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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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England ans neuen weltpolitischen Pfaden

Man hat oft darauf hingewiesen, daß der Krimkrieg, der so wenig an
der Karte Europas änderte, die Ursache der folgenreichsten Umgestaltungen
wurde. Die Einigung Italiens, die Besiegung Österreichs und Frankreichs
durch das sich einigende Deutschland wurden möglich dadurch, daß Kaiser
Nikolaus der Erste die Rolle eines Schiedsrichters in Europa verlor. Ob
der ostasiatische Krieg so weit in die Ferne wirkt, muß man abwarten. Einige
bedeutsame Folgen sind schon erkennbar. Als sich Rußland im Kampfe mit
Japan festbiß, als es den Krieg unter so unglücklichen Auspizien eröffnete,
mußte Frankreich die Hoffnung auf seine Partnerschaft bei der großen Ab¬
rechnung mit Deutschland sinken lassen. Diesen Augenblick nahm England
wahr und unterbreitete dem Nebenbuhler eines halben Jahrtausends einen
Verständigungsplan, worin Marokko die Hauptrolle spielte. England zielte auf
einen hohen, doppelten Zweck. Einmal wollte es den Zweibund sprengen,
und sodann wollte es sich aus seiner europäischen Isolierung befreien, es wollte
Frankreich zu sich herüberziehn, um ein Bündnis gegen andre Gefahren zu
gewinnen.

Es heißt immer, England habe bei dem Vertrag an sich das günstigere
Los gezogen, weil es Ägypten erlangt habe, während Frankreich bestenfalls
das weit weniger wertvolle Marokko erwerbe, vielleicht aber dieses sich ent-
gehn lassen müsse. Ob Marokko weniger wertvoll ist, bleibe dahingestellt.
Als die beiden Mächte den Vertrag schlössen, nahmen sie an, daß die Er¬
werbung sachte und ohne Aufhebens vor sich gehn und keiner Störung unter¬
liegen werde. Aber es ist falsch, daß England erst dnrch den Vertrag in den
Besitz Ägyptens gelangt wäre. Es war dort längst doux xosssssor und hätte
sich nicht daraus vertreiben lassen. Die formelle Anerkennung des Besitzrechts
durch Frankreich war ein Gewinn von nicht allzu hohem Belang. Dagegen
opferte England mit Marokko viel. Es bekam zum Nachbar auf der andern
Seite der Straße von Gibraltar eine Großmacht; die Verpflichtung, Tanger
nicht in einen Kriegshafen zu verwandeln, stand doch immer nur auf dem
Papier. Ebenso die Verpflichtung, für dreißig Jahre den Freihandel zu be¬
wahren. Was sind dreißig Jahre im Völkerleben!

England zahlte diesen hohen Preis, um einen hohen Gegenwert dafür zu
erlangen. Es wollte Frankreich der russischen Umarmung entreißen und es
an seine eigne Brust ziehn. Nur teilweise ist ihm das gelungen. Die Voll¬
ständigkeit des Erfolges scheiterte nicht so sehr daran, daß Frankreich noch
immer auf Rußland hoffte, als daß ihm das Bündnis gegen Deutschland doch
etwas gewagt vorkam. England mußte, um den Wert seines Bündnisses zu
steigern, alles aufbieten, Marokko dem deutschen Widerspruch zum Trotz in die
Hände Frankreichs zu bringen. Je schwerer die deutsche Einsprache wog, um
so wertvoller mußte den Franzosen die englische Hilfe werden, vorausgesetzt
daß schließlich das Ziel erreicht wurde. Es mußte den Briten daran liegen,
Frankreich und Deutschland zu entzweien, um Frankreich desto fester an sich zu
fesseln. Darin sind die Regierung und die öffentliche Meinung Hand in Hand
gegangen. Durch die eilige Ablehnung der voni Sultan angeregten Konferenz
hat die Regierung bewiesen, daß sie gänzlich im Fahrwasser der Times segelt.


