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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

sondern aus Dorpat, das -- eine Oase in der Wüste -- ihm doch so viele tüchtige
Männer geliefert hat?

Sicherlich wird auch Rußland schließlich neugekräftigt aus dieser Krisis hervor¬
gehn, die vielleicht notwendig war, die kranken und wunden Stellen am Staatskörper
der trügerischen Hülle zu entkleiden und sie in ihrer ganzen Gefährlichkeit bloßzulegen.
Deutschland kann aus politischen wie aus wirtschaftlichen Gründen nur wünschen, daß
in dem östlichen Nachbarreiche bald wieder gefestigte Zustände eintreten mögen, wobei
wir uns keineswegs verhehlen wollen, daß ein liberal, womöglich konstitutionell
regiertes Rußland uns bet weitem nicht so freundlich gesinnt sein wird, wie es das
zarische mit geringen Ausnahmen gewesen ist. Die populären Strömungen in den
breitern Massen werden sich mehr gegen Deutschland richten und die Koketterie mit
der französischen Republik, die die Zaren widerwillig über sich haben ergehn lassen,
um so aufrichtiger betreiben. Hierzu kommt dann noch die größere Rolle, die das
polnische Element zu gewinnen wissen wird. Wie jetzt schon einer Führung in der
Presse wird es sich auch einer solchen in den zu schaffenden Vertretungskörpern zu
bemächtigen suchen, wenn es nicht etwa vorziehn sollte, die Schwäche der russischen
Staatsgewalt zu einer neuen revolutionären Erhebung zu benutzen, für die der
Augenblick gekommen wäre, bevor Rußland neu erstarkt und Kräfte gewinnt.

Alle diese Verhältnisse legen uns in Deutschland die Pflicht zur innern Samm¬
lung doppelt nahe. Niemand kann wissen, welchen Gefahren Deutschland in den
nächsten Jahren gegenüberstehn mag, denen gegenüber unser gesamter innerer Partei¬
hader als ein Nichts verschwindet. Deshalb ist es auch von hohem Werte, daß
die Landtagssession ohne Disharmonien ausgeklungen ist, und daß das Herrenhaus
die Berggesetznovelle angenommen hat, so groß und so gerechtfertigt die Bedenken
dagegen auch gewesen sein mögen. Ein Teil der Presse hat aus dem Umstände,
daß der Vorwärts und andre sozialdemokratische Blätter, auch Redner der Partei,
an dem Gesetzentwurf kein gutes Haar ließen, folgern zu müssen geglaubt, daß sich
die Vorlage schon aus diesem Grunde, wegen des Mißfallens der Sozialdemokratin
zur Annahme empfehle. Über diese sozialdemokratische Taktik sollten sich unsre Politiker
doch endlich klar sein. Die Soztaldemokraten schimpfen auf jedes sozialpolitische Gesetz,
stimmen im Reichstage dagegen, weil sie dann um so sicherer sind, daß die andern
Parteien es annehmen. Gesetzentwürfe, die die Ideale der Sozialdemokratie ver¬
wirklichen, sind ja nicht zu erwarten, deshalb sind die Genossen innerlich froh über
jede Abschlagszahlung, die ihnen entgegengebracht wird, wobei sie freilich kräftig der
Vorlage fluchen, die ihnen statt Brot Steine gewähre. Es ist das für sie immer
das sicherste Mittel, die Annahme eines Gesetzes herbeizuführen, dessen Ablehnung
sie sonst vielleicht mit Sicherheit zu gewärtigen hätten. Die Genossen lachen sich
hinterher in die Faust. Sie selbst stimmen niemals für eine Vorlage, um nicht
damit indirekt zuzugeben, daß die Regierung etwas "zur Befriedigung des Volkes"
getan habe, von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen, bei denen es eben nicht
anders ging. Würden die staatserhaltenden Parteien konsequent jede sozialpolitische
Vorlage ablehnen, ans die die Sozialdemokraten schimpfen, so würde man sehr
bald erleben, daß diese die Mehrzahl solcher Vorlagen zu retten suchen dürften,
die ihnen ja doch mehr oder minder sämtlich Sprossen an der Leiter sind. Freilich,
müssen sie Regierungsvorlagen, wenn auch unter Protest, annehmen, so würden
sie das Agitationsmaterial verlieren, das sie sich jetzt dadurch zu erhalten wissen,
daß sie den Inhalt der ihnen höchst willkommnen Gesetze verwerfen, zugleich aber
die Annahme dem "dummen Bourgeois" überlassen.

Nationalliberale Stimmen haben jüngst wieder einmal den üblichen Chorgesang
angestimmt, mit dem sie in ziemlich regelmäßigen Intervallen den Diätenkultus zu
begleiten Pflege". Die Kölnische Zeitung hatte ihnen entgegengehalten, daß damit
auch nichts gewonnen sei, und daß die große Zahl von Doppelmandaten, Reichstag
und Landtag, die Diäten um so überflüssiger mache. Auch liege gerade hierin für
die Beschlußfähigkeit eine große Erschwerung. In andern nationalliberalen Organen


Grenzboten III 1905 7
Maßgebliches und Unmaßgebliches

sondern aus Dorpat, das — eine Oase in der Wüste — ihm doch so viele tüchtige
Männer geliefert hat?

