Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Nietzsche noch einmal zu einem lebensfähigen Organismus zu verbinden haben. Der vorliegende Band Sehr schön wird auch die Askese gepriesen, und es wird bedauert, daß Nietzsche noch einmal zu einem lebensfähigen Organismus zu verbinden haben. Der vorliegende Band Sehr schön wird auch die Askese gepriesen, und es wird bedauert, daß <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0098" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297230"/> <fw type="header" place="top"> Nietzsche noch einmal</fw><lb/> <p xml:id="ID_304" prev="#ID_303"> zu einem lebensfähigen Organismus zu verbinden haben. Der vorliegende Band<lb/> enthält wertvolles Material für ein solches Unternehmen. Er gibt z. B. be¬<lb/> friedigende Auskunft über die blonde Bestie und über die heftige Polemik<lb/> Nietzsches gegen die Mitleidsmoral. „Die Grobgearteten, die Vielzuvielen haben<lb/> aus dem Bilde des Übermenschen eines Teufels Fratze gemacht. Man ver¬<lb/> wechselte die Schilderung des Autors von dem prähistorischen und prämoralischeu<lb/> Menschen, den er die blonde Bestie taufte, mit dem Idealbild des Übermenschen.<lb/> Die blonde Bestie hat aber damit nicht das geringste zu tun, sondern Nietzsche<lb/> gibt in ihr nur ein Beispiel ungebrochner Naturkraft aus längstvergangner Zeit,<lb/> das, wie alles, was stark und kraftvoll ist, einen labenden Anblick gewährt, das<lb/> aber niemals als ein zu erreichendes Ideal hingestellt worden ist. Die blonde<lb/> Bestie ist das Bild des starken Menschen vor der Kultur und vor der Herrschaft<lb/> unsrer gegenwärtigen Moral, der Übermensch dagegen ist die Spitze der höchsten<lb/> Kultur." Gegen das Mitleid aber mußte er sich, besonders nach seinen Erleb¬<lb/> nissen in den Feldlazaretten 1870, um seiner Selbsterhaltung willen Wappneu,<lb/> weil es ihn zu zermalmen drohte. Dann werden hier auch die Gedanken Nietzsches,<lb/> von denen ich in der erwähnten lungern Artikelreihe sagte, daß sie bleibenden<lb/> Wert haben, und daß sie in der Hauptsache mit meinen eignen zusammentreffen,<lb/> vielfach erläutert. Sehr schön wird S. 715 ff. der Widerspruch zwischen dein<lb/> Christentum des Neuen Testaments und dem Kirchentum oder vielmehr den<lb/> verschiednen Kirchentümern geschildert.</p><lb/> <p xml:id="ID_305" next="#ID_306"> Sehr schön wird auch die Askese gepriesen, und es wird bedauert, daß<lb/> der damit getriebne kirchliche Mißbrauch sie in Verruf gebracht habe (801).<lb/> Die Beschreibung der Jünger, die er sich wünscht (799), könnte Bernhard von<lb/> Clairvaux oder Franz von Assisi zum Verfasser haben. Die Unmöglichkeit einer<lb/> für alle gleichmäßig geltenden Moral wird an vielen zerstreuten Stellen nach¬<lb/> gewiesen und der Vorzug der eingebornen und anerzognen, zum Instinkt ge-<lb/> wordnen edeln Gesinnung vor der rüsonierenden Tugend, dem Handeln aus<lb/> bewußten Vernunftgründen hervorgehoben. Daß dabei immer von „Züchter"<lb/> und „Züchtung" die Rede ist, billige ich allerdings nicht. Es ist wahr, was<lb/> Frau Förster von ihrem Bruder rühmt, daß unsre Nassentheoretiker auf dessen<lb/> Spuren wandeln, aber da der Nationalitätenrappel heute überall in der Luft<lb/> liegt, konnten die Biologen in gar kein andres Gleis geraten, und durch ihre<lb/> Übereinstimmung mit Nietzsche wird die Sache nicht schöner. Menschenzüchtuug<lb/> ist ein widerlicher Begriff, und wo immer man damit experimentiert hat, ist sie<lb/> an Gottes Ordnung zusehenden geworden. Daß Vorsicht bei der Schließung<lb/> des Ehebundes und gute Erziehung der Kinder heilige Pflichten find, hat man<lb/> ohne alle biologische Kenntnisse immer gewußt, und auch den Wert eines reine»<lb/> Blutes und edler Abstammung nach Gebühr geschützt. Den Übermenschen, den<lb/> Nietzsche meint, züchten zu wollen, ist nicht nur ein widerwärtiger, sondern<lb/> auch ein lächerlicher Gedanke. Wo ein Held, ein Heiliger, ein Weiser der Welt<lb/> not tat, da hat ihn Gott gesandt, und so wird er den rechten Manu am rechten<lb/> Orte und zur rechten Zeit auch in Zukunft senden. Was den Regierungen in<lb/> bezug auf „Züchtung" obliegt, das ist: Zuständen vorbeugen, die Entartung zur<lb/> Folge haben, und wo solche schon eingetreten ist, die Ursachen beseitigen; Zu-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0098]
Nietzsche noch einmal
zu einem lebensfähigen Organismus zu verbinden haben. Der vorliegende Band
enthält wertvolles Material für ein solches Unternehmen. Er gibt z. B. be¬
friedigende Auskunft über die blonde Bestie und über die heftige Polemik
Nietzsches gegen die Mitleidsmoral. „Die Grobgearteten, die Vielzuvielen haben
aus dem Bilde des Übermenschen eines Teufels Fratze gemacht. Man ver¬
wechselte die Schilderung des Autors von dem prähistorischen und prämoralischeu
Menschen, den er die blonde Bestie taufte, mit dem Idealbild des Übermenschen.