England ans neuen weltpolitischen Pfaden

Man hat oft darauf hingewiesen, daß der Krimkrieg, der so wenig an
der Karte Europas änderte, die Ursache der folgenreichsten Umgestaltungen
wurde. Die Einigung Italiens, die Besiegung Österreichs und Frankreichs
durch das sich einigende Deutschland wurden möglich dadurch, daß Kaiser
Nikolaus der Erste die Rolle eines Schiedsrichters in Europa verlor. Ob
der ostasiatische Krieg so weit in die Ferne wirkt, muß man abwarten. Einige
bedeutsame Folgen sind schon erkennbar. Als sich Rußland im Kampfe mit
Japan festbiß, als es den Krieg unter so unglücklichen Auspizien eröffnete,
mußte Frankreich die Hoffnung auf seine Partnerschaft bei der großen Ab¬
rechnung mit Deutschland sinken lassen. Diesen Augenblick nahm England
wahr und unterbreitete dem Nebenbuhler eines halben Jahrtausends einen
Verständigungsplan, worin Marokko die Hauptrolle spielte. England zielte auf
einen hohen, doppelten Zweck. Einmal wollte es den Zweibund sprengen,
und sodann wollte es sich aus seiner europäischen Isolierung befreien, es wollte
Frankreich zu sich herüberziehn, um ein Bündnis gegen andre Gefahren zu
gewinnen.

Es heißt immer, England habe bei dem Vertrag an sich das günstigere
Los gezogen, weil es Ägypten erlangt habe, während Frankreich bestenfalls
das weit weniger wertvolle Marokko erwerbe, vielleicht aber dieses sich ent-
gehn lassen müsse. Ob Marokko weniger wertvoll ist, bleibe dahingestellt.
Als die beiden Mächte den Vertrag schlössen, nahmen sie an, daß die Er¬
werbung sachte und ohne Aufhebens vor sich gehn und keiner Störung unter¬
liegen werde. Aber es ist falsch, daß England erst dnrch den Vertrag in den
Besitz Ägyptens gelangt wäre. Es war dort längst doux xosssssor und hätte
sich nicht daraus vertreiben lassen. Die formelle Anerkennung des Besitzrechts
durch Frankreich war ein Gewinn von nicht allzu hohem Belang. Dagegen
opferte England mit Marokko viel. Es bekam zum Nachbar auf der andern
Seite der Straße von Gibraltar eine Großmacht; die Verpflichtung, Tanger
nicht in einen Kriegshafen zu verwandeln, stand doch immer nur auf dem
Papier. Ebenso die Verpflichtung, für dreißig Jahre den Freihandel zu be¬
wahren. Was sind dreißig Jahre im Völkerleben!

England zahlte diesen hohen Preis, um einen hohen Gegenwert dafür zu
erlangen. Es wollte Frankreich der russischen Umarmung entreißen und es
an seine eigne Brust ziehn. Nur teilweise ist ihm das gelungen. Die Voll¬
ständigkeit des Erfolges scheiterte nicht so sehr daran, daß Frankreich noch
immer auf Rußland hoffte, als daß ihm das Bündnis gegen Deutschland doch
etwas gewagt vorkam. England mußte, um den Wert seines Bündnisses zu
steigern, alles aufbieten, Marokko dem deutschen Widerspruch zum Trotz in die
Hände Frankreichs zu bringen. Je schwerer die deutsche Einsprache wog, um
so wertvoller mußte den Franzosen die englische Hilfe werden, vorausgesetzt
daß schließlich das Ziel erreicht wurde. Es mußte den Briten daran liegen,
Frankreich und Deutschland zu entzweien, um Frankreich desto fester an sich zu
fesseln. Darin sind die Regierung und die öffentliche Meinung Hand in Hand
gegangen. Durch die eilige Ablehnung der voni Sultan angeregten Konferenz
hat die Regierung bewiesen, daß sie gänzlich im Fahrwasser der Times segelt.


