Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichstag um nachträgliche Bewilligung der gemachten Ausgaben angeht? Daß Gewiß, das hätte die Regierung tun können, vielleicht auch tun sollen. Ent¬ In England würde das Parlament vielleicht bei Ausbruch eines AufstandS Grenzboten I 1905 24
Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichstag um nachträgliche Bewilligung der gemachten Ausgaben angeht? Daß Gewiß, das hätte die Regierung tun können, vielleicht auch tun sollen. Ent¬ In England würde das Parlament vielleicht bei Ausbruch eines AufstandS Grenzboten I 1905 24
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0185" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/87663"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_755" prev="#ID_754"> Reichstag um nachträgliche Bewilligung der gemachten Ausgaben angeht? Daß<lb/> alle Ausgaben — bei uns wie in England — formell der vorherigen Ge¬<lb/> nehmigung des Parlaments unterliegen sollen, wird im Prinzip gewiß niemand<lb/> anzweifeln. Aber Staatsnotwendigkeiten stehn über dem bureaukratischen For¬<lb/> malismus, über dem staatlichen wie dem parlamentarische!!. Gewiß hätte die Re¬<lb/> gierung im Sommer den Reichstag einberufen und ihm sagen können: „Hört einmal,<lb/> die Geschichte in Südwestafrika wächst uns dank eurer bisherige» Kuauserei und<lb/> sonstigen Unverstands über den Kopf, wir müssen jetzt einige tausend, vielleicht zehn¬<lb/> tausend Mann unterhalten nebst allem, was sonst noch dort zum Kriegführen ge¬<lb/> hört. Das wird einige hundert Millionen kosten, wieviel — das kann im voraus<lb/> kein Mensch wissen, also bewilligt uns einstweilen so und so viel Millionen und<lb/> gebt uns die Genehmigung, daß wir den Aufstand mit allen Mittel» nieder¬<lb/> schlagen."</p><lb/> <p xml:id="ID_756"> Gewiß, das hätte die Regierung tun können, vielleicht auch tun sollen. Ent¬<lb/> weder hätte der Reichstag zähneknirschend in den für ihn gerade doppelt sauern<lb/> Apfel gebissen, oder er hätte versagt. In dem letzten Falle hätte die Regierung<lb/> die vielleicht nicht unerwünschte Gelegenheit gehabt, in einer Frage der nationalen<lb/> Ehre an die Nation zu appellieren. Das wäre in mancher Hinsicht sogar recht<lb/> nützlich gewesen. Die Sache selbst hat aber doch noch eine andre Seite. Jede<lb/> Regierung ist verpflichtet, einem solchen Aufstande mit allen Mitteln, die in<lb/> ihrer Macht liegen, entgegenzutreten; sie bleibt sogar dazu ebenso verpflichtet wie<lb/> berechtigt, wenn das Parlament diese Mittel versagt. „Über allen Verträgen<lb/> haben die Nationen ihre Rechte" — hat uns schon Fichte gelehrt, und höher als<lb/> jeder Verfassungsparagraph steht das Recht der Nation auf die Erhaltung ihrer<lb/> Existenz und ihrer Integrität, auf die Wahrung ihrer nationalen Ehre und Würden<lb/> Das hat kein Geringrer als König Wilhelm der Erste in seiner denkwürdigen<lb/> Ansprache um die Ädreßdeputation des Abgeordnetenhauses im August 1866 aus¬<lb/> gesprochen, als er auf das damalige Jndemnitätsgesuch für die Konfliktsjahre<lb/> ausdrücklich hinweisend erklärte: „Ich habe so handeln müssen und würde wieder<lb/> so handeln, wenn es wieder notwendig werden sollte — aber, mein« Herren, es<lb/> wird nicht wieder vorkommen!" Indemnität ist, wie schon das Fremdwort sagt,<lb/> kein deutscher, sondern ein mit der konstitutionellen Schablone aus fremden Ver¬<lb/> fassungen zu uns gekommner Begriff. Im Jahre 1866 war die Indemnität am<lb/> Platze, weil der siegreich heimkehrende König hochherzigen Sinnes den innern<lb/> Konflikt schließen wollte, dessen Verlauf ihm sachlich Recht gegeben hatte. Er gab<lb/> deshalb auf Bismarcks dringenden Rat in der Form nach, zumal als Preußen<lb/> im Hinblick auf die gewaltigen Aufgaben einer großen Stunde die Sammlung aller<lb/> seiner Kräfte brauchte. Daß es dennoch Bismarck nicht leicht war, den gegen¬<lb/> teiligen Anschauungen gegenüber die seinige durchzusetzen, ist bekannt. Tut der<lb/> Reichstag nun wirklich gut daran, den Jndemnitätsbegriff so abzunutzen, daß<lb/> er ihn unter die alltägliche kleine Münze wirft? Würde die Negierung nicht<lb/> genau ebenso wie diesesmal handeln müssen, wenn etwa im nächsten Sommer ein<lb/> Aufstand in Ostafrika oder in Kamerun ausbräche? Soll sie da wirklich den<lb/> Reichstag berufen, 397 Personen im Hochsommer aus ihrer Ruhe aufscheuchen,<lb/> nur um ihnen zu sagen: Der Aufstand ist da, unsre Pflicht ist, ihn niederzu¬<lb/> schlagen. Das wird Geld kosten. Wieviel — das entzieht sich jeder Berechnung?<lb/> Eine Berufung des Reichstags bei Ausbruch eines Krieges mit einer auswärtigen<lb/> Macht ist selbstverständlich. Die Niederschlagung eines Aufstands dagegen gehört so<lb/> sehr zu den Obliegenheiten, zu den Pflichten und den Rechten einer Regierung,<lb/> daß eine Berufung des Parlaments aus solchem Grunde verfassungsrechtlich nicht<lb/> unbedingt nötig ist, so wenig wie etwa bei großen Hochwasserverheerungen oder<lb/> bei Ausbruch einer Epidemie.</p><lb/> <p xml:id="ID_757" next="#ID_758"> In England würde das Parlament vielleicht bei Ausbruch eines AufstandS<lb/> 6n Irland, kaum aber bei Ausbruch eines solchen in Indien einberufen werden,</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1905 24</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0185]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichstag um nachträgliche Bewilligung der gemachten Ausgaben angeht? Daß
