Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Nietzsche noch einmal als in den Dramen. Von Hauptmanns Fuhrmann Henschel haben die Grenz¬ Nietzsche schilt die Christe", daß sie das Leben verleumdeten. Aber die Nietzsche noch einmal als in den Dramen. Von Hauptmanns Fuhrmann Henschel haben die Grenz¬ Nietzsche schilt die Christe», daß sie das Leben verleumdeten. Aber die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0095" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297227"/> <fw type="header" place="top"> Nietzsche noch einmal</fw><lb/> <p xml:id="ID_298" prev="#ID_297"> als in den Dramen. Von Hauptmanns Fuhrmann Henschel haben die Grenz¬<lb/> boten sehr gut gesagt, es komme darin keine einzige Person vor, mit der man<lb/> im Leben länger zu tun haben möchte, als Geschäfte oder Pflichten es erheischten.<lb/> In den Wahlverwandtschaften, in Wilhelm Meister, in Wahrheit und Dichtung,<lb/> in der Italienischen Reise begegnen wir — mit Ausnahme der kupplerischen<lb/> Barbara vielleicht — keiner einzigen Person, der wir nicht auch im Leben gern<lb/> begegnen möchten, wenn wir auch nicht alle zu längerm vertrautem Umgang<lb/> wählen würden. Im Gespräch wie auch in seinen Sprüchen hat Goethe oft<lb/> genug darüber geklagt, daß ihm Unverstand und Bosheit der Menschen mancherlei<lb/> Verdruß und Leid bereitet Hütten, und viele seiner Aussprüche lauten geradezu<lb/> Pessimistisch. Aber wo er Menschen darzustellen hat, da läßt er pessimistische<lb/> Stimmung nicht mitsprechen; er schildert sie liebenswürdig, um nicht Haß und<lb/> Verachtung, sondern Liebe zum Menschenwesen und Ehrfurcht vor ihm in die<lb/> Herzen zu pflanzen. Und er braucht sich dabei keinen Zwang anzutun; man<lb/> sieht deutlich: wie er sie malt, so sind sie ihm erschienen, sie haben ihm Freude<lb/> gemacht.</p><lb/> <p xml:id="ID_299" next="#ID_300"> Nietzsche schilt die Christe», daß sie das Leben verleumdeten. Aber die<lb/> Christen preisen Gott in der Herrlichkeit seiner Schöpfung und in der Schönheit<lb/> und Würde des erlösten Menschen und freuen sich mit dem Psalmisten auch über<lb/> das Treiben der Tierlein; was läßt dagegen Nietzsche vom Leben Wertvolles<lb/> und Erquickendes übrig? Daß er ein Auge für Naturschönheit und für die<lb/> Schönheit der Werke der bildenden Künste gehabt habe, ist nirgends zu bemerken,<lb/> nur die Musik bereitete ihm Genuß (und zwar die mozartische und die italie¬<lb/> nische; die wagnerische hat er niemals leiden können, sodaß seine anfängliche<lb/> Schwärmerei für den Meister von Bayreuth noch viel sonderbarer erscheint als<lb/> seine spätere Wut gegen ihn). Die „Vielzuvielen," d. h. so ziemlich alle seine<lb/> Zeitgenossen, waren ihm ein Greuel, und auch seine Freunde und Jünger stieß<lb/> er teils von sich ab, teils fand er sie unerträglich. Zu den wenigen, deren Um¬<lb/> gang ihm in den letzten Jahren hie und da noch Freude machte, gehörte der<lb/> junge Doktor Heinrich von Stein, der noch vor Nietzsches Gehirnlähmung ge¬<lb/> storben ist. Von ihm sagte er einmal zu seiner Schwester: „Weißt du, eigentlich<lb/> kann ich nur mit solchen moralische Probleme besprechen; bei den andern lese<lb/> ich so leicht in den Mienen, daß sie mich vollständig mißverstehn und nur das<lb/> Tier in ihnen sich freut, eine Fessel abwerfen zu dürfen." (Das Tier in ihnen<lb/> entspricht gar nicht seiner „Philosophie," wonach der Mensch ein Tier ist und<lb/> nichts weiter. „Es gibt weder Geist, noch Vernunft, noch Denken, noch Be¬<lb/> wußtsein, noch Seele, noch Willen, noch Wahrheit: alles Fiktionen, die un¬<lb/> brauchbar sind. Es handelt sich nicht um Subjekt und Objekt, sondern um<lb/> eine bestimmte Tierart.") Aber kurze Zeit darauf schrieb er an Stein: „Mein<lb/> werter Freund, Sie wissen nicht, wer ich bin, noch was ich will." Seine leiden¬<lb/> schaftliche Lebensbejahung stand also im Widerspruch zu dem, was ihm das<lb/> Leben bot, und man versteht ganz gut, daß er die Formel „Wille zum Leben"<lb/> ablehnen mußte. Die Formel „Wille zur Macht" war ein verzweifelter Ver¬<lb/> such, der Lebensverneinung zu entgehn, zu der ihn seine Ansicht vom Leben zu<lb/> zwingen schien. War das Leben an sich nichts wert, so konnte doch die Herr</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0095]
Nietzsche noch einmal
als in den Dramen. Von Hauptmanns Fuhrmann Henschel haben die Grenz¬
boten sehr gut gesagt, es komme darin keine einzige Person vor, mit der man
im Leben länger zu tun haben möchte, als Geschäfte oder Pflichten es erheischten.