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[0023] England ans neuen weltpolitischen Pfaden Man hat oft darauf hingewiesen, daß der Krimkrieg, der so wenig an der Karte Europas änderte, die Ursache der folgenreichsten Umgestaltungen wurde. Die Einigung Italiens, die Besiegung Österreichs und Frankreichs durch das sich einigende Deutschland wurden möglich dadurch, daß Kaiser Nikolaus der Erste die Rolle eines Schiedsrichters in Europa verlor. Ob der ostasiatische Krieg so weit in die Ferne wirkt, muß man abwarten. Einige bedeutsame Folgen sind schon erkennbar. Als sich Rußland im Kampfe mit Japan festbiß, als es den Krieg unter so unglücklichen Auspizien eröffnete, mußte Frankreich die Hoffnung auf seine Partnerschaft bei der großen Ab¬ rechnung mit Deutschland sinken lassen. Diesen Augenblick nahm England wahr und unterbreitete dem Nebenbuhler eines halben Jahrtausends einen Verständigungsplan, worin Marokko die Hauptrolle spielte. England zielte auf einen hohen, doppelten Zweck. Einmal wollte es den Zweibund sprengen, und sodann wollte es sich aus seiner europäischen Isolierung befreien, es wollte Frankreich zu sich herüberziehn, um ein Bündnis gegen andre Gefahren zu gewinnen. Es heißt immer, England habe bei dem Vertrag an sich das günstigere Los gezogen, weil es Ägypten erlangt habe, während Frankreich bestenfalls das weit weniger wertvolle Marokko erwerbe, vielleicht aber dieses sich ent- gehn lassen müsse. Ob Marokko weniger wertvoll ist, bleibe dahingestellt. Als die beiden Mächte den Vertrag schlössen, nahmen sie an, daß die Er¬ werbung sachte und ohne Aufhebens vor sich gehn und keiner Störung unter¬ liegen werde. Aber es ist falsch, daß England erst dnrch den Vertrag in den Besitz Ägyptens gelangt wäre. Es war dort längst doux xosssssor und hätte sich nicht daraus vertreiben lassen. Die formelle Anerkennung des Besitzrechts durch Frankreich war ein Gewinn von nicht allzu hohem Belang. Dagegen opferte England mit Marokko viel. Es bekam zum Nachbar auf der andern Seite der Straße von Gibraltar eine Großmacht; die Verpflichtung, Tanger nicht in einen Kriegshafen zu verwandeln, stand doch immer nur auf dem Papier. Ebenso die Verpflichtung, für dreißig Jahre den Freihandel zu be¬ wahren. Was sind dreißig Jahre im Völkerleben! England zahlte diesen hohen Preis, um einen hohen Gegenwert dafür zu erlangen. Es wollte Frankreich der russischen Umarmung entreißen und es an seine eigne Brust ziehn. Nur teilweise ist ihm das gelungen. Die Voll¬ ständigkeit des Erfolges scheiterte nicht so sehr daran, daß Frankreich noch immer auf Rußland hoffte, als daß ihm das Bündnis gegen Deutschland doch etwas gewagt vorkam. England mußte, um den Wert seines Bündnisses zu steigern, alles aufbieten, Marokko dem deutschen Widerspruch zum Trotz in die Hände Frankreichs zu bringen. Je schwerer die deutsche Einsprache wog, um so wertvoller mußte den Franzosen die englische Hilfe werden, vorausgesetzt daß schließlich das Ziel erreicht wurde. Es mußte den Briten daran liegen, Frankreich und Deutschland zu entzweien, um Frankreich desto fester an sich zu fesseln. Darin sind die Regierung und die öffentliche Meinung Hand in Hand gegangen. Durch die eilige Ablehnung der voni Sultan angeregten Konferenz hat die Regierung bewiesen, daß sie gänzlich im Fahrwasser der Times segelt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/23>, abgerufen am 19.10.2024.