Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Nietzsche noch einmal daß ich an meiner altmodischen Ansicht über Geisteskrankheiten festhalte. Selbst¬ Es wird Aufgabe eines Andern sein, dieses Werk den Aphorismen Nietzsches Nietzsche noch einmal daß ich an meiner altmodischen Ansicht über Geisteskrankheiten festhalte. Selbst¬ Es wird Aufgabe eines Andern sein, dieses Werk den Aphorismen Nietzsches <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0097" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297229"/> <fw type="header" place="top"> Nietzsche noch einmal</fw><lb/> <p xml:id="ID_302" prev="#ID_301"> daß ich an meiner altmodischen Ansicht über Geisteskrankheiten festhalte. Selbst¬<lb/> verständlich leugne ich nicht, daß jede Verletzung oder Erkrankung des Gehirns<lb/> Störungen der Geistestätigkeit zur Folge haben müsse, aber ich glaube außer¬<lb/> dem, daß der Geist auch durch geistige Ursachen, durch das Übermaß oder die<lb/> Art seiner Tätigkeit, krank gemacht werden könne, natürlich nicht, ohne daß<lb/> das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wird. Eine Selbstüberschätzung wie die<lb/> Nietzsches erscheint mir schon als Wahnsinn, und wenn sich einer an der un¬<lb/> lösbaren Aufgabe abarbeitet, ein Leben, von dem er alle Einzelheiten verab¬<lb/> scheut, in seiner Totalität lebens- und begehrenswert zu finden, so muß ihn<lb/> das wahnsinnig machen. Die Unfähigkeit, der ihn zerreißenden Widersprüche<lb/> Herr zu werden, hat ihn auch zum Aphorismus genötigt. Er sucht diese<lb/> Schreibweise vor sich selbst zu rechtfertigen: „Abhandlungen schreibe ich nicht, die<lb/> sind für Esel und Zeitschriftenleser." Da nun aber das Publikum aus solchen<lb/> Eseln und Zeitschriftenlesern besteht, hätte er zusammenhängend schreiben müssen,<lb/> wenn er es überzeugen und dadurch seinen Willen zur Macht betätigen wollte.<lb/> In Wirklichkeit hat ihn seine Zerfahrenheit schou sehr früh zu Veröffentlichungen<lb/> in Bruchstücken verlockt. Als Fünfundzwanzigjühriger schrieb er einmal an<lb/> seinen verehrten Lehrer Ritschl: „Um ein größeres Buch mit fortlaufender Ent¬<lb/> wicklung eines Grundgedankens fertig zu machen, fehlt es nur augenblicklich an<lb/> allem. , . . Dagegen könnte ich, nicht ohne Wollust, einen hübschen Band ver-<lb/> mischtester Dinge, ein rechtes »Leipziger Allerlei« zusammenstellen, teils literar¬<lb/> historische Erkenntnisse, teils neue Ansichten und Aussichten, drittens ein tüchtiges<lb/> Bündel von Konjekturen zu Äschhlus, Sophokles, Lyrikern, Laertius usw."<lb/> Darauf antwortete ihm Ritschl: „Zu Ihrem Gedanken an ein buntes Allerlei,<lb/> mag es noch so anregende und meinetwegen geistreiche Bestandteile haben, sage<lb/> ich, wenn es sich um eine erste Buch Publikation handelt, ein entschiednes Nein.<lb/> Später haben Sie Freiheit, in diesem lockern kaleidoskopischen Genre zu machen,<lb/> was und soviel Sie Wollen. Aber das Recht dazu müssen Sie sich racw volo<lb/> erst erkaufen dnrch etwas Znsammenhüngcndes, Einheitliches." (Friedrich Nietzsches<lb/> gesammelte Briefe. Dritter Band, erste Hälfte. Berlin und Leipzig, Schuster<lb/> und Loeffler, 1904. S. 76 und 81. Diesem Bändchen ist auch das oben über<lb/> H. von Stein Mitgeteilte entnommen.) So ists! Aphorismen als ergänzenden<lb/> Nachtrag herauszugeben hat nur der das Recht, der vorher in zusammen¬<lb/> hängender Darstellung seine Meinung unmißverständlich klar gemacht hat, sodaß<lb/> die Leser imstande sind, die Bruchstücke dort, wo sie hingehören, in den Ge-<lb/> dankenbau des Autors einzufügen und dadurch etwaige scheinbare Widersprüche<lb/> zu beseitige«. Nun hat sich ja Nietzsche nicht lange nach dieser Korrespondenz<lb/> herbeigelassen, einige zusammenhängende Abhandlungen zu schreiben: die Geburt<lb/> der Tragödie und die unzeitgemäßer Betrachtungen, und die sind dem? auch<lb/> das beste von allem, was er veröffentlicht hat, aber seinen kolossal umfangreichen<lb/> Aphorismen über alle Gebiete der Philosophie hat er kein orientierendes Werk<lb/> vorausgeschickt, weil er das bei der beschriebnen Geistesverfassung nicht konnte.</p><lb/> <p xml:id="ID_303" next="#ID_304"> Es wird Aufgabe eines Andern sein, dieses Werk den Aphorismen Nietzsches<lb/> nachzuschicken. Dieser andre wird das Unhaltbare auszuscheiden, die Widersprüche<lb/> auszugleichen und dnrch den theistischer Grundgedanken die all^e-et-z, msinbr»</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0097]