In den Wahlverwandtschaften, in Wilhelm Meister, in Wahrheit und Dichtung,
in der Italienischen Reise begegnen wir — mit Ausnahme der kupplerischen
Barbara vielleicht — keiner einzigen Person, der wir nicht auch im Leben gern
begegnen möchten, wenn wir auch nicht alle zu längerm vertrautem Umgang
wählen würden. Im Gespräch wie auch in seinen Sprüchen hat Goethe oft
genug darüber geklagt, daß ihm Unverstand und Bosheit der Menschen mancherlei
Verdruß und Leid bereitet Hütten, und viele seiner Aussprüche lauten geradezu
Pessimistisch. Aber wo er Menschen darzustellen hat, da läßt er pessimistische
Stimmung nicht mitsprechen; er schildert sie liebenswürdig, um nicht Haß und
Verachtung, sondern Liebe zum Menschenwesen und Ehrfurcht vor ihm in die
Herzen zu pflanzen. Und er braucht sich dabei keinen Zwang anzutun; man
sieht deutlich: wie er sie malt, so sind sie ihm erschienen, sie haben ihm Freude
gemacht.
Nietzsche schilt die Christe», daß sie das Leben verleumdeten. Aber die
Christen preisen Gott in der Herrlichkeit seiner Schöpfung und in der Schönheit
und Würde des erlösten Menschen und freuen sich mit dem Psalmisten auch über
das Treiben der Tierlein; was läßt dagegen Nietzsche vom Leben Wertvolles
und Erquickendes übrig? Daß er ein Auge für Naturschönheit und für die
Schönheit der Werke der bildenden Künste gehabt habe, ist nirgends zu bemerken,
nur die Musik bereitete ihm Genuß (und zwar die mozartische und die italie¬
nische; die wagnerische hat er niemals leiden können, sodaß seine anfängliche
Schwärmerei für den Meister von Bayreuth noch viel sonderbarer erscheint als
seine spätere Wut gegen ihn). Die „Vielzuvielen," d. h. so ziemlich alle seine
Zeitgenossen, waren ihm ein Greuel, und auch seine Freunde und Jünger stieß
er teils von sich ab, teils fand er sie unerträglich. Zu den wenigen, deren Um¬
gang ihm in den letzten Jahren hie und da noch Freude machte, gehörte der
junge Doktor Heinrich von Stein, der noch vor Nietzsches Gehirnlähmung ge¬
storben ist. Von ihm sagte er einmal zu seiner Schwester: „Weißt du, eigentlich
kann ich nur mit solchen moralische Probleme besprechen; bei den andern lese
ich so leicht in den Mienen, daß sie mich vollständig mißverstehn und nur das
Tier in ihnen sich freut, eine Fessel abwerfen zu dürfen." (Das Tier in ihnen
entspricht gar nicht seiner „Philosophie," wonach der Mensch ein Tier ist und
nichts weiter. „Es gibt weder Geist, noch Vernunft, noch Denken, noch Be¬
wußtsein, noch Seele, noch Willen, noch Wahrheit: alles Fiktionen, die un¬
brauchbar sind. Es handelt sich nicht um Subjekt und Objekt, sondern um
eine bestimmte Tierart.") Aber kurze Zeit darauf schrieb er an Stein: „Mein
werter Freund, Sie wissen nicht, wer ich bin, noch was ich will." Seine leiden¬
schaftliche Lebensbejahung stand also im Widerspruch zu dem, was ihm das
Leben bot, und man versteht ganz gut, daß er die Formel „Wille zum Leben"
ablehnen mußte. Die Formel „Wille zur Macht" war ein verzweifelter Ver¬
such, der Lebensverneinung zu entgehn, zu der ihn seine Ansicht vom Leben zu
zwingen schien. War das Leben an sich nichts wert, so konnte doch die Herr
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