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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

die lustige alte Senne vergessen haben, die sie unter ihren steinernen Straßen be¬
gruben, so vergessen die Brüßler auch ihre alte Verte Allele, deun nur wenige
leben noch, die sie in ihrer Glanzzeit gekannt haben. Und ihr könnt singen, wie
meine Tochter, das Truitje, schon sang:


Mus u'irons plus xroravnsiö
^. I'Vsi-es ^IIsis --

Und der Justizpalast, Großmutter!

Der?

Neugierig schielte Fiutje nach der Großmutter hinüber, nun wird die böse,
sie kannte das schon.

Ein gieriges Ungeheuer ist der steinerne Koloß, der Justizpalast! Wer hat
sie geheißen, den unverschämten Riesen in unser Viertel hineinzuschieben? Konnten
sie ihn nicht auf einen ihrer großen, menschenleeren Zierplätze stellen? Mußte er
gerade uns armem Volk unser bißchen Raum und Licht noch schmälern? Die
Häuser haben sie uns niedergerissen, gänge- und gassenweise, um ihm einen freien
Stand zu schaffen. Wie ein König sollte er dastehn, einsam und frei und stolz.
Weg mit den schiefen, armseligen Häusern, seine Majestät verlangt Raum! Reißt
sie nieder, fegt den Boden rein, das häßliche Zwergenvolk beengt den steinernen
König. Weg mit euch, hinunter, hinunter, die Stufen hinab, da unten, da seht,
wie ihr Platz findet; da schachtelt euch ein! Da dürft ihr herumkriechen zu Füßen
der steinernen Majestät, freut euch doch, ihr armseliges Gewürm, unter seinem
Schatten dürft ihr fortan leben!

Wir aber freuten uns nicht. Wir hatten unsre elenden alten Häuser lieb,
unsre dunkeln Gänge und Sackgassen, in denen unsre Eltern und Großeltern schon
gewohnt hatten. Wir wollten uns unser armseliges Eigentum, das uns wert
war, nicht entreißen lassen. Seht, da oben hat mein Haus gestanden, wo jetzt
die Sonne den glatten steinernen Umgang des Justizpalastes bescheint, mein
Truitje ist darin zur Welt gekommen, mein Mann darin gestorben, und mein
Eigentum wars. Hört ihr, mein Eigentum! Mühselig genug erworben! Also
wollt ichs nicht hergeben. Ich wollte nicht. Die Nachbarn, die keinen eignen
Willen hatten, sie räumten aus. Ich rührte keine Hand. Sie trugen mir eine
Geldsumme ins Haus mit dem Befehl, es zu räume". Ich warf ihnen das Geld
vor die Füße und ging an meinen Herd und kochte meine Suppe weiter. Was
ging mich der Justizpalast an. mochte er sehen, wie er sich mit mir niederm Nach¬
barn vertrug! Um uns herum krachten die Häuser und stürzten die Mauern, und
der Weiße Staub flog uns in die Fenster herein. "Laß sie morden, wir bleiben,"
sagte ich zum Truitje, das sich fürchtete. Rings um uns wurde es licht. Die
Kammer, die früher dunkel gewesen war, wurde hell. Sieh, wie vornehm wir
werden, sagte ich, sie schaffen uns freien Raum, uns und dem Justizpalast! Ich
lachte noch, da kamen sie mit ihren Beilen und Äxten und eisernen Hacken, und
es ging ein Krachen durch die alten Wände, daß das Kind laut aufschrie und
hinauslief. Ich aber blieb, wo ich war. Von draußen schrie das Kind: "Mutter,
Mutter, komm doch!" Ich hörte es wohl, aber ich wollte nicht, sie sollten mir
mein Eigentum nicht nehmen, auch für Geld uicht. Es kamen aber vier Männer
ins Haus hinein, die hoben mich mitsamt dem Stuhl, ans dem ich saß, in die
Höhe und trugen mich heraus. Sie wollten lachen dabei, ich aber Hab ihnen ge¬
flucht, daß ihnen das Lachen im Hals stecken geblieben ist.

Brüssel, das neue, vornehme, das mag sich brüsten mit seinem Justizpalast,
uns Marolliens aber ist er ein böses Gesicht. Wir haben einen Fußtritt
bekommen, den wir nicht verwinden werden. Ich weiß die Zeit noch, da wir
stolz waren, Marolliens zu sein. Heute sind wir sehr klein geworden, sehr klein!
Aber das kümmert euch Kinder nicht, ihr habt die alten Zeiten nicht gekannt.
Ihr fühlt nichts und denkt nichts, euch brennts nicht im Herzen wie mir, das
Damalige, das Vergangne!


