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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

gnügte sich im September 1867, den Napoleonisch-Beustscheu Konferenzen in Salz¬
burg gegenüber durch die berühmte Zirkulardepesche warnend den Finger aufzu¬
heben, im übrigen wartete sie geduldig ihrer Zeit. Charakteristisch in dieser
Beziehung ist eine Äußerung Bismarcks aus dem Jahre 1869 einem Franzosen
gegenüber, die Bernhardt nach einer Mitteilung Abekens wiedergibt. Ein Franzose
hatte dem Bundeskanzler die Situation in Paris mit den Worten geschildert: "Der
Kaiser schwankt zwischen der Lust, Ihnen den Krieg zu machen, und der Furcht,
sich mit Deutschland zu messen." Bismarck erwiderte: "Bei uns ist gerade das
Gegenteil der Fall. Wir haben weder diese Lust noch die Furcht." (vue" nous
e'the tont ^justo Is nordi-airs, nous u'g.voi>s ni estts snvis ni la ers-mes.) Demgemäß
ist denn auch der Krieg von 1870 kein "Kabinettskrieg" gewesen, wie für die
Kriege von 1864 und 1866 vielleicht behauptet werden kann, wenngleich auch sie
unabweisbaren politischen und historischen Notwendigkeiten entsprachen. Der Krieg
von 1870 war ein Volkskrieg in dem besten Sinne des Wortes, ein Ausbrennen
des heiligen Funkens vom Bodensee bis Memel, eine breite mächtige Woge der
populären Strömung, an die Bismarck wohl gedacht haben mag, als er später in das
Stammbuch des Germanischen Museums die Worte eintrug: 1'fre unes, nee rc-Kitur.
Diese breite Woge wird durch alle Zukunft auch den Deutschen Kaiser tragen müssen,
denn die europäischen Kriege des geeinten Deutschlands werden immer Existenzkämpfe
sein, für die die Nation nicht nnr den letzten Blutstropfen, sondern auch den letzten
Schlag des zornigen tat- und siegbereiten Herzens einzusetzen hat. Die deutsche
Politik wird auch in Zukunft so wenig offensiv sein, gleichviel welcher europäischen
Macht gegenüber, wie sie es nach 1866 überhaupt nicht mehr gewesen ist. Politische
Defensive kann sehr wohl zur militärischen Offensive zwingen; in der Verteidigung
seiner bedrohten oder mißachteten Rechte kann Deutschland eines Tages zu den Waffen
greifen müssen und durch Stellung eines Ultimatums einen Krieg beginnen. Das
würde aber immer nur ein Krieg des Rechts und der Ehre gegenüber fremder
Bedrohung oder Herausforderung sein.

Was die Anwendung dieser Hypothesen auf unser jetziges Verhältnis zu Frank¬
reich anlangt, so wäre eine kriegerische Entwicklung nicht nur möglich, sondern
vielleicht sogar wahrscheinlich gewesen, wenn Herr Delcasft am Ruder geblieben
Wäre, dessen Politik darauf ausging, gemeinsam mit England dem Deutschen Reiche
eine für uns unannehmbare Position zu bereiten. Herr Rouvier hat das durch¬
schaut, den Delcasseschen Faden abgeschnitten und damit dem europäischen Frieden
einen großen Dienst geleistet. Von diesem Augenblick an war die marokkanische
Frage der Möglichkeit entkleidet, zu einem Kriegsgrund aufgebauscht oder als
Kriegsvorwand mißbraucht zu werden. Nun ist auch die Annahme der Konferenz
erfolgt. Da die Beschlüsse der Konferenz einmütig gefaßt sein müssen, damit sie
für alle Beteiligten bindend sind, bleibt für friedestörende Absichten immer noch
ein weiter Spielraum. Die Frage: Was wird, wenn die Konferenz ergebnislos
bleibt? liegt gar nicht so fern. Jedoch, die Strömungen und die Persönlichkeiten,
