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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gefahr" in keiner Weise besteht. Für die nicht englische politische Welt bleibt
mit der Tatsache zu rechnen, daß England durch die unverhoffte äußere und innere
Schwächung Rußlands eine unerwartete weite Ellbogenfreiheit gewonnen hat, deren
Ausnutzung für ehrgeizige und entschlossene britische Staatsmänner eine große Ver¬
suchung ist. Seit Peter dem Großen hat es uoch keinen einzigen Augenblick ge¬
geben, wo Rußland so vollständig aus deu Berechnungen der großen Politik aus¬
geschieden gewesen wäre, wie gegenwärtig.

Mögen immerhin zahlreiche Vorgänge der jüngsten Zeit durch maßlose Über¬
treibungen in der Presse ein völlig entstelltes Aussehen gewonnen haben, die Tat¬
sache bleibt bestehn, daß die Regieruugsnnfähigkeit im Zarenreiche einen sehr hohen
Grad erreicht hat -- am deutlichsten illustriert durch den Umstand, daß, während
beim Tode des Kaisers Alexander des Zweiten ein fertiger Verfassungsentwurf
vorlag, die jetzige Regierung in sechs Monaten nichts zustande zu bringen ver¬
mocht hat! Unsre deutsche bundesstaatliche Verfassung, die sich jetzt seit achtunddreißig
Jahren bewährt hat, ist das Werk eines halben Tags gewesen! Nun sagt man
nicht mit Unrecht: für ein Land, wo sechzig Prozent, nach andrer Version gar
neunzig Prozent der Landesangehörigen nicht lesen und schreiben können, ist eine
moderne Verfassung unmöglich. In diesem Sinne mag Zar Nikolaus im Rechte
sein mit dem Ausspruch, daß die Verfassung Rußlands eine russische sein müsse,
aber das Wichtigste wäre gewesen, daß man eine Verfassung rechtzeitig erließ,
um damit einer gefährlichen Gärung vorzubeugen. Auch im Zarenreiche kaun es
ein "zu spät" geben. Wie die Dinge heute liegen, wird auch eine Verfassung
von der verloren gegangnen Regierungsautorität mir wenig retten. In Augen¬
blicken wie der, deu Rußland gegenwärtig erlebt, ist gewiß das Wort: "Männer,
nicht Maßregeln" am Platze. Männer, die der Niesenaufgabe gewachsen sind,
scheint Rußland entweder nicht zu haben, oder man vermag sie nicht zu finden und
an die richtige Stelle zu bringen; die Maßregeln aber, zu denen man sich bisher
entschlossen hat, sind widerspruchsvoll, schwankend und ziellos. Kein beherrschender
Gedanke und keine beherrschende Hand. Dieselben Erscheinungen wie in der Bc-
fehlsführung auf dem Kriegsschauplatz spiegeln sich auch in der gesamten innern
Lage. Unnützes Blutvergießen, wo es durch geschickte Vorbeugungsmaßregeln zu ver¬
meiden gewesen wäre, und Versagen der staatlichen Autorität, wo sie notwendig
war. So ist die Marseillaise in Kronstäbe und Petersburg im Jahre 1891 doch
die Drachensaat gewesen, aus der die geharnischten Männer entstanden sind, die
demi russischen Selbstherrschertum das Ende bereiten werden. Alexander der Dritte
hat sie damals widerwillig mit angehört, heute rächt sich das, Rußland erlebt die
zweite und gewaltigere Auflage der Dekabristen, die schier unvermeidliche Frucht
seiner intimen Berührungen mit Frankreich.

Was der französische Adel am Vorabend der "großen" Revolution, das ist
die russische vornehme Welt in den letzten Jahrzehnten ihrem Lande gewesen. Auch
Ludwig der Sechzehnte war ein gutmütiger Monarch, aber ihm fehlte ebenso wie
dem heutigen Regiment in Rußland die Erkenntnis, daß Regieren Voraussehen
bedeutet, obwohl gerade die französische Sprache diesen Gedanken am prägnantesten
zum Ausdruck gebracht hat. Aus Vernachlässigung und Pflichtversäumnis ist die
Fäulnis hervorgegangen. Dazu dann die Halbheit des russischen Universitätswesens,
die in der heranreifenden Jugend alle Ideale vernichtete und dadurch das Staats¬
wesen einer seiner besten Stützen, des hingebungsvollen Idealismus, beraubt. Jeder
uniformierte russische Student, der im Sommer unsre Straßen sowie die deutscheu
und die österreichischen Bäder als eine auffallende Erscheinung belebt, ist in seiner
Person eine lebendige Anklage gegen eine selbstmörderische Regierungsform, deren
unausbleibliche Frucht, der Nihilismus, Rußland verwüstet. Ju Berlin konnte einst
Dubois-Reymond die Universität als die geistige Leibwache des Hauses Hohen-
zollern bezeichnen. Dieser eine Satz erklärt ein großes Stück unsrer Geschichte. Was
hat dagegen Nußland aus seinen Universitäten gemacht, nicht nur aus deu russischen,


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Gefahr" in keiner Weise besteht. Für die nicht englische politische Welt bleibt
mit der Tatsache zu rechnen, daß England durch die unverhoffte äußere und innere
Schwächung Rußlands eine unerwartete weite Ellbogenfreiheit gewonnen hat, deren
Ausnutzung für ehrgeizige und entschlossene britische Staatsmänner eine große Ver¬
suchung ist. Seit Peter dem Großen hat es uoch keinen einzigen Augenblick ge¬
geben, wo Rußland so vollständig aus deu Berechnungen der großen Politik aus¬
geschieden gewesen wäre, wie gegenwärtig.

