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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Herrenmenschen

seinem Thron herab und gebot dem ganzen Lande, Buße zu tun, und gebot, Groß
und Klein, Mensch und Tier sollten fasten und in Sack und Asche Buße tun.
Und da gab es einen Bußtag, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Die
Menschen beteten an auf ihrem Angesichte und trugen Trauerkleider und streuten
Asche auf ihr Haupt und zitterten vor dem Ende, das geweissagt war, und das
Vieh brüllte vor Hunger, und die Hunde machten den Rücken krumm und wedelten
mit dem Schwänze und bettelten. Aber es gab nichts zu fressen bis zum Abend.
Weißt du, Wolf, warum die Tiere hungern mußten? Jeder muß angeredet werden
mit der Sprache, die er versteht. Die Tiere verstehn nicht die Wortsprache, aber
sie verstehn die Magensprache.

Ja, das ist richtig, sagte Wols lachend. Was eine Hand voll Klee bedeutet,
versteht mein Ziegenbock ganz genau. Und nun weiter?

Weiter erzähle ich dir die Geschichte nicht. Das wird der Herr Kandidat
tun, denn das Schönste kommt erst noch. Der Herr Kandidat wird dir auch von
den andern Propheten erzählen, und dann wirst du ihre Namen behalten.

Daß hiermit ein pädagogischer Wink an die Adresse des Herrn Kandidaten
gerichtet war, war zu erkennen, nicht aber, welchen Eindruck er machte. Der Herr
Kandidat schwieg intensiver als zuvor. Wolf aber wandte sich, nachdem ihn der
Herr Pastor freigegeben hatte, an Schwechting.

Komm her, Wolf, sagte dieser, du ungläubiger Prophet, und weissage uns.

Ach lassen Sie mich, Onkel Fips, ich kaun gar nicht weissagen.

Nichts da, rief Schwechting, hier wird nicht gekniffen. Wo steckt der Kontrakt?
Wo steckt das Papier, das Onkel Heinz photographiert hat? Du hast gesagt, es
sei gestohlen.

Das ist es auch, bestätigte Wolf.

Schön, aber wo steckt es jetzt? Wir brauchen es sehr notwendig.

Wolf gab sich sichtlich einen innern Anstoß und machte die Miene eines, der
sich mit Anstrengung besinnt. Wo wird es sein? sagte er. Da, wo die andern
Papiere sind.

Da haben wir längst gesucht, sagte Tauenden.

Da ist es doch, erwiderte Wolf und zog sich in seinen Winkel zurück.

Der Herr Pastor hatte den Vorgang nicht beobachtet, sondern hatte seinen
eignen Gedanken nachgehangen. Jetzt begann er: Die Prophetie ist die Gabe der
Sachlichkeit, eine wunderseltne Gabe.

Prophetie, sagte der Herr Kandidat, wenn mir gestattet ist, ein Wort einzu¬
fügen, ist die Gabe göttlicher Offenbarung.

Zugegeben, erwiderte der Herr Pastor; aber lassen Sie mich die Sache ein¬
mal von der menschlichen Seite aus betrachten. Alle Dinge dieser Welt sind mit
einer Wolke von Schein und Phrase umgeben. Die haben bei dem Menschen den
größten, oder sage ich lieber: den schnellsten Erfolg, die Meister des Scheins und
der Phrase sind. Aber Propheten sind sie nicht, sondern Phonographen, die ihr
Sprüchlein aufsagen. Prophet ist der, dessen Augen scharf genug sind, durch den
Schein hindurch die Wesenheit der Dinge und ihre Verkettung zu erkennen. Um
den Wuchs eines Baumes zu verstehn, muß man durch sein Blätterdach hindurch¬
schauen und die Zweige und Äste erkennen. Bismcirck war einer der vier größten
Propheten auf politischem Gebiete. Und einer der zwölf kleinen war Oxenstjerna,
von dem wir die Weissagung haben: Du glaubst nicht, mit wie wenig Verstand
die Völker regiert werden. Sie sind Propheten, nicht durch sachliche Inspiration,
sondern durch die Gabe der Sachlichkeit. Kassandra, jene tragische Gestalt der
griechischen Sage, hatte die Gabe erhalten, die Zukunft vorauszusehen, und dazu
deu Fluch, daß ihr niemand glaubte. Sie hat die, die Troja verteidigten, besser
gekannt, als diese sich selbst. Auf den Stufen des Palastes zu Mykene stößt sie ihren
Wehruf aus, während alles vom Festjubel erfüllt ist. Sie sieht das blutige Ende, das
kommen mußte, sie sieht es, weil sie die hinterlistige Freundschaft des feigen Königs


