andre unzugänglich bleiben, also damit beweisen,
daß sie unter uns als ein besondres Volk fortzuleben gedenken. Vom natio¬
nalen Standpunkt aus ist das in hohem Maße achtungswert, aber es ist mit
dem notwendigen Übelstande verknüpft, daß sich die Leute das nicht immer
gefallen lassen, sondern unter gewissen Anregungen ab und zu gegen die
Fremdlinge Vorgehn, die immer welche geblieben sind, auch wenn sie des
Landes Sprache sprechen und seiner Rechte — oder wie es früher war, ge¬
wisser Privilegien — teilhaftig sind. Dieser Anlaß zum Antisemitismus hat
von je bestanden und wird auch weiter bestehn, solange sich die Juden in
jedem Lande als ein für sich bestehendes Volk betrachten, das seine nächsten
Genossen in seinen Stammesangehörigen im Auslande sieht, aber nicht in den
Landesbewohnern. Der Antisemitismus hat sich je nach den Strömungen und
dem Bildungsgrade der verschiednen Jahrhunderte als wirtschaftlicher, natio¬
naler oder religiöser gezeigt, zuweilen haben auch mehrere dieser Beweggründe
nebeneinander gewirkt, er hat sich zuweilen mit der grauenhaften Roheit seiner
Zeit, mit der übrigens auch andre Gegner behandelt wurden, geltend gemacht,
und er besteht auch heute noch. Darüber können sich nur Doktrinäre täuschen,
die meinen, mit gleichmachenden Paragraphen ließe sich auch alles gleichmachen.
Solange der Jude den andern fremd bleiben will, wird er auch weiter als
Fremder gelten trotz allen Gesetzen und fortschreitender Humanität.

Das vergangne Jahrhundert ist uicht bloß das Jahrhundert der politischen
Gleichberechtigung, sondern auch das des nationalen Erwachens gewesen.
Beide politischen Erscheinungen decken sich nicht nur nicht, sondern schließen sich
zum Teil vollständig aus; das Nationalgefühl ist an sich eine Auflehnung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0255" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87733"/>
          <fw type="header" place="top"> Deutschösterreichische Parteien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1108" prev="#ID_1107"> losen Verhöhnungen der christlichen Dogmen in den Ausgaben an den großen<lb/>
Feiertagen. Die Zahl der Juden ist in Österreich größer als in irgendeinem<lb/>
Staate von Westeuropa, und deshalb hat die alte Antipathie gegen das<lb/>
Judentum dort mehr Gelegenheit, sich zu äußern, als anderswo. Die Ursache<lb/>
dafür liegt keineswegs in einem besondern Grade von Roheit oder Intoleranz,<lb/>
wie die Philosemiten behaupten, sondern in der Hauptsache in der Stellung,<lb/>
die sich die Juden selbst gegeben haben. Sie leben über ein Jahrtausend in<lb/>
unserm Weltteil, mehr oder weniger dicht unter allen Volksstümmen, aber<lb/>
von einer Verschmelzung, von einem Aufgehn in die Gemeinschaft mit den<lb/>
Landesgenossen ist nirgends in einem auch nur erwähnenswerten Umfange die<lb/>
Rede gewesen. während sich andre Einwandrer oft schon nach kurzer Zeit in<lb/>
der Bevölkerung gänzlich aufzulösen pflegen. Es ist nicht richtig, daß man<lb/>
dies den Juden über die Maßen erschwert habe; es lassen sich aus allen<lb/>
Jahrhunderten Belege beibringen, daß man es ihnen im Gegenteil zuweilen<lb/>
recht leicht machen wollte, aber ihr fester Wille, hartnäckig ihrer Religion wie<lb/>
ihrem Stamme treu zu bleiben, ist immer unerschütterlich geblieben. Gewissen<lb/>
Nationen mag das als nachahmenswertes Beispiel dienen, aber die Juden<lb/>
dürfen sich nicht darüber wundern, wenn man darum überall ihr Wesen und<lb/>
Tun als das eines fremden Volks empfindet. Das vorige Jahrhundert hat<lb/>
ihnen im ganzen Westen die vollständige Gleichberechtigung gebracht, aber sie<lb/>
sind trotzdem Juden geblieben, die in gewissen Dingen vollkommen für sich<lb/>
abgeschlossen sind und für andre unzugänglich bleiben, also damit beweisen,<lb/>
daß sie unter uns als ein besondres Volk fortzuleben gedenken. Vom natio¬<lb/>
nalen Standpunkt aus ist das in hohem Maße achtungswert, aber es ist mit<lb/>
dem notwendigen Übelstande verknüpft, daß sich die Leute das nicht immer<lb/>
gefallen lassen, sondern unter gewissen Anregungen ab und zu gegen die<lb/>
Fremdlinge Vorgehn, die immer welche geblieben sind, auch wenn sie des<lb/>
Landes Sprache sprechen und seiner Rechte &#x2014; oder wie es früher war, ge¬<lb/>
wisser Privilegien &#x2014; teilhaftig sind. Dieser Anlaß zum Antisemitismus hat<lb/>
von je bestanden und wird auch weiter bestehn, solange sich die Juden in<lb/>
jedem Lande als ein für sich bestehendes Volk betrachten, das seine nächsten<lb/>
Genossen in seinen Stammesangehörigen im Auslande sieht, aber nicht in den<lb/>
Landesbewohnern. Der Antisemitismus hat sich je nach den Strömungen und<lb/>
