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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Die moralischen Wochenschriften

Trotz dem Riesenerfolge ließen die Herausgeber den "spectator" am
6> Dezember 1712 eingehn, vermutlich weil sie befürchteten, daß die Art und
die Form die Leser auf die Dauer ermüden würden, und daß dadurch das
Ansehen der Herausgeber Schaden erleiden könnte. Sie hielten es für ge¬
boten, die handelnden Personen vom Schauplatz abtreten zu lassen, neue
Charaktere und Situationen zu erfinden und ein neues Blatt unter neuem
Titel herauszugeben. So erschien am 13. März 1713 ebenfalls täglich "The
Guardian," der Vormund. Der Held ist ein alter Mann, Vormund für die
Kinder eines alten Freundes, der der Mutter seine Ansichten über Erziehung
ausspricht, seine Lebensgrundsätze darlegt und daran die verschiedensten Schil¬
derungen knüpft. Ein äußerst dankbarer Vorwand, der auch in vollendeter
Form durchgeführt wurde. Aber dem "Guardian" war kein langes Leben be-
schieden. Addison beteiligte sich nur noch wenig an der Herausgabe, und
Steele ließ sich verleiten, von seiner bisherigen Praxis abzuweichen und in
dem Blatt auch politische Artikel zu bringen, die sich gegen die herrschende
Partei richtete". Das war der Verderb des sonst vortrefflichen Blattes, Steele
selbst fühlte, daß es uicht politischen und moralischen Interessen zu derselben
Zeit dienen konnte, und ließ es schon am 1. Oktober 1713 eingehn. An dessen
Stelle traten zwei Blätter, ein rein politisches, "The Englishman," und eine
moralische Wochenschrift "The Lover," beide gingen nach kurzer Zeit ein, das
Schicksal ihres Herausgebers war auch ihr Untergang. Am 18. März nämlich
wurde Steele aus dem Parlament ausgestoßen, seine journalistische Tätigkeit
erreichte damit vorerst ihr Ende. Später gelangte er zu hohen Ehren, er
wandte aber seine Arbeitskraft andern Gebieten zu.

Dagegen nahm nach längerer Pause Addison das Unternehmen wieder
auf, und zwar gab er vom 18. Juni 1714 an wieder eine Fortsetzung des
"spectator" heraus, allerdings mit der Änderung, daß das Blatt fortan nur
dreimal wöchentlich erschien. Die Zeitschrift enthielt sich auch diesesmal aller
Politischen Anspielungen und zeichnete sich aus durch Witz, Anmut und Reich¬
haltigkeit der Erfindung. Aber die politischen Ereignisse, die England be¬
rührten, bereiteten dem neuen "spectator" ein unvermutet frühes Ende; am
20. Dezember 1714 erschien das letzte Blatt. Das Haus Hannover hatte den
englischen Thron bestiegen, Addison wurde erster Staatssekretär und hatte in
seiner neuen politische" Laufbahn keine Zeit, sich mit der Herausgabe mora¬
lischer Wochenschriften zu befassen. Zwar wurde von andrer Seite eine Fort¬
setzung herauszugeben versucht, jedoch uach kurzem Bestehn mußte das Unter¬
nehmen eingehn.

Das Geheimnis des Erfolgs dieser Zeitschriften lag darin, daß sie wirklich
etwas Neues, Eigentümliches brachten, ihr großes Verdienst war, daß sie dem
Volke sein eignes Tun und Treiben klar vor Augen führten ohne Verschönerung
und ohne Verzerrung, daß sie dadurch sehr zur Verbesserung der Sitten bei¬
trugen und so das Volk reifer machten. Der gründlichste englische Kenner
dieses Literaturzweiges, Nathan Drake, sagt am Schluß seines umfangreichen
Werkes über die Wochenschriften: "Wenn wir die öffentlichen und die häus¬
lichen Zustände Englands, wie sie vor und uach der Zeit jener Wochenschriften