Mögen immerhin zahlreiche Vorgänge der jüngsten Zeit durch maßlose Über¬
treibungen in der Presse ein völlig entstelltes Aussehen gewonnen haben, die Tat¬
sache bleibt bestehn, daß die Regieruugsnnfähigkeit im Zarenreiche einen sehr hohen
Grad erreicht hat — am deutlichsten illustriert durch den Umstand, daß, während
beim Tode des Kaisers Alexander des Zweiten ein fertiger Verfassungsentwurf
vorlag, die jetzige Regierung in sechs Monaten nichts zustande zu bringen ver¬
mocht hat! Unsre deutsche bundesstaatliche Verfassung, die sich jetzt seit achtunddreißig
Jahren bewährt hat, ist das Werk eines halben Tags gewesen! Nun sagt man
nicht mit Unrecht: für ein Land, wo sechzig Prozent, nach andrer Version gar
neunzig Prozent der Landesangehörigen nicht lesen und schreiben können, ist eine
moderne Verfassung unmöglich. In diesem Sinne mag Zar Nikolaus im Rechte
sein mit dem Ausspruch, daß die Verfassung Rußlands eine russische sein müsse,
aber das Wichtigste wäre gewesen, daß man eine Verfassung rechtzeitig erließ,
um damit einer gefährlichen Gärung vorzubeugen. Auch im Zarenreiche kaun es
ein „zu spät" geben. Wie die Dinge heute liegen, wird auch eine Verfassung
von der verloren gegangnen Regierungsautorität mir wenig retten. In Augen¬
blicken wie der, deu Rußland gegenwärtig erlebt, ist gewiß das Wort: „Männer,
nicht Maßregeln" am Platze. Männer, die der Niesenaufgabe gewachsen sind,
scheint Rußland entweder nicht zu haben, oder man vermag sie nicht zu finden und
an die richtige Stelle zu bringen; die Maßregeln aber, zu denen man sich bisher
entschlossen hat, sind widerspruchsvoll, schwankend und ziellos. Kein beherrschender
Gedanke und keine beherrschende Hand. Dieselben Erscheinungen wie in der Bc-
fehlsführung auf dem Kriegsschauplatz spiegeln sich auch in der gesamten innern
Lage. Unnützes Blutvergießen, wo es durch geschickte Vorbeugungsmaßregeln zu ver¬
meiden gewesen wäre, und Versagen der staatlichen Autorität, wo sie notwendig
war. So ist die Marseillaise in Kronstäbe und Petersburg im Jahre 1891 doch
die Drachensaat gewesen, aus der die geharnischten Männer entstanden sind, die
demi russischen Selbstherrschertum das Ende bereiten werden. Alexander der Dritte
hat sie damals widerwillig mit angehört, heute rächt sich das, Rußland erlebt die
zweite und gewaltigere Auflage der Dekabristen, die schier unvermeidliche Frucht
seiner intimen Berührungen mit Frankreich.

Was der französische Adel am Vorabend der „großen" Revolution, das ist
die russische vornehme Welt in den letzten Jahrzehnten ihrem Lande gewesen. Auch
Ludwig der Sechzehnte war ein gutmütiger Monarch, aber ihm fehlte ebenso wie
dem heutigen Regiment in Rußland die Erkenntnis, daß Regieren Voraussehen
bedeutet, obwohl gerade die französische Sprache diesen Gedanken am prägnantesten
zum Ausdruck gebracht hat. Aus Vernachlässigung und Pflichtversäumnis ist die
Fäulnis hervorgegangen. Dazu dann die Halbheit des russischen Universitätswesens,
die in der heranreifenden Jugend alle Ideale vernichtete und dadurch das Staats¬
wesen einer seiner besten Stützen, des hingebungsvollen Idealismus, beraubt. Jeder
uniformierte russische Student, der im Sommer unsre Straßen sowie die deutscheu
und die österreichischen Bäder als eine auffallende Erscheinung belebt, ist in seiner
Person eine lebendige Anklage gegen eine selbstmörderische Regierungsform, deren
unausbleibliche Frucht, der Nihilismus, Rußland verwüstet. Ju Berlin konnte einst
Dubois-Reymond die Universität als die geistige Leibwache des Hauses Hohen-
zollern bezeichnen. Dieser eine Satz erklärt ein großes Stück unsrer Geschichte. Was
hat dagegen Nußland aus seinen Universitäten gemacht, nicht nur aus deu russischen,


