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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Aare und d!e Musik

Seid Ihr Papist? so läßt ihn Strindberg antworten: "Ich weiß nicht, was das
ist. Ich bin ein Zuschauer, der seine Vernunft behält, wenn andre sie ver¬
lieren; ich bin nichts von dem, was du glaubst, und du findest keinen Namen
für mich, der paßt. Alles, was Ihr sagt, ist leerer Schall; und die Wege,
die Ihr geht, führen nicht dorthin, wohin Ihr glaubt. Der, der ist, war und
sein wird, lächelt über Euch, aber er benutzt Euch!" Strindberg ist offenbar
nicht bloß ein Dichter, sondern auch ein Denker und ein ehrlicher Forscher,
L. I. lind es lohnt die Mühe, ihm einige Stunden zu widmen.




Kant und die Musik

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UM
Mils Begründer der modernen Ästhetik hat Kant auch auf das
musikalische Urteil großen Einfluß geübt. Versteckt zwar aber
stark wirkte seine Lehre bis in die neuste Zeit, hauptsächlich mit
Sätzen, die von ihm entlehnt waren, wurde noch die neudeutsche
! Schule Richard Wagners und Franz Liszts bekämpft. Darum
ist es sehr willkommen zu heißen, daß die Säkularfeier Kants wenigstens eine
Arbeit über seine Stellung zur Musik gebracht hat; wenn auch knapp gehalten,
ist sie doch um so erfreulicher, als sie von Hermann Kretzschmar herrührt, die
Frage an der Wurzel packt und zudem eine Fülle allgemein klärender Ge¬
danken birgt.*)

Kretzschmar stellt sich vom Standpunkte des Musikers aus Kant gegenüber.
So kommt er zunächst zu der Frage über dessen persönliches Verhältnis zur
Tonkunst, und aus dieser erwächst die Forderung, daß die musikalische Urteils¬
fähigkeit der Philosophen erst geprüft werden müsse, ehe man ihre Sätze an¬
erkenne und darauf weiterbaue. Diese Forderung auszusprechen ist heute um
so notwendiger, als die Musiker oft in äußerlicher Nachahmung Wagners
blindlings für alles, was Philosophie heißt, schwärmen. Sogar ein Geschicht¬
schreiber der modernen Musikästhetik scheint sich nicht völlig darüber klar ge¬
wesen zu sein, daß eine stichhaltige Musikästhetik nur auf Grund genauer
Kenntnis und wirklichen Verständnisses der Musik möglich ist, wenn er sich
zu folgendem Vergleich versteigt: "Wie der Arzt, ohne selbst krank zu sein, die
Gründe und den Verlauf der Krankheit besser kennt als der Patient, so war
es den großen Philosophen beschieden, das Wesen des Schönen mit dem Ver¬
stände tiefer zu durchdringen als die Künstler."**) Treffend bemerkt dagegen
Kretzschmar: "Um die Philosophen als die gebornen musikalischen Ärzte an¬
zuerkennen, braucht es Sicherheit, daß sie die Musik so genau studiert haben
und kennen, wie die Mediziner den gesunden und kranken Menschen, und daß
bei ihren musikalischen Nichtersprüchen prozessuale Irrtümer ausgeschlossen sind.




*) Hermann Kretzschmar i "I. Kants Musikausfassung und ihr Einfluß auf die folgende
Zeit" im Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1904 (Leipzig, 190S),
Paul Moos im Vorwort zu der "Modernen Musikästhetik in Deutschland" (Leipzig, 1902).
Aare und d!e Musik

Seid Ihr Papist? so läßt ihn Strindberg antworten: „Ich weiß nicht, was das
ist. Ich bin ein Zuschauer, der seine Vernunft behält, wenn andre sie ver¬
lieren; ich bin nichts von dem, was du glaubst, und du findest keinen Namen
für mich, der paßt. Alles, was Ihr sagt, ist leerer Schall; und die Wege,
die Ihr geht, führen nicht dorthin, wohin Ihr glaubt. Der, der ist, war und
sein wird, lächelt über Euch, aber er benutzt Euch!" Strindberg ist offenbar
nicht bloß ein Dichter, sondern auch ein Denker und ein ehrlicher Forscher,
L. I. lind es lohnt die Mühe, ihm einige Stunden zu widmen.




Kant und die Musik

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UM
Mils Begründer der modernen Ästhetik hat Kant auch auf das
musikalische Urteil großen Einfluß geübt. Versteckt zwar aber
stark wirkte seine Lehre bis in die neuste Zeit, hauptsächlich mit
Sätzen, die von ihm entlehnt waren, wurde noch die neudeutsche
! Schule Richard Wagners und Franz Liszts bekämpft. Darum
ist es sehr willkommen zu heißen, daß die Säkularfeier Kants wenigstens eine
Arbeit über seine Stellung zur Musik gebracht hat; wenn auch knapp gehalten,
ist sie doch um so erfreulicher, als sie von Hermann Kretzschmar herrührt, die
Frage an der Wurzel packt und zudem eine Fülle allgemein klärender Ge¬
danken birgt.*)

Kretzschmar stellt sich vom Standpunkte des Musikers aus Kant gegenüber.
So kommt er zunächst zu der Frage über dessen persönliches Verhältnis zur
Tonkunst, und aus dieser erwächst die Forderung, daß die musikalische Urteils¬
fähigkeit der Philosophen erst geprüft werden müsse, ehe man ihre Sätze an¬
erkenne und darauf weiterbaue. Diese Forderung auszusprechen ist heute um
so notwendiger, als die Musiker oft in äußerlicher Nachahmung Wagners
blindlings für alles, was Philosophie heißt, schwärmen. Sogar ein Geschicht¬
schreiber der modernen Musikästhetik scheint sich nicht völlig darüber klar ge¬
wesen zu sein, daß eine stichhaltige Musikästhetik nur auf Grund genauer
Kenntnis und wirklichen Verständnisses der Musik möglich ist, wenn er sich
zu folgendem Vergleich versteigt: „Wie der Arzt, ohne selbst krank zu sein, die
Gründe und den Verlauf der Krankheit besser kennt als der Patient, so war
es den großen Philosophen beschieden, das Wesen des Schönen mit dem Ver¬
stände tiefer zu durchdringen als die Künstler."**) Treffend bemerkt dagegen
Kretzschmar: „Um die Philosophen als die gebornen musikalischen Ärzte an¬
zuerkennen, braucht es Sicherheit, daß sie die Musik so genau studiert haben
und kennen, wie die Mediziner den gesunden und kranken Menschen, und daß
bei ihren musikalischen Nichtersprüchen prozessuale Irrtümer ausgeschlossen sind.




*) Hermann Kretzschmar i „I. Kants Musikausfassung und ihr Einfluß auf die folgende
Zeit" im Jahrbuch der Musikbibliothek Peters für 1904 (Leipzig, 190S),
Paul Moos im Vorwort zu der „Modernen Musikästhetik in Deutschland" (Leipzig, 1902).
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/40>, abgerufen am 19.10.2024.