Die moralischen Wochenschriften

Trotz dem Riesenerfolge ließen die Herausgeber den „spectator" am
6> Dezember 1712 eingehn, vermutlich weil sie befürchteten, daß die Art und
die Form die Leser auf die Dauer ermüden würden, und daß dadurch das
Ansehen der Herausgeber Schaden erleiden könnte. Sie hielten es für ge¬
boten, die handelnden Personen vom Schauplatz abtreten zu lassen, neue
Charaktere und Situationen zu erfinden und ein neues Blatt unter neuem
Titel herauszugeben. So erschien am 13. März 1713 ebenfalls täglich „The
Guardian," der Vormund. Der Held ist ein alter Mann, Vormund für die
Kinder eines alten Freundes, der der Mutter seine Ansichten über Erziehung
ausspricht, seine Lebensgrundsätze darlegt und daran die verschiedensten Schil¬
derungen knüpft. Ein äußerst dankbarer Vorwand, der auch in vollendeter
Form durchgeführt wurde. Aber dem „Guardian" war kein langes Leben be-
schieden. Addison beteiligte sich nur noch wenig an der Herausgabe, und
Steele ließ sich verleiten, von seiner bisherigen Praxis abzuweichen und in
dem Blatt auch politische Artikel zu bringen, die sich gegen die herrschende
Partei richtete». Das war der Verderb des sonst vortrefflichen Blattes, Steele
selbst fühlte, daß es uicht politischen und moralischen Interessen zu derselben
Zeit dienen konnte, und ließ es schon am 1. Oktober 1713 eingehn. An dessen
Stelle traten zwei Blätter, ein rein politisches, „The Englishman," und eine
moralische Wochenschrift „The Lover," beide gingen nach kurzer Zeit ein, das
Schicksal ihres Herausgebers war auch ihr Untergang. Am 18. März nämlich
wurde Steele aus dem Parlament ausgestoßen, seine journalistische Tätigkeit
erreichte damit vorerst ihr Ende. Später gelangte er zu hohen Ehren, er
wandte aber seine Arbeitskraft andern Gebieten zu.

Dagegen nahm nach längerer Pause Addison das Unternehmen wieder
auf, und zwar gab er vom 18. Juni 1714 an wieder eine Fortsetzung des
„spectator" heraus, allerdings mit der Änderung, daß das Blatt fortan nur
dreimal wöchentlich erschien. Die Zeitschrift enthielt sich auch diesesmal aller
Politischen Anspielungen und zeichnete sich aus durch Witz, Anmut und Reich¬
haltigkeit der Erfindung. Aber die politischen Ereignisse, die England be¬
rührten, bereiteten dem neuen „spectator" ein unvermutet frühes Ende; am
20. Dezember 1714 erschien das letzte Blatt. Das Haus Hannover hatte den
englischen Thron bestiegen, Addison wurde erster Staatssekretär und hatte in
seiner neuen politische» Laufbahn keine Zeit, sich mit der Herausgabe mora¬
lischer Wochenschriften zu befassen. Zwar wurde von andrer Seite eine Fort¬
setzung herauszugeben versucht, jedoch uach kurzem Bestehn mußte das Unter¬
nehmen eingehn.

Das Geheimnis des Erfolgs dieser Zeitschriften lag darin, daß sie wirklich
etwas Neues, Eigentümliches brachten, ihr großes Verdienst war, daß sie dem
Volke sein eignes Tun und Treiben klar vor Augen führten ohne Verschönerung
und ohne Verzerrung, daß sie dadurch sehr zur Verbesserung der Sitten bei¬
trugen und so das Volk reifer machten. Der gründlichste englische Kenner
dieses Literaturzweiges, Nathan Drake, sagt am Schluß seines umfangreichen
Werkes über die Wochenschriften: „Wenn wir die öffentlichen und die häus¬
lichen Zustände Englands, wie sie vor und uach der Zeit jener Wochenschriften


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/431>, abgerufen am 06.02.2025.