Grenzboten II 190S 87
Herrenmenschen

seinem Thron herab und gebot dem ganzen Lande, Buße zu tun, und gebot, Groß
und Klein, Mensch und Tier sollten fasten und in Sack und Asche Buße tun.
Und da gab es einen Bußtag, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Die
Menschen beteten an auf ihrem Angesichte und trugen Trauerkleider und streuten
Asche auf ihr Haupt und zitterten vor dem Ende, das geweissagt war, und das
Vieh brüllte vor Hunger, und die Hunde machten den Rücken krumm und wedelten
mit dem Schwänze und bettelten. Aber es gab nichts zu fressen bis zum Abend.
Weißt du, Wolf, warum die Tiere hungern mußten? Jeder muß angeredet werden
mit der Sprache, die er versteht. Die Tiere verstehn nicht die Wortsprache, aber
sie verstehn die Magensprache.

Ja, das ist richtig, sagte Wols lachend. Was eine Hand voll Klee bedeutet,
versteht mein Ziegenbock ganz genau. Und nun weiter?

Weiter erzähle ich dir die Geschichte nicht. Das wird der Herr Kandidat
tun, denn das Schönste kommt erst noch. Der Herr Kandidat wird dir auch von
den andern Propheten erzählen, und dann wirst du ihre Namen behalten.

Daß hiermit ein pädagogischer Wink an die Adresse des Herrn Kandidaten
gerichtet war, war zu erkennen, nicht aber, welchen Eindruck er machte. Der Herr
Kandidat schwieg intensiver als zuvor. Wolf aber wandte sich, nachdem ihn der
Herr Pastor freigegeben hatte, an Schwechting.

Komm her, Wolf, sagte dieser, du ungläubiger Prophet, und weissage uns.

Ach lassen Sie mich, Onkel Fips, ich kaun gar nicht weissagen.

Nichts da, rief Schwechting, hier wird nicht gekniffen. Wo steckt der Kontrakt?
Wo steckt das Papier, das Onkel Heinz photographiert hat? Du hast gesagt, es
sei gestohlen.

Das ist es auch, bestätigte Wolf.

Schön, aber wo steckt es jetzt? Wir brauchen es sehr notwendig.

Wolf gab sich sichtlich einen innern Anstoß und machte die Miene eines, der
sich mit Anstrengung besinnt. Wo wird es sein? sagte er. Da, wo die andern
Papiere sind.

Da haben wir längst gesucht, sagte Tauenden.

Da ist es doch, erwiderte Wolf und zog sich in seinen Winkel zurück.

Der Herr Pastor hatte den Vorgang nicht beobachtet, sondern hatte seinen
eignen Gedanken nachgehangen. Jetzt begann er: Die Prophetie ist die Gabe der
Sachlichkeit, eine wunderseltne Gabe.

Prophetie, sagte der Herr Kandidat, wenn mir gestattet ist, ein Wort einzu¬
fügen, ist die Gabe göttlicher Offenbarung.

Zugegeben, erwiderte der Herr Pastor; aber lassen Sie mich die Sache ein¬
mal von der menschlichen Seite aus betrachten. Alle Dinge dieser Welt sind mit
einer Wolke von Schein und Phrase umgeben. Die haben bei dem Menschen den
größten, oder sage ich lieber: den schnellsten Erfolg, die Meister des Scheins und
der Phrase sind. Aber Propheten sind sie nicht, sondern Phonographen, die ihr
Sprüchlein aufsagen. Prophet ist der, dessen Augen scharf genug sind, durch den
Schein hindurch die Wesenheit der Dinge und ihre Verkettung zu erkennen. Um
den Wuchs eines Baumes zu verstehn, muß man durch sein Blätterdach hindurch¬
schauen und die Zweige und Äste erkennen. Bismcirck war einer der vier größten
Propheten auf politischem Gebiete. Und einer der zwölf kleinen war Oxenstjerna,
von dem wir die Weissagung haben: Du glaubst nicht, mit wie wenig Verstand
die Völker regiert werden. Sie sind Propheten, nicht durch sachliche Inspiration,
sondern durch die Gabe der Sachlichkeit. Kassandra, jene tragische Gestalt der
griechischen Sage, hatte die Gabe erhalten, die Zukunft vorauszusehen, und dazu
deu Fluch, daß ihr niemand glaubte. Sie hat die, die Troja verteidigten, besser
gekannt, als diese sich selbst. Auf den Stufen des Palastes zu Mykene stößt sie ihren
Wehruf aus, während alles vom Festjubel erfüllt ist. Sie sieht das blutige Ende, das
kommen mußte, sie sieht es, weil sie die hinterlistige Freundschaft des feigen Königs