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[0056] Maßgebliches und Unmaßgebliches Gefahr" in keiner Weise besteht. Für die nicht englische politische Welt bleibt mit der Tatsache zu rechnen, daß England durch die unverhoffte äußere und innere Schwächung Rußlands eine unerwartete weite Ellbogenfreiheit gewonnen hat, deren Ausnutzung für ehrgeizige und entschlossene britische Staatsmänner eine große Ver¬ suchung ist. Seit Peter dem Großen hat es uoch keinen einzigen Augenblick ge¬ geben, wo Rußland so vollständig aus deu Berechnungen der großen Politik aus¬ geschieden gewesen wäre, wie gegenwärtig. Mögen immerhin zahlreiche Vorgänge der jüngsten Zeit durch maßlose Über¬ treibungen in der Presse ein völlig entstelltes Aussehen gewonnen haben, die Tat¬ sache bleibt bestehn, daß die Regieruugsnnfähigkeit im Zarenreiche einen sehr hohen Grad erreicht hat — am deutlichsten illustriert durch den Umstand, daß, während beim Tode des Kaisers Alexander des Zweiten ein fertiger Verfassungsentwurf vorlag, die jetzige Regierung in sechs Monaten nichts zustande zu bringen ver¬ mocht hat! Unsre deutsche bundesstaatliche Verfassung, die sich jetzt seit achtunddreißig Jahren bewährt hat, ist das Werk eines halben Tags gewesen! Nun sagt man nicht mit Unrecht: für ein Land, wo sechzig Prozent, nach andrer Version gar neunzig Prozent der Landesangehörigen nicht lesen und schreiben können, ist eine moderne Verfassung unmöglich. In diesem Sinne mag Zar Nikolaus im Rechte sein mit dem Ausspruch, daß die Verfassung Rußlands eine russische sein müsse, aber das Wichtigste wäre gewesen, daß man eine Verfassung rechtzeitig erließ, um damit einer gefährlichen Gärung vorzubeugen. Auch im Zarenreiche kaun es ein „zu spät" geben. Wie die Dinge heute liegen, wird auch eine Verfassung von der verloren gegangnen Regierungsautorität mir wenig retten. In Augen¬ blicken wie der, deu Rußland gegenwärtig erlebt, ist gewiß das Wort: „Männer, nicht Maßregeln" am Platze. Männer, die der Niesenaufgabe gewachsen sind, scheint Rußland entweder nicht zu haben, oder man vermag sie nicht zu finden und an die richtige Stelle zu bringen; die Maßregeln aber, zu denen man sich bisher entschlossen hat, sind widerspruchsvoll, schwankend und ziellos. Kein beherrschender Gedanke und keine beherrschende Hand. Dieselben Erscheinungen wie in der Bc- fehlsführung auf dem Kriegsschauplatz spiegeln sich auch in der gesamten innern Lage. Unnützes Blutvergießen, wo es durch geschickte Vorbeugungsmaßregeln zu ver¬ meiden gewesen wäre, und Versagen der staatlichen Autorität, wo sie notwendig war. So ist die Marseillaise in Kronstäbe und Petersburg im Jahre 1891 doch die Drachensaat gewesen, aus der die geharnischten Männer entstanden sind, die demi russischen Selbstherrschertum das Ende bereiten werden. Alexander der Dritte hat sie damals widerwillig mit angehört, heute rächt sich das, Rußland erlebt die zweite und gewaltigere Auflage der Dekabristen, die schier unvermeidliche Frucht seiner intimen Berührungen mit Frankreich. Was der französische Adel am Vorabend der „großen" Revolution, das ist die russische vornehme Welt in den letzten Jahrzehnten ihrem Lande gewesen. Auch Ludwig der Sechzehnte war ein gutmütiger Monarch, aber ihm fehlte ebenso wie dem heutigen Regiment in Rußland die Erkenntnis, daß Regieren Voraussehen bedeutet, obwohl gerade die französische Sprache diesen Gedanken am prägnantesten zum Ausdruck gebracht hat. Aus Vernachlässigung und Pflichtversäumnis ist die Fäulnis hervorgegangen. Dazu dann die Halbheit des russischen Universitätswesens, die in der heranreifenden Jugend alle Ideale vernichtete und dadurch das Staats¬ wesen einer seiner besten Stützen, des hingebungsvollen Idealismus, beraubt. Jeder uniformierte russische Student, der im Sommer unsre Straßen sowie die deutscheu und die österreichischen Bäder als eine auffallende Erscheinung belebt, ist in seiner Person eine lebendige Anklage gegen eine selbstmörderische Regierungsform, deren unausbleibliche Frucht, der Nihilismus, Rußland verwüstet. Ju Berlin konnte einst Dubois-Reymond die Universität als die geistige Leibwache des Hauses Hohen- zollern bezeichnen. Dieser eine Satz erklärt ein großes Stück unsrer Geschichte. Was hat dagegen Nußland aus seinen Universitäten gemacht, nicht nur aus deu russischen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/56>, abgerufen am 20.10.2024.