Grenzboten I 1905 15
Im alten Brüssel

die lustige alte Senne vergessen haben, die sie unter ihren steinernen Straßen be¬
gruben, so vergessen die Brüßler auch ihre alte Verte Allele, deun nur wenige
leben noch, die sie in ihrer Glanzzeit gekannt haben. Und ihr könnt singen, wie
meine Tochter, das Truitje, schon sang:


Mus u'irons plus xroravnsiö
^. I'Vsi-es ^IIsis —

Und der Justizpalast, Großmutter!

Der?

Neugierig schielte Fiutje nach der Großmutter hinüber, nun wird die böse,
sie kannte das schon.

Ein gieriges Ungeheuer ist der steinerne Koloß, der Justizpalast! Wer hat
sie geheißen, den unverschämten Riesen in unser Viertel hineinzuschieben? Konnten
sie ihn nicht auf einen ihrer großen, menschenleeren Zierplätze stellen? Mußte er
gerade uns armem Volk unser bißchen Raum und Licht noch schmälern? Die
Häuser haben sie uns niedergerissen, gänge- und gassenweise, um ihm einen freien
Stand zu schaffen. Wie ein König sollte er dastehn, einsam und frei und stolz.
Weg mit den schiefen, armseligen Häusern, seine Majestät verlangt Raum! Reißt
sie nieder, fegt den Boden rein, das häßliche Zwergenvolk beengt den steinernen
König. Weg mit euch, hinunter, hinunter, die Stufen hinab, da unten, da seht,
wie ihr Platz findet; da schachtelt euch ein! Da dürft ihr herumkriechen zu Füßen
der steinernen Majestät, freut euch doch, ihr armseliges Gewürm, unter seinem
Schatten dürft ihr fortan leben!

Wir aber freuten uns nicht. Wir hatten unsre elenden alten Häuser lieb,
unsre dunkeln Gänge und Sackgassen, in denen unsre Eltern und Großeltern schon
gewohnt hatten. Wir wollten uns unser armseliges Eigentum, das uns wert
war, nicht entreißen lassen. Seht, da oben hat mein Haus gestanden, wo jetzt
die Sonne den glatten steinernen Umgang des Justizpalastes bescheint, mein
Truitje ist darin zur Welt gekommen, mein Mann darin gestorben, und mein
Eigentum wars. Hört ihr, mein Eigentum! Mühselig genug erworben! Also
wollt ichs nicht hergeben. Ich wollte nicht. Die Nachbarn, die keinen eignen
Willen hatten, sie räumten aus. Ich rührte keine Hand. Sie trugen mir eine
Geldsumme ins Haus mit dem Befehl, es zu räume». Ich warf ihnen das Geld
vor die Füße und ging an meinen Herd und kochte meine Suppe weiter. Was
ging mich der Justizpalast an. mochte er sehen, wie er sich mit mir niederm Nach¬
barn vertrug! Um uns herum krachten die Häuser und stürzten die Mauern, und
der Weiße Staub flog uns in die Fenster herein. „Laß sie morden, wir bleiben,"
sagte ich zum Truitje, das sich fürchtete. Rings um uns wurde es licht. Die
Kammer, die früher dunkel gewesen war, wurde hell. Sieh, wie vornehm wir
werden, sagte ich, sie schaffen uns freien Raum, uns und dem Justizpalast! Ich
lachte noch, da kamen sie mit ihren Beilen und Äxten und eisernen Hacken, und
es ging ein Krachen durch die alten Wände, daß das Kind laut aufschrie und
hinauslief. Ich aber blieb, wo ich war. Von draußen schrie das Kind: „Mutter,
Mutter, komm doch!" Ich hörte es wohl, aber ich wollte nicht, sie sollten mir
mein Eigentum nicht nehmen, auch für Geld uicht. Es kamen aber vier Männer
ins Haus hinein, die hoben mich mitsamt dem Stuhl, ans dem ich saß, in die
Höhe und trugen mich heraus. Sie wollten lachen dabei, ich aber Hab ihnen ge¬
flucht, daß ihnen das Lachen im Hals stecken geblieben ist.

Brüssel, das neue, vornehme, das mag sich brüsten mit seinem Justizpalast,
uns Marolliens aber ist er ein böses Gesicht. Wir haben einen Fußtritt
bekommen, den wir nicht verwinden werden. Ich weiß die Zeit noch, da wir
stolz waren, Marolliens zu sein. Heute sind wir sehr klein geworden, sehr klein!
Aber das kümmert euch Kinder nicht, ihr habt die alten Zeiten nicht gekannt.
Ihr fühlt nichts und denkt nichts, euch brennts nicht im Herzen wie mir, das
Damalige, das Vergangne!