Grenzboten II 190S 87
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[0685] Herrenmenschen seinem Thron herab und gebot dem ganzen Lande, Buße zu tun, und gebot, Groß und Klein, Mensch und Tier sollten fasten und in Sack und Asche Buße tun. Und da gab es einen Bußtag, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Die Menschen beteten an auf ihrem Angesichte und trugen Trauerkleider und streuten Asche auf ihr Haupt und zitterten vor dem Ende, das geweissagt war, und das Vieh brüllte vor Hunger, und die Hunde machten den Rücken krumm und wedelten mit dem Schwänze und bettelten. Aber es gab nichts zu fressen bis zum Abend. Weißt du, Wolf, warum die Tiere hungern mußten? Jeder muß angeredet werden mit der Sprache, die er versteht. Die Tiere verstehn nicht die Wortsprache, aber sie verstehn die Magensprache. Ja, das ist richtig, sagte Wols lachend. Was eine Hand voll Klee bedeutet, versteht mein Ziegenbock ganz genau. Und nun weiter? Weiter erzähle ich dir die Geschichte nicht. Das wird der Herr Kandidat tun, denn das Schönste kommt erst noch. Der Herr Kandidat wird dir auch von den andern Propheten erzählen, und dann wirst du ihre Namen behalten. Daß hiermit ein pädagogischer Wink an die Adresse des Herrn Kandidaten gerichtet war, war zu erkennen, nicht aber, welchen Eindruck er machte. Der Herr Kandidat schwieg intensiver als zuvor. Wolf aber wandte sich, nachdem ihn der Herr Pastor freigegeben hatte, an Schwechting. Komm her, Wolf, sagte dieser, du ungläubiger Prophet, und weissage uns. Ach lassen Sie mich, Onkel Fips, ich kaun gar nicht weissagen. Nichts da, rief Schwechting, hier wird nicht gekniffen. Wo steckt der Kontrakt? Wo steckt das Papier, das Onkel Heinz photographiert hat? Du hast gesagt, es sei gestohlen. Das ist es auch, bestätigte Wolf. Schön, aber wo steckt es jetzt? Wir brauchen es sehr notwendig. Wolf gab sich sichtlich einen innern Anstoß und machte die Miene eines, der sich mit Anstrengung besinnt. Wo wird es sein? sagte er. Da, wo die andern Papiere sind. Da haben wir längst gesucht, sagte Tauenden. Da ist es doch, erwiderte Wolf und zog sich in seinen Winkel zurück. Der Herr Pastor hatte den Vorgang nicht beobachtet, sondern hatte seinen eignen Gedanken nachgehangen. Jetzt begann er: Die Prophetie ist die Gabe der Sachlichkeit, eine wunderseltne Gabe. Prophetie, sagte der Herr Kandidat, wenn mir gestattet ist, ein Wort einzu¬ fügen, ist die Gabe göttlicher Offenbarung. Zugegeben, erwiderte der Herr Pastor; aber lassen Sie mich die Sache ein¬ mal von der menschlichen Seite aus betrachten. Alle Dinge dieser Welt sind mit einer Wolke von Schein und Phrase umgeben. Die haben bei dem Menschen den größten, oder sage ich lieber: den schnellsten Erfolg, die Meister des Scheins und der Phrase sind. Aber Propheten sind sie nicht, sondern Phonographen, die ihr Sprüchlein aufsagen. Prophet ist der, dessen Augen scharf genug sind, durch den Schein hindurch die Wesenheit der Dinge und ihre Verkettung zu erkennen. Um den Wuchs eines Baumes zu verstehn, muß man durch sein Blätterdach hindurch¬ schauen und die Zweige und Äste erkennen. Bismcirck war einer der vier größten Propheten auf politischem Gebiete. Und einer der zwölf kleinen war Oxenstjerna, von dem wir die Weissagung haben: Du glaubst nicht, mit wie wenig Verstand die Völker regiert werden. Sie sind Propheten, nicht durch sachliche Inspiration, sondern durch die Gabe der Sachlichkeit. Kassandra, jene tragische Gestalt der griechischen Sage, hatte die Gabe erhalten, die Zukunft vorauszusehen, und dazu deu Fluch, daß ihr niemand glaubte. Sie hat die, die Troja verteidigten, besser gekannt, als diese sich selbst. Auf den Stufen des Palastes zu Mykene stößt sie ihren Wehruf aus, während alles vom Festjubel erfüllt ist. Sie sieht das blutige Ende, das kommen mußte, sie sieht es, weil sie die hinterlistige Freundschaft des feigen Königs Grenzboten II 190S 87

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/685>, abgerufen am 06.02.2025.