die sich als hinreichend stark erwiesen haben, die Konferenz zustande zu bringen,
ohne daß Frankreich darin eine Niederlage zu sehen braucht, werden sich auch stark
genug erweisen, der Konferenz ein befriedigendes Ergebnis zu sichern und dem
bedeutungsvollen marokkanischen Reformwerk seinen friedlichen Weg zu ebnen. Für
die internationale Konstellation ist das jüngste Telegramm des Präsidenten Roose-
velt an Kaiser Wilhelm bei dem Besuch in Havarden wohl ebenso wenig ohne
Bedeutung wie der Umstand, daß gleichzeitig im englischen Unterhause von "notwen¬
digen Kämpfen in der Nordsee" die Rede sein konnte, ohne daß von der Negierung
anch nur der leiseste Einspruch erfolgt wäre, wie er sonst in solchen Fällen den
üblichen diplomatischen Gepflogenheiten entspricht. Mag es immerhin sein, daß das
Kabinett Balfour des Spielens mit diesem Feuer zu Wahlzwecken bedarf und sich
aus diesem Grunde gern gefallen läßt, vor der Nation als der besondre Wächter
und Hüter der Macht und der Interessen Großbritanniens zu gelten -- ein um
so billigeres Vergnügen, als die englische Regierung genau weiß, daß eine "deutsche


Maßgebliches und Unmaßgebliches

gnügte sich im September 1867, den Napoleonisch-Beustscheu Konferenzen in Salz¬
burg gegenüber durch die berühmte Zirkulardepesche warnend den Finger aufzu¬
heben, im übrigen wartete sie geduldig ihrer Zeit. Charakteristisch in dieser
Beziehung ist eine Äußerung Bismarcks aus dem Jahre 1869 einem Franzosen
gegenüber, die Bernhardt nach einer Mitteilung Abekens wiedergibt. Ein Franzose
hatte dem Bundeskanzler die Situation in Paris mit den Worten geschildert: „Der
Kaiser schwankt zwischen der Lust, Ihnen den Krieg zu machen, und der Furcht,
sich mit Deutschland zu messen." Bismarck erwiderte: „Bei uns ist gerade das
Gegenteil der Fall. Wir haben weder diese Lust noch die Furcht." (vue» nous
e'the tont ^justo Is nordi-airs, nous u'g.voi>s ni estts snvis ni la ers-mes.) Demgemäß
ist denn auch der Krieg von 1870 kein „Kabinettskrieg" gewesen, wie für die
Kriege von 1864 und 1866 vielleicht behauptet werden kann, wenngleich auch sie
unabweisbaren politischen und historischen Notwendigkeiten entsprachen. Der Krieg
von 1870 war ein Volkskrieg in dem besten Sinne des Wortes, ein Ausbrennen
des heiligen Funkens vom Bodensee bis Memel, eine breite mächtige Woge der
populären Strömung, an die Bismarck wohl gedacht haben mag, als er später in das
Stammbuch des Germanischen Museums die Worte eintrug: 1'fre unes, nee rc-Kitur.
Diese breite Woge wird durch alle Zukunft auch den Deutschen Kaiser tragen müssen,
denn die europäischen Kriege des geeinten Deutschlands werden immer Existenzkämpfe
sein, für die die Nation nicht nnr den letzten Blutstropfen, sondern auch den letzten
Schlag des zornigen tat- und siegbereiten Herzens einzusetzen hat. Die deutsche
Politik wird auch in Zukunft so wenig offensiv sein, gleichviel welcher europäischen
Macht gegenüber, wie sie es nach 1866 überhaupt nicht mehr gewesen ist. Politische
Defensive kann sehr wohl zur militärischen Offensive zwingen; in der Verteidigung
seiner bedrohten oder mißachteten Rechte kann Deutschland eines Tages zu den Waffen
greifen müssen und durch Stellung eines Ultimatums einen Krieg beginnen. Das
würde aber immer nur ein Krieg des Rechts und der Ehre gegenüber fremder
Bedrohung oder Herausforderung sein.

