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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Herrenmenschen

und der falschen Königin durchschaut. Das ist die Gabe des Propheten. Die
Propheten des Alten Testaments, Jesaicis, Amos, Jonas durchschauen mit gott¬
erleuchteten Augen das ganze Lügenweseu eines Gottesdienstes, der Gott im Munde
und nicht im Herzen führt, den ganzen Selbstbetrug einer verblendete" Staats¬
kunst, die Haltlosigkeit der Phrase: Wir sind Gottes Volk, Gott kann sein Volk
nicht fallen lassen. Daß dies zum Zusammenbruche führen müsse, das sehen sie
mit handgreiflicher Deutlichkeit, und sie sprechen es aus. Eins kann helfen: die
Rückkehr zu Jahwe und zu deu Kräften, die das Volk groß gemacht haben.
Aber das gegenwärtige Geschlecht wirds nicht erleben. Der Rest, in schweren
Zeiten erzogen, wird sich bekehren. Von innen heraus wird und muß die Er¬
neuerung kommen durch einen Mann, den Gott sendet als einen König eines
geistigen Volkes.

Ich meinte, sagte Tauenden, der liebe Gott habe den Propheten ins Herz ge¬
geben, daß sie von Christo weissagen sollten.

So ist es, fügte der Herr Kandidat hinzu. Der heilige Geist spricht durch
den Mund des Apostels: "Von diesem zeugen alle Propheten, daß dnrch seinen
Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen."

Und doch, fuhr der Herr Pastor fort, ist von keinem Propheten der Christus¬
name genannt worden. Andre, ja; aber dieser nicht. Sagen Sie mir, Herr
Kandidat, an wen hat der Dichter des Kyffhcinserliedes gedacht, der als erstandncr
Barbarossa das Reich wieder aufrichten werde? An Wilhelm den Ersten? Er hat
ihn als Kaiser nicht gekannt, er hat 1870 nicht erlebt. Und doch hat er von keinem
andern geweissagt als von ihm. Er hat ganz genau auf deu Punkt in der Zukunft
gezeigt, von wo aus er kommen mußte. Nämlich in dem Lande und zu der Zeil,
wo die schwarzen Raben nicht mehr fliegen. -- Verstehn Sie recht: ich meine nicht,
daß jede sachliche Erkenntnis Prophetie ist. Sie ist eine besondre Gottesgnbe.
Aber diese Gaben bestehn nicht in fremden Kräften, sie sind nicht geistliche In¬
jektionen, sondern Steigerungen vorhandner Kräfte. Da, wo Gott Wunder tut,
schlägt er nicht seine Ordnungen in Trümmer, sondern er wirkt so, daß er Kräfte
steigert oder zu seiner Absicht zusammenfaßt.

Der Doktor hatte aufmerksam zugehört. Sagen Sie, Herr Pastor, rief er,
wie kommen Sie nach Kallpillen, ans Ende der Welt?

Ich wollte heiraten, sagte der Herr Pastor wehmütig lächelnd. Ich war
schon von Studentenzeiten her verlobt und wollte heiraten. Da sich nun das
Pfarramt in Kallpillen darbot, so nahm ich es an und bin da sitzen geblieben,
denn es ist schwer hier, von einem Orte, an dem man einmal ist, wieder weg zu
kommen. Glauben Sie mirs, Sie werden es mich erfahren.

Sie tun mir leid, Herr Pastor, fuhr der Doktor fort, ein Mann wie Sie,
und am Ende der Welt unter litauischen Bauern!

Gottes Welt ist überall.

Und auch darum tun Sie mir leid, daß Sie Ihre Kräfte an eine Verlorne
Sache setzen.

Wieso Verlorne Sache? rief der Herr Kandidat.

Alle Ihre Auslegungen, erwiderte der Doktor, alle Ihre Bemühungen, die
Schrift dem modernen Menschen mundgerecht zu machen, werden es nicht erreichen,
dieses alte Buch, das einst "Gottes Wort" war, zu halten. Das moderne Denken
hat keinen Begriff, der sich mit dem Worte "Gott" bezeichnen ließe. Wir ver¬
folgen die Kausalität der Dinge streng wissenschaftlich und kommen nicht zu Gott.

Man muß an Gott glauben, rief der Kandidat, der anfing, sich über ein
solches Bekenntnis des Unglaubens aufzuregen.

