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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Zwei Psychologen

Ursache, hierüber zu trauern. Das jetzige Deutschland darf, obschon es ja nicht
einmal das Großdeutschland ist, das sich die politischen Idealisten aus der
Mitte des vorigen Jahrhunderts erträumten, als mächtig genug gelten, einer
Welt von Feinden zu trotzen -- warum in doktrinärer Weise alle Kleinstaaterei
im Inland und an den Grenzen ausrotten, da diese doch auch ihre entschiednen
Vorteile hat?




Zwei Psychologen

^M?i cum heute in Frankreich von Psychologie die Rede ist, so meint
man die von Ribot und seiner Schule; Ribot hat die alte Schul¬
psychologie durch die physiologische Psychologie der Engländer und
der Deutschen verdrängt, schreibt Dr. Krauß im Vorwort zu
seinem Werke: Theodule Ribots Psychologie (Jena, Hermann
Costenoble, 1905). Indem wir versuchen, den Standpunkt und die Methode
des französischen Forschers durch Mitteilung einiger seiner Ansichten wenigstens
andeutungsweise zu charakterisieren, halten wir uns an ein Werk von ihm
selbst: Psychologie der Gefühle von Th. Ribot, übersetzt von Chr. Ufer
(Altenburg, Oskar Bombe, 1903). Obwohl wir an philosophischen Büchern
von deutschen Verfassern wahrhaftig keinen Mangel haben, ist doch die Über¬
setzung dieses französischen Werkes nicht als eine überflüssige Arbeit zu be¬
zeichnen. Denn die Gefühle waren bisher das am wenigsten durchforschte Ge¬
biet -- die sie behandelnden Schriften machen nach Ribot von der neuern
psychologischen Literatur uoch nicht den zwanzigsten Teil aus --, und das
Werk enthält eine vollständige Übersicht über die Ergebnisse der französischen,
englischen, deutschen und skandinavischen Forscher.

Fühlen, denken, begehren, die drei Lebensformen der seelischen Dreieinigkeit
(Ribot sagt, Dreieinigkeit, im theologischen Sinne, weil keine ohne die beiden
andern vorkommt, und doch jede etwas von den andern verschiednes ist), kann
man nicht definieren. Jeder kennt sie aus eigner Erfahrung und weiß, wenn
der Name ausgesprochen wird, was damit gemeint ist. Will man durch¬
aus eine Definition von Gefühl versuchen, so kann man allenfalls sagen:
es ist das Innewerden eines körperlichen oder seelischen Zustandes. Ribot
würde das "oder" vielleicht nicht ganz korrekt finden, denn er hält jedes
Gefühl für das Innewerden eines leiblichen Zustandes. "Wenn man aus der
täglichen Erfahrung aufs Geratewohl Zustünde herausgreift, die unter den
schwankenden Bezeichnungen Gefühle, Gemütsbewegungen und Leidenschaften
bekannt sind, wie Freude und Traurigkeit, Zahnschmerz und die angenehme
Empfindung des Wohlgeruchs, Liebe oder Zorn, Furcht oder Ehrgeiz, ästhetischer
Genuß, religiöse Rührung, so bemerkt man zunächst bei oberflächlicher Musterung,
daß alle diese Zustande zwei Seiten haben, nämlich eine objektive oder äußere
und eine subjektive oder innere. Wir bemerken zunächst motorische Äußerungen
wie Gliederbewegungen, Gebärden, eine bestimmte Haltung des Körpers, Ver-


Zwei Psychologen

Ursache, hierüber zu trauern. Das jetzige Deutschland darf, obschon es ja nicht
einmal das Großdeutschland ist, das sich die politischen Idealisten aus der
Mitte des vorigen Jahrhunderts erträumten, als mächtig genug gelten, einer
Welt von Feinden zu trotzen — warum in doktrinärer Weise alle Kleinstaaterei
im Inland und an den Grenzen ausrotten, da diese doch auch ihre entschiednen
Vorteile hat?




Zwei Psychologen

^M?i cum heute in Frankreich von Psychologie die Rede ist, so meint
man die von Ribot und seiner Schule; Ribot hat die alte Schul¬
psychologie durch die physiologische Psychologie der Engländer und
der Deutschen verdrängt, schreibt Dr. Krauß im Vorwort zu
seinem Werke: Theodule Ribots Psychologie (Jena, Hermann
Costenoble, 1905). Indem wir versuchen, den Standpunkt und die Methode
des französischen Forschers durch Mitteilung einiger seiner Ansichten wenigstens
andeutungsweise zu charakterisieren, halten wir uns an ein Werk von ihm
selbst: Psychologie der Gefühle von Th. Ribot, übersetzt von Chr. Ufer
(Altenburg, Oskar Bombe, 1903). Obwohl wir an philosophischen Büchern
von deutschen Verfassern wahrhaftig keinen Mangel haben, ist doch die Über¬
setzung dieses französischen Werkes nicht als eine überflüssige Arbeit zu be¬
zeichnen. Denn die Gefühle waren bisher das am wenigsten durchforschte Ge¬
biet — die sie behandelnden Schriften machen nach Ribot von der neuern
psychologischen Literatur uoch nicht den zwanzigsten Teil aus —, und das
Werk enthält eine vollständige Übersicht über die Ergebnisse der französischen,
englischen, deutschen und skandinavischen Forscher.