dem Bildungsgrade der verschiednen Jahrhunderte als wirtschaftlicher, natio¬<lb/>
naler oder religiöser gezeigt, zuweilen haben auch mehrere dieser Beweggründe<lb/>
nebeneinander gewirkt, er hat sich zuweilen mit der grauenhaften Roheit seiner<lb/>
Zeit, mit der übrigens auch andre Gegner behandelt wurden, geltend gemacht,<lb/>
und er besteht auch heute noch. Darüber können sich nur Doktrinäre täuschen,<lb/>
die meinen, mit gleichmachenden Paragraphen ließe sich auch alles gleichmachen.<lb/>
Solange der Jude den andern fremd bleiben will, wird er auch weiter als<lb/>
Fremder gelten trotz allen Gesetzen und fortschreitender Humanität.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1109" next="#ID_1110"> Das vergangne Jahrhundert ist uicht bloß das Jahrhundert der politischen<lb/>
Gleichberechtigung, sondern auch das des nationalen Erwachens gewesen.<lb/>
Beide politischen Erscheinungen decken sich nicht nur nicht, sondern schließen sich<lb/>
zum Teil vollständig aus; das Nationalgefühl ist an sich eine Auflehnung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0255] Deutschösterreichische Parteien losen Verhöhnungen der christlichen Dogmen in den Ausgaben an den großen Feiertagen. Die Zahl der Juden ist in Österreich größer als in irgendeinem Staate von Westeuropa, und deshalb hat die alte Antipathie gegen das Judentum dort mehr Gelegenheit, sich zu äußern, als anderswo. Die Ursache dafür liegt keineswegs in einem besondern Grade von Roheit oder Intoleranz, wie die Philosemiten behaupten, sondern in der Hauptsache in der Stellung, die sich die Juden selbst gegeben haben. Sie leben über ein Jahrtausend in unserm Weltteil, mehr oder weniger dicht unter allen Volksstümmen, aber von einer Verschmelzung, von einem Aufgehn in die Gemeinschaft mit den Landesgenossen ist nirgends in einem auch nur erwähnenswerten Umfange die Rede gewesen. während sich andre Einwandrer oft schon nach kurzer Zeit in der Bevölkerung gänzlich aufzulösen pflegen. Es ist nicht richtig, daß man dies den Juden über die Maßen erschwert habe; es lassen sich aus allen Jahrhunderten Belege beibringen, daß man es ihnen im Gegenteil zuweilen recht leicht machen wollte, aber ihr fester Wille, hartnäckig ihrer Religion wie ihrem Stamme treu zu bleiben, ist immer unerschütterlich geblieben. Gewissen Nationen mag das als nachahmenswertes Beispiel dienen, aber die Juden dürfen sich nicht darüber wundern, wenn man darum überall ihr Wesen und Tun als das eines fremden Volks empfindet. Das vorige Jahrhundert hat ihnen im ganzen Westen die vollständige Gleichberechtigung gebracht, aber sie sind trotzdem Juden geblieben, die in gewissen Dingen vollkommen für sich abgeschlossen sind und für andre unzugänglich bleiben, also damit beweisen, daß sie unter uns als ein besondres Volk fortzuleben gedenken. Vom natio¬ nalen Standpunkt aus ist das in hohem Maße achtungswert, aber es ist mit dem notwendigen Übelstande verknüpft, daß sich die Leute das nicht immer gefallen lassen, sondern unter gewissen Anregungen ab und zu gegen die Fremdlinge Vorgehn, die immer welche geblieben sind, auch wenn sie des Landes Sprache sprechen und seiner Rechte — oder wie es früher war, ge¬ wisser Privilegien — teilhaftig sind. Dieser Anlaß zum Antisemitismus hat von je bestanden und wird auch weiter bestehn, solange sich die Juden in jedem Lande als ein für sich bestehendes Volk betrachten, das seine nächsten Genossen in seinen Stammesangehörigen im Auslande sieht, aber nicht in den Landesbewohnern. Der Antisemitismus hat sich je nach den Strömungen und dem Bildungsgrade der verschiednen Jahrhunderte als wirtschaftlicher, natio¬ naler oder religiöser gezeigt, zuweilen haben auch mehrere dieser Beweggründe nebeneinander gewirkt, er hat sich zuweilen mit der grauenhaften Roheit seiner Zeit, mit der übrigens auch andre Gegner behandelt wurden, geltend gemacht, und er besteht auch heute noch. Darüber können sich nur Doktrinäre täuschen, die meinen, mit gleichmachenden Paragraphen ließe sich auch alles gleichmachen. Solange der Jude den andern fremd bleiben will, wird er auch weiter als Fremder gelten trotz allen Gesetzen und fortschreitender Humanität. Das vergangne Jahrhundert ist uicht bloß das Jahrhundert der politischen Gleichberechtigung, sondern auch das des nationalen Erwachens gewesen. Beide politischen Erscheinungen decken sich nicht nur nicht, sondern schließen sich zum Teil vollständig aus; das Nationalgefühl ist an sich eine Auflehnung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/255
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/255>, abgerufen am 23.07.2024.