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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Der Dichterphilosoph des deutschen Volkes

sein tierisches Lebe" erhalte. Er erhält sein tierisches Leben, um ein geistiges
länger leben zu können. Hier ist also das Mittel verschieden vom Zweck, dort
fielen Mittel und Zweck in eins zusammen. Das ist eine von den Grenz¬
scheiden zwischen Mensch und Tier. . . . Das Kind ist noch ganz Tier, oder
besser: mehr oder auch weniger als Tier; menschliches Tier. Denn das Wesen,
das einmal Mensch heißen soll, darf niemals nur Tier gewesen sein."

Zwischen diesem frühen Programm und seiner spätern Ausführung liegt
das, was Schiller unter dein Namen Julius seine Theosophie nennt. Das
Universum ein göttliches Kunstwerk, das wir räumlich betrachtet die Welt, im
Zeitverlauf angesehen die Weltgeschichte nennen. Daß wir uns in diesem
Augenblick hier zusammenfanden, sagt er in seiner akademischen Antrittsrede,
"uus mit diesem Grade von Nationalknltur, mit dieser Sprache, diesen Sitten,
diesen bürgerlichen Vorteilen, diesem Maß von Gewissensfreiheit zusammenfanden,
ist das Resultat vielleicht aller vorhergegangnen Weltbegebenheiten: die ganze
Weltgeschichte würde wenigstens nötig sein, dieses einzige Moment zu erklären."
Die Schöpferin dieses lebendigen Kunstwerks aber, die in ihm lebt, es beseelt
und beseligt, ist die Liebe.

Geisterreich und Körperweltgewühle
Wälzet eines Rades Schwung zum Ziele;
Sphären lehrt es, Sklaven eines Zaunes,
Um das Herz des großen Weltenraumes
Labyrinthenbahnen ziehn --
Geister in umarmenden Systemen
Nach der großen Geistersonne strömen
Wie zum Meere Bäche fliehn.

Stund im All der Schöpfung ich alleine,
Seelen träumt ich in die Felsensteine,
Und umarmend küßt ich sie.

Freundlos war der große Weltenmeister,
Fühlte Mangel, darum schuf er Geister,
Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit.
Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,
Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches
schäumt ihm die Unendlichkeit.

"Nur das reiche Gemüt liebt, nnr das arme begehrt," heißt es noch in
einem seiner späteste" Epigramme. Seine Jugendgedichte aber und seine Jugend-
traum sind ganz voll von dieser Liebestrunkenheit und Liebesglnt; als all¬
gemeine Menschenliebe nimmt sie Gestalt an in seinem Posa, als beseligende
Freude verschmilzt sie mit der größten Tonschöpfung aller Zeiten zum Triumph¬
gesang der über Tod, Leid und Schuldbewußtsein siegenden Menschheit. Wer
nicht dem Pessimismus verfallen will, der wird niemals eine andre Metaphysik
finden als diese theosophische.

Schillers Psychologie und Ästhetik zeigen dann, wie sich der göttliche Liebes¬
wille in der Menschenwelt stufenweise verwirklicht, wie diese durch das Schöne
Zum Wahren und Guten erzogen wird, damit sie zuletzt im vollen Besitz des
Schönen die Seligkeit genieße. Jeder der beiden in diesem Satz zusammen-


Der Dichterphilosoph des deutschen Volkes

sein tierisches Lebe» erhalte. Er erhält sein tierisches Leben, um ein geistiges
länger leben zu können. Hier ist also das Mittel verschieden vom Zweck, dort
fielen Mittel und Zweck in eins zusammen. Das ist eine von den Grenz¬
scheiden zwischen Mensch und Tier. . . . Das Kind ist noch ganz Tier, oder
besser: mehr oder auch weniger als Tier; menschliches Tier. Denn das Wesen,
das einmal Mensch heißen soll, darf niemals nur Tier gewesen sein."

Zwischen diesem frühen Programm und seiner spätern Ausführung liegt
das, was Schiller unter dein Namen Julius seine Theosophie nennt. Das
Universum ein göttliches Kunstwerk, das wir räumlich betrachtet die Welt, im
Zeitverlauf angesehen die Weltgeschichte nennen. Daß wir uns in diesem
Augenblick hier zusammenfanden, sagt er in seiner akademischen Antrittsrede,
„uus mit diesem Grade von Nationalknltur, mit dieser Sprache, diesen Sitten,
diesen bürgerlichen Vorteilen, diesem Maß von Gewissensfreiheit zusammenfanden,
ist das Resultat vielleicht aller vorhergegangnen Weltbegebenheiten: die ganze
Weltgeschichte würde wenigstens nötig sein, dieses einzige Moment zu erklären."
Die Schöpferin dieses lebendigen Kunstwerks aber, die in ihm lebt, es beseelt
und beseligt, ist die Liebe.