alle Ausgaben — bei uns wie in England — formell der vorherigen Ge¬
nehmigung des Parlaments unterliegen sollen, wird im Prinzip gewiß niemand
anzweifeln. Aber Staatsnotwendigkeiten stehn über dem bureaukratischen For¬
malismus, über dem staatlichen wie dem parlamentarische!!. Gewiß hätte die Re¬
gierung im Sommer den Reichstag einberufen und ihm sagen können: „Hört einmal,
die Geschichte in Südwestafrika wächst uns dank eurer bisherige» Kuauserei und
sonstigen Unverstands über den Kopf, wir müssen jetzt einige tausend, vielleicht zehn¬
tausend Mann unterhalten nebst allem, was sonst noch dort zum Kriegführen ge¬
hört. Das wird einige hundert Millionen kosten, wieviel — das kann im voraus
kein Mensch wissen, also bewilligt uns einstweilen so und so viel Millionen und
gebt uns die Genehmigung, daß wir den Aufstand mit allen Mittel» nieder¬
schlagen."
Gewiß, das hätte die Regierung tun können, vielleicht auch tun sollen. Ent¬
weder hätte der Reichstag zähneknirschend in den für ihn gerade doppelt sauern
Apfel gebissen, oder er hätte versagt. In dem letzten Falle hätte die Regierung
die vielleicht nicht unerwünschte Gelegenheit gehabt, in einer Frage der nationalen
Ehre an die Nation zu appellieren. Das wäre in mancher Hinsicht sogar recht
nützlich gewesen. Die Sache selbst hat aber doch noch eine andre Seite. Jede
Regierung ist verpflichtet, einem solchen Aufstande mit allen Mitteln, die in
ihrer Macht liegen, entgegenzutreten; sie bleibt sogar dazu ebenso verpflichtet wie
berechtigt, wenn das Parlament diese Mittel versagt. „Über allen Verträgen
haben die Nationen ihre Rechte" — hat uns schon Fichte gelehrt, und höher als
jeder Verfassungsparagraph steht das Recht der Nation auf die Erhaltung ihrer
Existenz und ihrer Integrität, auf die Wahrung ihrer nationalen Ehre und Würden
Das hat kein Geringrer als König Wilhelm der Erste in seiner denkwürdigen
Ansprache um die Ädreßdeputation des Abgeordnetenhauses im August 1866 aus¬
gesprochen, als er auf das damalige Jndemnitätsgesuch für die Konfliktsjahre
ausdrücklich hinweisend erklärte: „Ich habe so handeln müssen und würde wieder
so handeln, wenn es wieder notwendig werden sollte — aber, mein« Herren, es
wird nicht wieder vorkommen!" Indemnität ist, wie schon das Fremdwort sagt,
kein deutscher, sondern ein mit der konstitutionellen Schablone aus fremden Ver¬
fassungen zu uns gekommner Begriff. Im Jahre 1866 war die Indemnität am
Platze, weil der siegreich heimkehrende König hochherzigen Sinnes den innern
Konflikt schließen wollte, dessen Verlauf ihm sachlich Recht gegeben hatte. Er gab
deshalb auf Bismarcks dringenden Rat in der Form nach, zumal als Preußen
im Hinblick auf die gewaltigen Aufgaben einer großen Stunde die Sammlung aller
seiner Kräfte brauchte. Daß es dennoch Bismarck nicht leicht war, den gegen¬
teiligen Anschauungen gegenüber die seinige durchzusetzen, ist bekannt. Tut der
Reichstag nun wirklich gut daran, den Jndemnitätsbegriff so abzunutzen, daß
er ihn unter die alltägliche kleine Münze wirft? Würde die Negierung nicht
genau ebenso wie diesesmal handeln müssen, wenn etwa im nächsten Sommer ein
Aufstand in Ostafrika oder in Kamerun ausbräche? Soll sie da wirklich den
Reichstag berufen, 397 Personen im Hochsommer aus ihrer Ruhe aufscheuchen,
nur um ihnen zu sagen: Der Aufstand ist da, unsre Pflicht ist, ihn niederzu¬
schlagen. Das wird Geld kosten. Wieviel — das entzieht sich jeder Berechnung?
Eine Berufung des Reichstags bei Ausbruch eines Krieges mit einer auswärtigen
Macht ist selbstverständlich. Die Niederschlagung eines Aufstands dagegen gehört so
sehr zu den Obliegenheiten, zu den Pflichten und den Rechten einer Regierung,
daß eine Berufung des Parlaments aus solchem Grunde verfassungsrechtlich nicht
unbedingt nötig ist, so wenig wie etwa bei großen Hochwasserverheerungen oder
bei Ausbruch einer Epidemie.
In England würde das Parlament vielleicht bei Ausbruch eines AufstandS
6n Irland, kaum aber bei Ausbruch eines solchen in Indien einberufen werden,
Grenzboten I 1905 24
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