Sicherlich wird auch Rußland schließlich neugekräftigt aus dieser Krisis hervor¬
gehn, die vielleicht notwendig war, die kranken und wunden Stellen am Staatskörper
der trügerischen Hülle zu entkleiden und sie in ihrer ganzen Gefährlichkeit bloßzulegen.
Deutschland kann aus politischen wie aus wirtschaftlichen Gründen nur wünschen, daß
in dem östlichen Nachbarreiche bald wieder gefestigte Zustände eintreten mögen, wobei
wir uns keineswegs verhehlen wollen, daß ein liberal, womöglich konstitutionell
regiertes Rußland uns bet weitem nicht so freundlich gesinnt sein wird, wie es das
zarische mit geringen Ausnahmen gewesen ist. Die populären Strömungen in den
breitern Massen werden sich mehr gegen Deutschland richten und die Koketterie mit
der französischen Republik, die die Zaren widerwillig über sich haben ergehn lassen,
um so aufrichtiger betreiben. Hierzu kommt dann noch die größere Rolle, die das
polnische Element zu gewinnen wissen wird. Wie jetzt schon einer Führung in der
Presse wird es sich auch einer solchen in den zu schaffenden Vertretungskörpern zu
bemächtigen suchen, wenn es nicht etwa vorziehn sollte, die Schwäche der russischen
Staatsgewalt zu einer neuen revolutionären Erhebung zu benutzen, für die der
Augenblick gekommen wäre, bevor Rußland neu erstarkt und Kräfte gewinnt.

Alle diese Verhältnisse legen uns in Deutschland die Pflicht zur innern Samm¬
lung doppelt nahe. Niemand kann wissen, welchen Gefahren Deutschland in den
nächsten Jahren gegenüberstehn mag, denen gegenüber unser gesamter innerer Partei¬
hader als ein Nichts verschwindet. Deshalb ist es auch von hohem Werte, daß
die Landtagssession ohne Disharmonien ausgeklungen ist, und daß das Herrenhaus
die Berggesetznovelle angenommen hat, so groß und so gerechtfertigt die Bedenken
dagegen auch gewesen sein mögen. Ein Teil der Presse hat aus dem Umstände,
daß der Vorwärts und andre sozialdemokratische Blätter, auch Redner der Partei,
an dem Gesetzentwurf kein gutes Haar ließen, folgern zu müssen geglaubt, daß sich
die Vorlage schon aus diesem Grunde, wegen des Mißfallens der Sozialdemokratin
zur Annahme empfehle. Über diese sozialdemokratische Taktik sollten sich unsre Politiker
doch endlich klar sein. Die Soztaldemokraten schimpfen auf jedes sozialpolitische Gesetz,
stimmen im Reichstage dagegen, weil sie dann um so sicherer sind, daß die andern
Parteien es annehmen. Gesetzentwürfe, die die Ideale der Sozialdemokratie ver¬
wirklichen, sind ja nicht zu erwarten, deshalb sind die Genossen innerlich froh über
jede Abschlagszahlung, die ihnen entgegengebracht wird, wobei sie freilich kräftig der
Vorlage fluchen, die ihnen statt Brot Steine gewähre. Es ist das für sie immer
das sicherste Mittel, die Annahme eines Gesetzes herbeizuführen, dessen Ablehnung
sie sonst vielleicht mit Sicherheit zu gewärtigen hätten. Die Genossen lachen sich
hinterher in die Faust. Sie selbst stimmen niemals für eine Vorlage, um nicht
damit indirekt zuzugeben, daß die Regierung etwas „zur Befriedigung des Volkes"
getan habe, von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen, bei denen es eben nicht
anders ging. Würden die staatserhaltenden Parteien konsequent jede sozialpolitische
Vorlage ablehnen, ans die die Sozialdemokraten schimpfen, so würde man sehr
bald erleben, daß diese die Mehrzahl solcher Vorlagen zu retten suchen dürften,
die ihnen ja doch mehr oder minder sämtlich Sprossen an der Leiter sind. Freilich,
müssen sie Regierungsvorlagen, wenn auch unter Protest, annehmen, so würden
sie das Agitationsmaterial verlieren, das sie sich jetzt dadurch zu erhalten wissen,
daß sie den Inhalt der ihnen höchst willkommnen Gesetze verwerfen, zugleich aber
die Annahme dem „dummen Bourgeois" überlassen.