Grenzboten I 1905 15
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[0117] Im alten Brüssel die lustige alte Senne vergessen haben, die sie unter ihren steinernen Straßen be¬ gruben, so vergessen die Brüßler auch ihre alte Verte Allele, deun nur wenige leben noch, die sie in ihrer Glanzzeit gekannt haben. Und ihr könnt singen, wie meine Tochter, das Truitje, schon sang: Mus u'irons plus xroravnsiö ^. I'Vsi-es ^IIsis — Und der Justizpalast, Großmutter! Der? Neugierig schielte Fiutje nach der Großmutter hinüber, nun wird die böse, sie kannte das schon. Ein gieriges Ungeheuer ist der steinerne Koloß, der Justizpalast! Wer hat sie geheißen, den unverschämten Riesen in unser Viertel hineinzuschieben? Konnten sie ihn nicht auf einen ihrer großen, menschenleeren Zierplätze stellen? Mußte er gerade uns armem Volk unser bißchen Raum und Licht noch schmälern? Die Häuser haben sie uns niedergerissen, gänge- und gassenweise, um ihm einen freien Stand zu schaffen. Wie ein König sollte er dastehn, einsam und frei und stolz. Weg mit den schiefen, armseligen Häusern, seine Majestät verlangt Raum! Reißt sie nieder, fegt den Boden rein, das häßliche Zwergenvolk beengt den steinernen König. Weg mit euch, hinunter, hinunter, die Stufen hinab, da unten, da seht, wie ihr Platz findet; da schachtelt euch ein! Da dürft ihr herumkriechen zu Füßen der steinernen Majestät, freut euch doch, ihr armseliges Gewürm, unter seinem Schatten dürft ihr fortan leben! Wir aber freuten uns nicht. Wir hatten unsre elenden alten Häuser lieb, unsre dunkeln Gänge und Sackgassen, in denen unsre Eltern und Großeltern schon gewohnt hatten. Wir wollten uns unser armseliges Eigentum, das uns wert war, nicht entreißen lassen. Seht, da oben hat mein Haus gestanden, wo jetzt die Sonne den glatten steinernen Umgang des Justizpalastes bescheint, mein Truitje ist darin zur Welt gekommen, mein Mann darin gestorben, und mein Eigentum wars. Hört ihr, mein Eigentum! Mühselig genug erworben! Also wollt ichs nicht hergeben. Ich wollte nicht. Die Nachbarn, die keinen eignen Willen hatten, sie räumten aus. Ich rührte keine Hand. Sie trugen mir eine Geldsumme ins Haus mit dem Befehl, es zu räume». Ich warf ihnen das Geld vor die Füße und ging an meinen Herd und kochte meine Suppe weiter. Was ging mich der Justizpalast an. mochte er sehen, wie er sich mit mir niederm Nach¬ barn vertrug! Um uns herum krachten die Häuser und stürzten die Mauern, und der Weiße Staub flog uns in die Fenster herein. „Laß sie morden, wir bleiben," sagte ich zum Truitje, das sich fürchtete. Rings um uns wurde es licht. Die Kammer, die früher dunkel gewesen war, wurde hell. Sieh, wie vornehm wir werden, sagte ich, sie schaffen uns freien Raum, uns und dem Justizpalast! Ich lachte noch, da kamen sie mit ihren Beilen und Äxten und eisernen Hacken, und es ging ein Krachen durch die alten Wände, daß das Kind laut aufschrie und hinauslief. Ich aber blieb, wo ich war. Von draußen schrie das Kind: „Mutter, Mutter, komm doch!" Ich hörte es wohl, aber ich wollte nicht, sie sollten mir mein Eigentum nicht nehmen, auch für Geld uicht. Es kamen aber vier Männer ins Haus hinein, die hoben mich mitsamt dem Stuhl, ans dem ich saß, in die Höhe und trugen mich heraus. Sie wollten lachen dabei, ich aber Hab ihnen ge¬ flucht, daß ihnen das Lachen im Hals stecken geblieben ist. Brüssel, das neue, vornehme, das mag sich brüsten mit seinem Justizpalast, uns Marolliens aber ist er ein böses Gesicht. Wir haben einen Fußtritt bekommen, den wir nicht verwinden werden. Ich weiß die Zeit noch, da wir stolz waren, Marolliens zu sein. Heute sind wir sehr klein geworden, sehr klein! Aber das kümmert euch Kinder nicht, ihr habt die alten Zeiten nicht gekannt. Ihr fühlt nichts und denkt nichts, euch brennts nicht im Herzen wie mir, das Damalige, das Vergangne! Grenzboten I 1905 15

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/117>, abgerufen am 22.12.2024.