Geisterreich und Körperweltgewühle
Wälzet eines Rades Schwung zum Ziele;
Sphären lehrt es, Sklaven eines Zaunes,
Um das Herz des großen Weltenraumes
Labyrinthenbahnen ziehn —
Geister in umarmenden Systemen
Nach der großen Geistersonne strömen
Wie zum Meere Bäche fliehn.

Stund im All der Schöpfung ich alleine,
Seelen träumt ich in die Felsensteine,
Und umarmend küßt ich sie.

Freundlos war der große Weltenmeister,
Fühlte Mangel, darum schuf er Geister,
Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit.
Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,
Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches
schäumt ihm die Unendlichkeit.

„Nur das reiche Gemüt liebt, nnr das arme begehrt," heißt es noch in
einem seiner späteste» Epigramme. Seine Jugendgedichte aber und seine Jugend-
traum sind ganz voll von dieser Liebestrunkenheit und Liebesglnt; als all¬
gemeine Menschenliebe nimmt sie Gestalt an in seinem Posa, als beseligende
Freude verschmilzt sie mit der größten Tonschöpfung aller Zeiten zum Triumph¬
gesang der über Tod, Leid und Schuldbewußtsein siegenden Menschheit. Wer
nicht dem Pessimismus verfallen will, der wird niemals eine andre Metaphysik
finden als diese theosophische.

Schillers Psychologie und Ästhetik zeigen dann, wie sich der göttliche Liebes¬
wille in der Menschenwelt stufenweise verwirklicht, wie diese durch das Schöne
Zum Wahren und Guten erzogen wird, damit sie zuletzt im vollen Besitz des
Schönen die Seligkeit genieße. Jeder der beiden in diesem Satz zusammen-


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[0249] Der Dichterphilosoph des deutschen Volkes sein tierisches Lebe» erhalte. Er erhält sein tierisches Leben, um ein geistiges länger leben zu können. Hier ist also das Mittel verschieden vom Zweck, dort fielen Mittel und Zweck in eins zusammen. Das ist eine von den Grenz¬ scheiden zwischen Mensch und Tier. . . . Das Kind ist noch ganz Tier, oder besser: mehr oder auch weniger als Tier; menschliches Tier. Denn das Wesen, das einmal Mensch heißen soll, darf niemals nur Tier gewesen sein." Zwischen diesem frühen Programm und seiner spätern Ausführung liegt das, was Schiller unter dein Namen Julius seine Theosophie nennt. Das Universum ein göttliches Kunstwerk, das wir räumlich betrachtet die Welt, im Zeitverlauf angesehen die Weltgeschichte nennen. Daß wir uns in diesem Augenblick hier zusammenfanden, sagt er in seiner akademischen Antrittsrede, „uus mit diesem Grade von Nationalknltur, mit dieser Sprache, diesen Sitten, diesen bürgerlichen Vorteilen, diesem Maß von Gewissensfreiheit zusammenfanden, ist das Resultat vielleicht aller vorhergegangnen Weltbegebenheiten: die ganze Weltgeschichte würde wenigstens nötig sein, dieses einzige Moment zu erklären." Die Schöpferin dieses lebendigen Kunstwerks aber, die in ihm lebt, es beseelt und beseligt, ist die Liebe. Geisterreich und Körperweltgewühle Wälzet eines Rades Schwung zum Ziele; Sphären lehrt es, Sklaven eines Zaunes, Um das Herz des großen Weltenraumes Labyrinthenbahnen ziehn — Geister in umarmenden Systemen Nach der großen Geistersonne strömen Wie zum Meere Bäche fliehn. Stund im All der Schöpfung ich alleine, Seelen träumt ich in die Felsensteine, Und umarmend küßt ich sie. Freundlos war der große Weltenmeister, Fühlte Mangel, darum schuf er Geister, Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit. Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches, Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches schäumt ihm die Unendlichkeit. „Nur das reiche Gemüt liebt, nnr das arme begehrt," heißt es noch in einem seiner späteste» Epigramme. Seine Jugendgedichte aber und seine Jugend- traum sind ganz voll von dieser Liebestrunkenheit und Liebesglnt; als all¬ gemeine Menschenliebe nimmt sie Gestalt an in seinem Posa, als beseligende Freude verschmilzt sie mit der größten Tonschöpfung aller Zeiten zum Triumph¬ gesang der über Tod, Leid und Schuldbewußtsein siegenden Menschheit. Wer nicht dem Pessimismus verfallen will, der wird niemals eine andre Metaphysik finden als diese theosophische. Schillers Psychologie und Ästhetik zeigen dann, wie sich der göttliche Liebes¬ wille in der Menschenwelt stufenweise verwirklicht, wie diese durch das Schöne Zum Wahren und Guten erzogen wird, damit sie zuletzt im vollen Besitz des Schönen die Seligkeit genieße. Jeder der beiden in diesem Satz zusammen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/249>, abgerufen am 05.02.2025.