Nationalliberale Stimmen haben jüngst wieder einmal den üblichen Chorgesang
angestimmt, mit dem sie in ziemlich regelmäßigen Intervallen den Diätenkultus zu
begleiten Pflege«. Die Kölnische Zeitung hatte ihnen entgegengehalten, daß damit
auch nichts gewonnen sei, und daß die große Zahl von Doppelmandaten, Reichstag
und Landtag, die Diäten um so überflüssiger mache. Auch liege gerade hierin für
die Beschlußfähigkeit eine große Erschwerung. In andern nationalliberalen Organen


Grenzboten III 1905 7
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[0057] Maßgebliches und Unmaßgebliches sondern aus Dorpat, das — eine Oase in der Wüste — ihm doch so viele tüchtige Männer geliefert hat? Sicherlich wird auch Rußland schließlich neugekräftigt aus dieser Krisis hervor¬ gehn, die vielleicht notwendig war, die kranken und wunden Stellen am Staatskörper der trügerischen Hülle zu entkleiden und sie in ihrer ganzen Gefährlichkeit bloßzulegen. Deutschland kann aus politischen wie aus wirtschaftlichen Gründen nur wünschen, daß in dem östlichen Nachbarreiche bald wieder gefestigte Zustände eintreten mögen, wobei wir uns keineswegs verhehlen wollen, daß ein liberal, womöglich konstitutionell regiertes Rußland uns bet weitem nicht so freundlich gesinnt sein wird, wie es das zarische mit geringen Ausnahmen gewesen ist. Die populären Strömungen in den breitern Massen werden sich mehr gegen Deutschland richten und die Koketterie mit der französischen Republik, die die Zaren widerwillig über sich haben ergehn lassen, um so aufrichtiger betreiben. Hierzu kommt dann noch die größere Rolle, die das polnische Element zu gewinnen wissen wird. Wie jetzt schon einer Führung in der Presse wird es sich auch einer solchen in den zu schaffenden Vertretungskörpern zu bemächtigen suchen, wenn es nicht etwa vorziehn sollte, die Schwäche der russischen Staatsgewalt zu einer neuen revolutionären Erhebung zu benutzen, für die der Augenblick gekommen wäre, bevor Rußland neu erstarkt und Kräfte gewinnt. Alle diese Verhältnisse legen uns in Deutschland die Pflicht zur innern Samm¬ lung doppelt nahe. Niemand kann wissen, welchen Gefahren Deutschland in den nächsten Jahren gegenüberstehn mag, denen gegenüber unser gesamter innerer Partei¬ hader als ein Nichts verschwindet. Deshalb ist es auch von hohem Werte, daß die Landtagssession ohne Disharmonien ausgeklungen ist, und daß das Herrenhaus die Berggesetznovelle angenommen hat, so groß und so gerechtfertigt die Bedenken dagegen auch gewesen sein mögen. Ein Teil der Presse hat aus dem Umstände, daß der Vorwärts und andre sozialdemokratische Blätter, auch Redner der Partei, an dem Gesetzentwurf kein gutes Haar ließen, folgern zu müssen geglaubt, daß sich die Vorlage schon aus diesem Grunde, wegen des Mißfallens der Sozialdemokratin zur Annahme empfehle. Über diese sozialdemokratische Taktik sollten sich unsre Politiker doch endlich klar sein. Die Soztaldemokraten schimpfen auf jedes sozialpolitische Gesetz, stimmen im Reichstage dagegen, weil sie dann um so sicherer sind, daß die andern Parteien es annehmen. Gesetzentwürfe, die die Ideale der Sozialdemokratie ver¬ wirklichen, sind ja nicht zu erwarten, deshalb sind die Genossen innerlich froh über jede Abschlagszahlung, die ihnen entgegengebracht wird, wobei sie freilich kräftig der Vorlage fluchen, die ihnen statt Brot Steine gewähre. Es ist das für sie immer das sicherste Mittel, die Annahme eines Gesetzes herbeizuführen, dessen Ablehnung sie sonst vielleicht mit Sicherheit zu gewärtigen hätten. Die Genossen lachen sich hinterher in die Faust. Sie selbst stimmen niemals für eine Vorlage, um nicht damit indirekt zuzugeben, daß die Regierung etwas „zur Befriedigung des Volkes" getan habe, von ganz vereinzelten Ausnahmen abgesehen, bei denen es eben nicht anders ging. Würden die staatserhaltenden Parteien konsequent jede sozialpolitische Vorlage ablehnen, ans die die Sozialdemokraten schimpfen, so würde man sehr bald erleben, daß diese die Mehrzahl solcher Vorlagen zu retten suchen dürften, die ihnen ja doch mehr oder minder sämtlich Sprossen an der Leiter sind. Freilich, müssen sie Regierungsvorlagen, wenn auch unter Protest, annehmen, so würden sie das Agitationsmaterial verlieren, das sie sich jetzt dadurch zu erhalten wissen, daß sie den Inhalt der ihnen höchst willkommnen Gesetze verwerfen, zugleich aber die Annahme dem „dummen Bourgeois" überlassen. Nationalliberale Stimmen haben jüngst wieder einmal den üblichen Chorgesang angestimmt, mit dem sie in ziemlich regelmäßigen Intervallen den Diätenkultus zu begleiten Pflege«. Die Kölnische Zeitung hatte ihnen entgegengehalten, daß damit auch nichts gewonnen sei, und daß die große Zahl von Doppelmandaten, Reichstag und Landtag, die Diäten um so überflüssiger mache. Auch liege gerade hierin für die Beschlußfähigkeit eine große Erschwerung. In andern nationalliberalen Organen Grenzboten III 1905 7

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/57>, abgerufen am 19.10.2024.