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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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scheidungskampf um Indien und Ostasien führen zu müssen erwartete, hat es
sich niemals um dessen Seerüstung aufgeregt. Auch als der Zweibund entstand
und damit die Möglichkeit eines Krieges der ersten Seemacht gegen die
Koalition der zweiten und der dritten Macht am Horizont erschien, hörte man
nichts davon, daß sich England um die Sicherheit seines Heimatbodens sorge.
Gegenwärtig geht die amerikanische Kriegsflotte mit Riesenschritten einem An¬
wachsen auf den zweiten Platz im Range der Seemächte entgegen. Der
Marinesekretür Taft hob es in seinem Jahresbericht rühmend hervor, daß für die
amerikanische Marine mehr Schiffe vom Stapel gelaufen seien als für irgend¬
eine andre auf der Welt. Das rührt England nicht, obgleich der Panamerikanis-
mus und der Imperialismus manches bedrohliche für das britische Reich ent¬
halten. Amerikas Macht liegt in seinen materiellen Hilfsmitteln; sie sind um
so furchtbarer, als diese reiche Nation von 80 Millionen Einwohnern kein
nennenswertes stehendes Heer zu unterhalten braucht. Deutschland wendet
jetzt an dauernden und einmaligen Ausgaben für seine Kriegsflotte 229 Millionen
auf, England 850. Wenn Deutschland zu höhern Zahlen gelangen sollte,
würde England unfehlbar ansteigen. Aber Deutschland ist durch seine ganzen
materiellen Verhältnisse, durch die Notwendigkeit, 645 Millionen Mark auf
sein Heer zu verwenden, der Möglichkeit von Mehraufwendungen, die gegen
die britischen Summen irgend etwas verschlügen, gänzlich entrückt. Die Ver¬
einigten Staaten können das, aber nicht gegen sie wenden sich britische Be¬
sorgnisse, sondern gegen Deutschland.

Es müssen ethische Gründe sein, die zu einem so befremdenden Geistes¬
zustand geführt haben. Und eben hier ist der Punkt, wo man auf deutscher
Seite, namentlich in der Presse, große Fehler gemacht hat. Doch nicht darauf
wollen wir heute näher eingehn, sondern auf die nunmehr entstandne politische
Situation.

Solange noch Nußland in dem Nimbus einer übergewaltigen Großmacht
dastand, der in Asien kaum ein ebenbürtiger Gegner entsteh" könnte, und von
deren Entschlüssen vielleicht die Karte Europas abhinge, mußte England auch
immer die Möglichkeit in Frage ziehn, daß es in einem Kriege mit Rußland
Deutschland auf seiner, der englischen Seite habe. Zwar hatte unser Vater¬
land von jeher mit Recht alle Versuchungen abgelehnt, sich auf ein britisches
Bündnis einzulassen, bei dem uns die Aufgabe der Deckung Indiens zuge¬
fallen wäre, ohne daß wir an England einen von schwankenden Parlaments¬
mehrheiten unabhängigen Mitstreiter gehabt hätten. Aber es hätte doch recht
wohl sein können, daß eine aus andern Gründen ins Rollen kommende An¬
gelegenheit Deutschland und England auf dieselbe Seite geschleudert hätte.
Solange Rußlands Macht unerschüttert dastand, durfte sich England keinem
solchen Gegensatz gegen den nächsten Nachbar Rußlands hingeben, den einzigen,
der es mit der Landarmee des Zaren aufnehmen konnte. Auch verfügte bis
zu dem Ausbruch des ostasiatischen Krieges Rußland gleichsam über Frank¬
reich mit, weil dieses noch immer auf den Revanchekrieg hoffte. Vor dem
ostasiatischen Kriege war Frankreich in Händen Rußlands, sodaß eine Politik,
den Zweibund zu sprengen, als ganz aussichtslos gelten mußte.


scheidungskampf um Indien und Ostasien führen zu müssen erwartete, hat es
sich niemals um dessen Seerüstung aufgeregt. Auch als der Zweibund entstand
und damit die Möglichkeit eines Krieges der ersten Seemacht gegen die
Koalition der zweiten und der dritten Macht am Horizont erschien, hörte man
nichts davon, daß sich England um die Sicherheit seines Heimatbodens sorge.
Gegenwärtig geht die amerikanische Kriegsflotte mit Riesenschritten einem An¬
wachsen auf den zweiten Platz im Range der Seemächte entgegen. Der
Marinesekretür Taft hob es in seinem Jahresbericht rühmend hervor, daß für die
amerikanische Marine mehr Schiffe vom Stapel gelaufen seien als für irgend¬
eine andre auf der Welt. Das rührt England nicht, obgleich der Panamerikanis-
mus und der Imperialismus manches bedrohliche für das britische Reich ent¬
halten. Amerikas Macht liegt in seinen materiellen Hilfsmitteln; sie sind um
so furchtbarer, als diese reiche Nation von 80 Millionen Einwohnern kein
nennenswertes stehendes Heer zu unterhalten braucht. Deutschland wendet
jetzt an dauernden und einmaligen Ausgaben für seine Kriegsflotte 229 Millionen
auf, England 850. Wenn Deutschland zu höhern Zahlen gelangen sollte,
würde England unfehlbar ansteigen. Aber Deutschland ist durch seine ganzen
materiellen Verhältnisse, durch die Notwendigkeit, 645 Millionen Mark auf
sein Heer zu verwenden, der Möglichkeit von Mehraufwendungen, die gegen
die britischen Summen irgend etwas verschlügen, gänzlich entrückt. Die Ver¬
einigten Staaten können das, aber nicht gegen sie wenden sich britische Be¬
sorgnisse, sondern gegen Deutschland.

Es müssen ethische Gründe sein, die zu einem so befremdenden Geistes¬
zustand geführt haben. Und eben hier ist der Punkt, wo man auf deutscher
Seite, namentlich in der Presse, große Fehler gemacht hat. Doch nicht darauf
wollen wir heute näher eingehn, sondern auf die nunmehr entstandne politische
Situation.

Solange noch Nußland in dem Nimbus einer übergewaltigen Großmacht
dastand, der in Asien kaum ein ebenbürtiger Gegner entsteh» könnte, und von
deren Entschlüssen vielleicht die Karte Europas abhinge, mußte England auch
immer die Möglichkeit in Frage ziehn, daß es in einem Kriege mit Rußland
Deutschland auf seiner, der englischen Seite habe. Zwar hatte unser Vater¬
land von jeher mit Recht alle Versuchungen abgelehnt, sich auf ein britisches
Bündnis einzulassen, bei dem uns die Aufgabe der Deckung Indiens zuge¬
fallen wäre, ohne daß wir an England einen von schwankenden Parlaments¬
mehrheiten unabhängigen Mitstreiter gehabt hätten. Aber es hätte doch recht
wohl sein können, daß eine aus andern Gründen ins Rollen kommende An¬
gelegenheit Deutschland und England auf dieselbe Seite geschleudert hätte.
Solange Rußlands Macht unerschüttert dastand, durfte sich England keinem
solchen Gegensatz gegen den nächsten Nachbar Rußlands hingeben, den einzigen,
der es mit der Landarmee des Zaren aufnehmen konnte. Auch verfügte bis
zu dem Ausbruch des ostasiatischen Krieges Rußland gleichsam über Frank¬
reich mit, weil dieses noch immer auf den Revanchekrieg hoffte. Vor dem
ostasiatischen Kriege war Frankreich in Händen Rußlands, sodaß eine Politik,
den Zweibund zu sprengen, als ganz aussichtslos gelten mußte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/22>, abgerufen am 27.09.2024.