Muß man? entgegnete der Doktor. Man muß nur das tun, was seine Not¬
wendigkeit in sich selbst trägt. Ich sehe nicht die Notwendigkeit, an die Existenz
eines Etwas zu glauben, das man Gott nennt. Wo soll dieser Gott wohnen?
Im Himmel? Ja, wo ist dieser Himmel? Heute weiß man. daß der Himmel
nicht eine blaue Glocke ist, die über die Erdscheibe gestellt ist. Heute gibt es


Herrenmenschen

und der falschen Königin durchschaut. Das ist die Gabe des Propheten. Die
Propheten des Alten Testaments, Jesaicis, Amos, Jonas durchschauen mit gott¬
erleuchteten Augen das ganze Lügenweseu eines Gottesdienstes, der Gott im Munde
und nicht im Herzen führt, den ganzen Selbstbetrug einer verblendete» Staats¬
kunst, die Haltlosigkeit der Phrase: Wir sind Gottes Volk, Gott kann sein Volk
nicht fallen lassen. Daß dies zum Zusammenbruche führen müsse, das sehen sie
mit handgreiflicher Deutlichkeit, und sie sprechen es aus. Eins kann helfen: die
Rückkehr zu Jahwe und zu deu Kräften, die das Volk groß gemacht haben.
Aber das gegenwärtige Geschlecht wirds nicht erleben. Der Rest, in schweren
Zeiten erzogen, wird sich bekehren. Von innen heraus wird und muß die Er¬
neuerung kommen durch einen Mann, den Gott sendet als einen König eines
geistigen Volkes.

Ich meinte, sagte Tauenden, der liebe Gott habe den Propheten ins Herz ge¬
geben, daß sie von Christo weissagen sollten.

So ist es, fügte der Herr Kandidat hinzu. Der heilige Geist spricht durch
den Mund des Apostels: „Von diesem zeugen alle Propheten, daß dnrch seinen
Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen."

Und doch, fuhr der Herr Pastor fort, ist von keinem Propheten der Christus¬
name genannt worden. Andre, ja; aber dieser nicht. Sagen Sie mir, Herr
Kandidat, an wen hat der Dichter des Kyffhcinserliedes gedacht, der als erstandncr
Barbarossa das Reich wieder aufrichten werde? An Wilhelm den Ersten? Er hat
ihn als Kaiser nicht gekannt, er hat 1870 nicht erlebt. Und doch hat er von keinem
andern geweissagt als von ihm. Er hat ganz genau auf deu Punkt in der Zukunft
gezeigt, von wo aus er kommen mußte. Nämlich in dem Lande und zu der Zeil,
wo die schwarzen Raben nicht mehr fliegen. — Verstehn Sie recht: ich meine nicht,
daß jede sachliche Erkenntnis Prophetie ist. Sie ist eine besondre Gottesgnbe.
Aber diese Gaben bestehn nicht in fremden Kräften, sie sind nicht geistliche In¬
jektionen, sondern Steigerungen vorhandner Kräfte. Da, wo Gott Wunder tut,
schlägt er nicht seine Ordnungen in Trümmer, sondern er wirkt so, daß er Kräfte
steigert oder zu seiner Absicht zusammenfaßt.

Der Doktor hatte aufmerksam zugehört. Sagen Sie, Herr Pastor, rief er,
wie kommen Sie nach Kallpillen, ans Ende der Welt?

Ich wollte heiraten, sagte der Herr Pastor wehmütig lächelnd. Ich war
schon von Studentenzeiten her verlobt und wollte heiraten. Da sich nun das
Pfarramt in Kallpillen darbot, so nahm ich es an und bin da sitzen geblieben,
denn es ist schwer hier, von einem Orte, an dem man einmal ist, wieder weg zu
kommen. Glauben Sie mirs, Sie werden es mich erfahren.

Sie tun mir leid, Herr Pastor, fuhr der Doktor fort, ein Mann wie Sie,
und am Ende der Welt unter litauischen Bauern!

Gottes Welt ist überall.

Und auch darum tun Sie mir leid, daß Sie Ihre Kräfte an eine Verlorne
Sache setzen.

Wieso Verlorne Sache? rief der Herr Kandidat.

Alle Ihre Auslegungen, erwiderte der Doktor, alle Ihre Bemühungen, die
Schrift dem modernen Menschen mundgerecht zu machen, werden es nicht erreichen,
dieses alte Buch, das einst „Gottes Wort" war, zu halten. Das moderne Denken
hat keinen Begriff, der sich mit dem Worte „Gott" bezeichnen ließe. Wir ver¬
folgen die Kausalität der Dinge streng wissenschaftlich und kommen nicht zu Gott.

Man muß an Gott glauben, rief der Kandidat, der anfing, sich über ein
solches Bekenntnis des Unglaubens aufzuregen.