Die blonde Bestie hat aber damit nicht das geringste zu tun, sondern Nietzsche
gibt in ihr nur ein Beispiel ungebrochner Naturkraft aus längstvergangner Zeit,
das, wie alles, was stark und kraftvoll ist, einen labenden Anblick gewährt, das
aber niemals als ein zu erreichendes Ideal hingestellt worden ist. Die blonde
Bestie ist das Bild des starken Menschen vor der Kultur und vor der Herrschaft
unsrer gegenwärtigen Moral, der Übermensch dagegen ist die Spitze der höchsten
Kultur." Gegen das Mitleid aber mußte er sich, besonders nach seinen Erleb¬
nissen in den Feldlazaretten 1870, um seiner Selbsterhaltung willen Wappneu,
weil es ihn zu zermalmen drohte. Dann werden hier auch die Gedanken Nietzsches,
von denen ich in der erwähnten lungern Artikelreihe sagte, daß sie bleibenden
Wert haben, und daß sie in der Hauptsache mit meinen eignen zusammentreffen,
vielfach erläutert. Sehr schön wird S. 715 ff. der Widerspruch zwischen dein
Christentum des Neuen Testaments und dem Kirchentum oder vielmehr den
verschiednen Kirchentümern geschildert.
Sehr schön wird auch die Askese gepriesen, und es wird bedauert, daß
der damit getriebne kirchliche Mißbrauch sie in Verruf gebracht habe (801).
Die Beschreibung der Jünger, die er sich wünscht (799), könnte Bernhard von
Clairvaux oder Franz von Assisi zum Verfasser haben. Die Unmöglichkeit einer
für alle gleichmäßig geltenden Moral wird an vielen zerstreuten Stellen nach¬
gewiesen und der Vorzug der eingebornen und anerzognen, zum Instinkt ge-
wordnen edeln Gesinnung vor der rüsonierenden Tugend, dem Handeln aus
bewußten Vernunftgründen hervorgehoben. Daß dabei immer von „Züchter"
und „Züchtung" die Rede ist, billige ich allerdings nicht. Es ist wahr, was
Frau Förster von ihrem Bruder rühmt, daß unsre Nassentheoretiker auf dessen
Spuren wandeln, aber da der Nationalitätenrappel heute überall in der Luft
liegt, konnten die Biologen in gar kein andres Gleis geraten, und durch ihre
Übereinstimmung mit Nietzsche wird die Sache nicht schöner. Menschenzüchtuug
ist ein widerlicher Begriff, und wo immer man damit experimentiert hat, ist sie
an Gottes Ordnung zusehenden geworden. Daß Vorsicht bei der Schließung
des Ehebundes und gute Erziehung der Kinder heilige Pflichten find, hat man
ohne alle biologische Kenntnisse immer gewußt, und auch den Wert eines reine»
Blutes und edler Abstammung nach Gebühr geschützt. Den Übermenschen, den
Nietzsche meint, züchten zu wollen, ist nicht nur ein widerwärtiger, sondern
auch ein lächerlicher Gedanke. Wo ein Held, ein Heiliger, ein Weiser der Welt
not tat, da hat ihn Gott gesandt, und so wird er den rechten Manu am rechten
Orte und zur rechten Zeit auch in Zukunft senden. Was den Regierungen in
bezug auf „Züchtung" obliegt, das ist: Zuständen vorbeugen, die Entartung zur
Folge haben, und wo solche schon eingetreten ist, die Ursachen beseitigen; Zu-
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