Was die Anwendung dieser Hypothesen auf unser jetziges Verhältnis zu Frank¬
reich anlangt, so wäre eine kriegerische Entwicklung nicht nur möglich, sondern
vielleicht sogar wahrscheinlich gewesen, wenn Herr Delcasft am Ruder geblieben
Wäre, dessen Politik darauf ausging, gemeinsam mit England dem Deutschen Reiche
eine für uns unannehmbare Position zu bereiten. Herr Rouvier hat das durch¬
schaut, den Delcasseschen Faden abgeschnitten und damit dem europäischen Frieden
einen großen Dienst geleistet. Von diesem Augenblick an war die marokkanische
Frage der Möglichkeit entkleidet, zu einem Kriegsgrund aufgebauscht oder als
Kriegsvorwand mißbraucht zu werden. Nun ist auch die Annahme der Konferenz
erfolgt. Da die Beschlüsse der Konferenz einmütig gefaßt sein müssen, damit sie
für alle Beteiligten bindend sind, bleibt für friedestörende Absichten immer noch
ein weiter Spielraum. Die Frage: Was wird, wenn die Konferenz ergebnislos
bleibt? liegt gar nicht so fern. Jedoch, die Strömungen und die Persönlichkeiten,
die sich als hinreichend stark erwiesen haben, die Konferenz zustande zu bringen,
ohne daß Frankreich darin eine Niederlage zu sehen braucht, werden sich auch stark
genug erweisen, der Konferenz ein befriedigendes Ergebnis zu sichern und dem
bedeutungsvollen marokkanischen Reformwerk seinen friedlichen Weg zu ebnen. Für
die internationale Konstellation ist das jüngste Telegramm des Präsidenten Roose-
velt an Kaiser Wilhelm bei dem Besuch in Havarden wohl ebenso wenig ohne
Bedeutung wie der Umstand, daß gleichzeitig im englischen Unterhause von „notwen¬
digen Kämpfen in der Nordsee" die Rede sein konnte, ohne daß von der Negierung
anch nur der leiseste Einspruch erfolgt wäre, wie er sonst in solchen Fällen den
üblichen diplomatischen Gepflogenheiten entspricht. Mag es immerhin sein, daß das
Kabinett Balfour des Spielens mit diesem Feuer zu Wahlzwecken bedarf und sich
aus diesem Grunde gern gefallen läßt, vor der Nation als der besondre Wächter
und Hüter der Macht und der Interessen Großbritanniens zu gelten — ein um
so billigeres Vergnügen, als die englische Regierung genau weiß, daß eine „deutsche


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[0055] Maßgebliches und Unmaßgebliches gnügte sich im September 1867, den Napoleonisch-Beustscheu Konferenzen in Salz¬ burg gegenüber durch die berühmte Zirkulardepesche warnend den Finger aufzu¬ heben, im übrigen wartete sie geduldig ihrer Zeit. Charakteristisch in dieser Beziehung ist eine Äußerung Bismarcks aus dem Jahre 1869 einem Franzosen gegenüber, die Bernhardt nach einer Mitteilung Abekens wiedergibt. Ein Franzose hatte dem Bundeskanzler die Situation in Paris mit den Worten geschildert: „Der Kaiser schwankt zwischen der Lust, Ihnen den Krieg zu machen, und der Furcht, sich mit Deutschland zu messen." Bismarck erwiderte: „Bei uns ist gerade das Gegenteil der Fall. Wir haben weder diese Lust noch die Furcht." (vue» nous e'the tont ^justo Is nordi-airs, nous u'g.voi>s ni estts snvis ni la ers-mes.) Demgemäß ist denn auch der Krieg von 1870 kein „Kabinettskrieg" gewesen, wie für die Kriege von 1864 und 1866 vielleicht behauptet werden kann, wenngleich auch sie unabweisbaren politischen und historischen Notwendigkeiten entsprachen. Der Krieg von 1870 war ein Volkskrieg in dem besten Sinne des Wortes, ein