Muß man? entgegnete der Doktor. Man muß nur das tun, was seine Not¬
wendigkeit in sich selbst trägt. Ich sehe nicht die Notwendigkeit, an die Existenz
eines Etwas zu glauben, das man Gott nennt. Wo soll dieser Gott wohnen?
Im Himmel? Ja, wo ist dieser Himmel? Heute weiß man. daß der Himmel
nicht eine blaue Glocke ist, die über die Erdscheibe gestellt ist. Heute gibt es


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[0686] Herrenmenschen und der falschen Königin durchschaut. Das ist die Gabe des Propheten. Die Propheten des Alten Testaments, Jesaicis, Amos, Jonas durchschauen mit gott¬ erleuchteten Augen das ganze Lügenweseu eines Gottesdienstes, der Gott im Munde und nicht im Herzen führt, den ganzen Selbstbetrug einer verblendete» Staats¬ kunst, die Haltlosigkeit der Phrase: Wir sind Gottes Volk, Gott kann sein Volk nicht fallen lassen. Daß dies zum Zusammenbruche führen müsse, das sehen sie mit handgreiflicher Deutlichkeit, und sie sprechen es aus. Eins kann helfen: die Rückkehr zu Jahwe und zu deu Kräften, die das Volk groß gemacht haben. Aber das gegenwärtige Geschlecht wirds nicht erleben. Der Rest, in schweren Zeiten erzogen, wird sich bekehren. Von innen heraus wird und muß die Er¬ neuerung kommen durch einen Mann, den Gott sendet als einen König eines geistigen Volkes. Ich meinte, sagte Tauenden, der liebe Gott habe den Propheten ins Herz ge¬ geben, daß sie von Christo weissagen sollten. So ist es, fügte der Herr Kandidat hinzu. Der heilige Geist spricht durch den Mund des Apostels: „Von diesem zeugen alle Propheten, daß dnrch seinen Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen." Und doch, fuhr der Herr Pastor fort, ist von keinem Propheten der Christus¬ name genannt worden. Andre, ja; aber dieser nicht. Sagen Sie mir, Herr Kandidat, an wen hat der Dichter des Kyffhcinserliedes gedacht, der als erstandncr Barbarossa das Reich wieder aufrichten werde? An Wilhelm den Ersten? Er hat ihn als Kaiser nicht gekannt, er hat 1870 nicht erlebt. Und doch hat er von keinem andern geweissagt als von ihm. Er hat ganz genau auf deu Punkt in der Zukunft gezeigt, von wo aus er kommen mußte. Nämlich in dem Lande und zu der Zeil, wo die schwarzen Raben nicht mehr fliegen. — Verstehn Sie recht: ich meine nicht, daß jede sachliche Erkenntnis Prophetie ist. Sie ist eine besondre Gottesgnbe. Aber diese Gaben bestehn nicht in fremden Kräften, sie sind nicht geistliche In¬ jektionen, sondern Steigerungen vorhandner Kräfte. Da, wo Gott Wunder tut, schlägt er nicht seine Ordnungen in Trümmer, sondern er wirkt so, daß er Kräfte steigert oder zu seiner Absicht zusammenfaßt. Der Doktor hatte aufmerksam zugehört. Sagen Sie, Herr Pastor, rief er, wie kommen Sie nach Kallpillen, ans Ende der Welt? Ich wollte heiraten, sagte der Herr Pastor wehmütig lächelnd. Ich war schon von Studentenzeiten her verlobt und wollte heiraten. Da sich nun das Pfarramt in Kallpillen darbot, so nahm ich es an und bin da sitzen geblieben, denn es ist schwer hier, von einem Orte, an dem man einmal ist, wieder weg zu kommen. Glauben Sie mirs, Sie werden es mich erfahren. Sie tun mir leid, Herr Pastor, fuhr der Doktor fort, ein Mann wie Sie, und am Ende der Welt unter litauischen Bauern! Gottes Welt ist überall. Und auch darum tun Sie mir leid, daß Sie Ihre Kräfte an eine Verlorne Sache setzen. Wieso Verlorne Sache? rief der Herr Kandidat. Alle Ihre Auslegungen, erwiderte der Doktor, alle Ihre Bemühungen, die Schrift dem modernen Menschen mundgerecht zu machen, werden es nicht erreichen, dieses alte Buch, das einst „Gottes Wort" war, zu halten. Das moderne Denken hat keinen Begriff, der sich mit dem Worte „Gott" bezeichnen ließe. Wir ver¬ folgen die Kausalität der Dinge streng wissenschaftlich und kommen nicht zu Gott. Man muß an Gott glauben, rief der Kandidat, der anfing, sich über ein solches Bekenntnis des Unglaubens aufzuregen. Muß man? entgegnete der Doktor. Man muß nur das tun, was seine Not¬ wendigkeit in sich selbst trägt. Ich sehe nicht die Notwendigkeit, an die Existenz eines Etwas zu glauben, das man Gott nennt. Wo soll dieser Gott wohnen? Im Himmel? Ja, wo ist dieser Himmel? Heute weiß man. daß der Himmel nicht eine blaue Glocke ist, die über die Erdscheibe gestellt ist. Heute gibt es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/686>, abgerufen am 05.02.2025.