Nietzsche noch einmal
daß ich an meiner altmodischen Ansicht über Geisteskrankheiten festhalte. Selbst¬
verständlich leugne ich nicht, daß jede Verletzung oder Erkrankung des Gehirns
Störungen der Geistestätigkeit zur Folge haben müsse, aber ich glaube außer¬
dem, daß der Geist auch durch geistige Ursachen, durch das Übermaß oder die
Art seiner Tätigkeit, krank gemacht werden könne, natürlich nicht, ohne daß
das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen wird. Eine Selbstüberschätzung wie die
Nietzsches erscheint mir schon als Wahnsinn, und wenn sich einer an der un¬
lösbaren Aufgabe abarbeitet, ein Leben, von dem er alle Einzelheiten verab¬
scheut, in seiner Totalität lebens- und begehrenswert zu finden, so muß ihn
das wahnsinnig machen. Die Unfähigkeit, der ihn zerreißenden Widersprüche
Herr zu werden, hat ihn auch zum Aphorismus genötigt. Er sucht diese
Schreibweise vor sich selbst zu rechtfertigen: „Abhandlungen schreibe ich nicht, die
sind für Esel und Zeitschriftenleser." Da nun aber das Publikum aus solchen
Eseln und Zeitschriftenlesern besteht, hätte er zusammenhängend schreiben müssen,
wenn er es überzeugen und dadurch seinen Willen zur Macht betätigen wollte.
In Wirklichkeit hat ihn seine Zerfahrenheit schou sehr früh zu Veröffentlichungen
in Bruchstücken verlockt. Als Fünfundzwanzigjühriger schrieb er einmal an
seinen verehrten Lehrer Ritschl: „Um ein größeres Buch mit fortlaufender Ent¬
wicklung eines Grundgedankens fertig zu machen, fehlt es nur augenblicklich an
allem. , . . Dagegen könnte ich, nicht ohne Wollust, einen hübschen Band ver-
mischtester Dinge, ein rechtes »Leipziger Allerlei« zusammenstellen, teils literar¬
historische Erkenntnisse, teils neue Ansichten und Aussichten, drittens ein tüchtiges
Bündel von Konjekturen zu Äschhlus, Sophokles, Lyrikern, Laertius usw."
Darauf antwortete ihm Ritschl: „Zu Ihrem Gedanken an ein buntes Allerlei,
mag es noch so anregende und meinetwegen geistreiche Bestandteile haben, sage
ich, wenn es sich um eine erste Buch Publikation handelt, ein entschiednes Nein.
Später haben Sie Freiheit, in diesem lockern kaleidoskopischen Genre zu machen,
was und soviel Sie Wollen. Aber das Recht dazu müssen Sie sich racw volo
erst erkaufen dnrch etwas Znsammenhüngcndes, Einheitliches." (Friedrich Nietzsches
gesammelte Briefe. Dritter Band, erste Hälfte. Berlin und Leipzig, Schuster
und Loeffler, 1904. S. 76 und 81. Diesem Bändchen ist auch das oben über
H. von Stein Mitgeteilte entnommen.) So ists! Aphorismen als ergänzenden
Nachtrag herauszugeben hat nur der das Recht, der vorher in zusammen¬
hängender Darstellung seine Meinung unmißverständlich klar gemacht hat, sodaß
die Leser imstande sind, die Bruchstücke dort, wo sie hingehören, in den Ge-
dankenbau des Autors einzufügen und dadurch etwaige scheinbare Widersprüche
zu beseitige«. Nun hat sich ja Nietzsche nicht lange nach dieser Korrespondenz
herbeigelassen, einige zusammenhängende Abhandlungen zu schreiben: die Geburt
der Tragödie und die unzeitgemäßer Betrachtungen, und die sind dem? auch
das beste von allem, was er veröffentlicht hat, aber seinen kolossal umfangreichen
Aphorismen über alle Gebiete der Philosophie hat er kein orientierendes Werk
vorausgeschickt, weil er das bei der beschriebnen Geistesverfassung nicht konnte.
Es wird Aufgabe eines Andern sein, dieses Werk den Aphorismen Nietzsches
nachzuschicken. Dieser andre wird das Unhaltbare auszuscheiden, die Widersprüche
auszugleichen und dnrch den theistischer Grundgedanken die all^e-et-z, msinbr»
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