Ausbrennen des heiligen Funkens vom Bodensee bis Memel, eine breite mächtige Woge der populären Strömung, an die Bismarck wohl gedacht haben mag, als er später in das Stammbuch des Germanischen Museums die Worte eintrug: 1'fre unes, nee rc-Kitur. Diese breite Woge wird durch alle Zukunft auch den Deutschen Kaiser tragen müssen, denn die europäischen Kriege des geeinten Deutschlands werden immer Existenzkämpfe sein, für die die Nation nicht nnr den letzten Blutstropfen, sondern auch den letzten Schlag des zornigen tat- und siegbereiten Herzens einzusetzen hat. Die deutsche Politik wird auch in Zukunft so wenig offensiv sein, gleichviel welcher europäischen Macht gegenüber, wie sie es nach 1866 überhaupt nicht mehr gewesen ist. Politische Defensive kann sehr wohl zur militärischen Offensive zwingen; in der Verteidigung seiner bedrohten oder mißachteten Rechte kann Deutschland eines Tages zu den Waffen greifen müssen und durch Stellung eines Ultimatums einen Krieg beginnen. Das würde aber immer nur ein Krieg des Rechts und der Ehre gegenüber fremder Bedrohung oder Herausforderung sein. Was die Anwendung dieser Hypothesen auf unser jetziges Verhältnis zu Frank¬ reich anlangt, so wäre eine kriegerische Entwicklung nicht nur möglich, sondern vielleicht sogar wahrscheinlich gewesen, wenn Herr Delcasft am Ruder geblieben Wäre, dessen Politik darauf ausging, gemeinsam mit England dem Deutschen Reiche eine für uns unannehmbare Position zu bereiten. Herr Rouvier hat das durch¬ schaut, den Delcasseschen Faden abgeschnitten und damit dem europäischen Frieden einen großen Dienst geleistet. Von diesem Augenblick an war die marokkanische Frage der Möglichkeit entkleidet, zu einem Kriegsgrund aufgebauscht oder als Kriegsvorwand mißbraucht zu werden. Nun ist auch die Annahme der Konferenz erfolgt. Da die Beschlüsse der Konferenz einmütig gefaßt sein müssen, damit sie für alle Beteiligten bindend sind, bleibt für friedestörende Absichten immer noch ein weiter Spielraum. Die Frage: Was wird, wenn die Konferenz ergebnislos bleibt? liegt gar nicht so fern. Jedoch, die Strömungen und die Persönlichkeiten, die sich als hinreichend stark erwiesen haben, die Konferenz zustande zu bringen, ohne daß Frankreich darin eine Niederlage zu sehen braucht, werden sich auch stark genug erweisen, der Konferenz ein befriedigendes Ergebnis zu sichern und dem bedeutungsvollen marokkanischen Reformwerk seinen friedlichen Weg zu ebnen. Für die internationale Konstellation ist das jüngste Telegramm des Präsidenten Roose- velt an Kaiser Wilhelm bei dem Besuch in Havarden wohl ebenso wenig ohne Bedeutung wie der Umstand, daß gleichzeitig im englischen Unterhause von „notwen¬ digen Kämpfen in der Nordsee" die Rede sein konnte, ohne daß von der Negierung anch nur der leiseste Einspruch erfolgt wäre, wie er sonst in solchen Fällen den üblichen diplomatischen Gepflogenheiten entspricht. Mag es immerhin sein, daß das Kabinett Balfour des Spielens mit diesem Feuer zu Wahlzwecken bedarf und sich aus diesem Grunde gern gefallen läßt, vor der Nation als der besondre Wächter und Hüter der Macht und der Interessen Großbritanniens zu gelten — ein um so billigeres Vergnügen, als die englische Regierung genau weiß, daß eine „deutsche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/55>, abgerufen am 19.10.2024.