Fühlen, denken, begehren, die drei Lebensformen der seelischen Dreieinigkeit
(Ribot sagt, Dreieinigkeit, im theologischen Sinne, weil keine ohne die beiden
andern vorkommt, und doch jede etwas von den andern verschiednes ist), kann
man nicht definieren. Jeder kennt sie aus eigner Erfahrung und weiß, wenn
der Name ausgesprochen wird, was damit gemeint ist. Will man durch¬
aus eine Definition von Gefühl versuchen, so kann man allenfalls sagen:
es ist das Innewerden eines körperlichen oder seelischen Zustandes. Ribot
würde das „oder" vielleicht nicht ganz korrekt finden, denn er hält jedes
Gefühl für das Innewerden eines leiblichen Zustandes. „Wenn man aus der
täglichen Erfahrung aufs Geratewohl Zustünde herausgreift, die unter den
schwankenden Bezeichnungen Gefühle, Gemütsbewegungen und Leidenschaften
bekannt sind, wie Freude und Traurigkeit, Zahnschmerz und die angenehme
Empfindung des Wohlgeruchs, Liebe oder Zorn, Furcht oder Ehrgeiz, ästhetischer
Genuß, religiöse Rührung, so bemerkt man zunächst bei oberflächlicher Musterung,
daß alle diese Zustande zwei Seiten haben, nämlich eine objektive oder äußere
und eine subjektive oder innere. Wir bemerken zunächst motorische Äußerungen
wie Gliederbewegungen, Gebärden, eine bestimmte Haltung des Körpers, Ver-


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[0712] Zwei Psychologen Ursache, hierüber zu trauern. Das jetzige Deutschland darf, obschon es ja nicht einmal das Großdeutschland ist, das sich die politischen Idealisten aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts erträumten, als mächtig genug gelten, einer Welt von Feinden zu trotzen — warum in doktrinärer Weise alle Kleinstaaterei im Inland und an den Grenzen ausrotten, da diese doch auch ihre entschiednen Vorteile hat? Zwei Psychologen ^M?i cum heute in Frankreich von Psychologie die Rede ist, so meint man die von Ribot und seiner Schule; Ribot hat die alte Schul¬ psychologie durch die physiologische Psychologie der Engländer und der Deutschen verdrängt, schreibt Dr. Krauß im Vorwort zu seinem Werke: Theodule Ribots Psychologie (Jena, Hermann Costenoble, 1905). Indem wir versuchen, den Standpunkt und die Methode des französischen Forschers durch Mitteilung einiger seiner Ansichten wenigstens andeutungsweise zu charakterisieren, halten wir uns an ein Werk von ihm selbst: Psychologie der Gefühle von Th. Ribot, übersetzt von Chr. Ufer (Altenburg, Oskar Bombe, 1903). Obwohl wir an philosophischen Büchern von deutschen Verfassern wahrhaftig keinen Mangel haben, ist doch die Über¬ setzung dieses französischen Werkes nicht als eine überflüssige Arbeit zu be¬ zeichnen. Denn die Gefühle waren bisher das am wenigsten durchforschte Ge¬ biet — die sie behandelnden Schriften machen nach Ribot von der neuern psychologischen Literatur uoch nicht den zwanzigsten Teil aus —, und das Werk enthält eine vollständige Übersicht über die Ergebnisse der französischen, englischen, deutschen und skandinavischen Forscher. Fühlen, denken, begehren, die drei Lebensformen der seelischen Dreieinigkeit (Ribot sagt, Dreieinigkeit, im theologischen Sinne, weil keine ohne die beiden andern vorkommt, und doch jede etwas von den andern verschiednes ist), kann man nicht definieren. Jeder kennt sie aus eigner Erfahrung und weiß, wenn der Name ausgesprochen wird, was damit gemeint ist. Will man durch¬ aus eine Definition von Gefühl versuchen, so kann man allenfalls sagen: es ist das Innewerden eines körperlichen oder seelischen Zustandes. Ribot würde das „oder" vielleicht nicht ganz korrekt finden, denn er hält jedes Gefühl für das Innewerden eines leiblichen Zustandes. „Wenn man aus der täglichen Erfahrung aufs Geratewohl Zustünde herausgreift, die unter den schwankenden Bezeichnungen Gefühle, Gemütsbewegungen und Leidenschaften bekannt sind, wie Freude und Traurigkeit, Zahnschmerz und die angenehme Empfindung des Wohlgeruchs, Liebe oder Zorn, Furcht oder Ehrgeiz, ästhetischer Genuß, religiöse Rührung, so bemerkt man zunächst bei oberflächlicher Musterung, daß alle diese Zustande zwei Seiten haben, nämlich eine objektive oder äußere und eine subjektive oder innere. Wir bemerken zunächst motorische Äußerungen wie Gliederbewegungen, Gebärden, eine bestimmte Haltung des Körpers, Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/712>, abgerufen am 28.09.2024.