Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Der Oichterphilosoph des deutschen Volkes gefaßten Grundgedanken ist unanfechtbar. Was den zweiten betrifft, so hat un¬ "Der Mensch kann sich selbst auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein; Der Oichterphilosoph des deutschen Volkes gefaßten Grundgedanken ist unanfechtbar. Was den zweiten betrifft, so hat un¬ „Der Mensch kann sich selbst auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein; <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0250" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297382"/> <fw type="header" place="top"> Der Oichterphilosoph des deutschen Volkes</fw><lb/> <p xml:id="ID_1123" prev="#ID_1122"> gefaßten Grundgedanken ist unanfechtbar. Was den zweiten betrifft, so hat un¬<lb/> streitig Schiller Recht, wenn er den ästhetischen Genuß den einzigen nennt, der<lb/> weder mit Schmerzen erkauft noch mit solchen gebüßt wird. Wäre also voll-<lb/> kommnes Glück auf Erden möglich, so würde es im ungestörten ästhetischen<lb/> Genuß einer vollkommnen Umgebung oder einer vollkommnen Innenwelt bestehn.<lb/> lind auch das ist richtig, daß nur der ästhetische Mensch der vollkommne Mensch<lb/> ist, und daß der Verstandesmensch, der Gesetzesmeusch so wenig ein vollkommner<lb/> und harmonischer Mensch genannt werden kann wie der Tiermensch.</p><lb/> <p xml:id="ID_1124"> „Der Mensch kann sich selbst auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein;<lb/> entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen, oder<lb/> als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören. Der Wilde verachtet<lb/> die Kunst und erkennt die Natur als seinen unumschränkten Gebieter; der Barbar<lb/> verspottet und entehrt die Natur, aber, verächtlicher als der Wilde, fährt er<lb/> häufig genug fort, der Sklave seines Sklaven zu sein. Der gebildete Mensch<lb/> macht die Natur zu seinem Freund und ehrt ihre Freiheit, indem er bloß ihre<lb/> Willkür zügelt." Sehr richtig schildert er, wie fortschreitende Zivilisation die<lb/> Einheit des Menschenwesens zerreißt. Wie weit haben seitdem Arbeitteilnng<lb/> und Spezialisierung die Zerreißung getrieben! Was aber die Erziehung des<lb/> Menschengeschlechts betrifft, so hat die heutige Ethnologie bestätigt, was Schiller<lb/> in seinen Abhandlungen beweist und im Eleusischeu Fest, vollständiger in den:<lb/> großen Lehrgedicht „Die Künstler" poetisch darstellt, daß es der Sinn für Schmuck<lb/> ist, der den Wilden über das einfache tierische Bedürfnis erhebt, ihn zum Menschen<lb/> macht und ihn lehrt, die Bahn zur Kultur einzuschlagen. Auge und Ohr sind<lb/> es, die beiden geistigen Sinne, die das Wohlgefallen am Schmuck und an der<lb/> Musik vermitteln, an zwei Erscheinungen, die nur als Schein gefallen, uicht als<lb/> Mittel zur Befriedigung leiblicher Bedürfnisse. „Die Natur selbst ist es, die<lb/> den Menschen von der Realität zum Scheine emporhebt, indem sie ihn mit zwei<lb/> Sinnen ausrüstete, die ihn bloß durch den Schein zur Erkenntnis des Wirklichen<lb/> führen. In dem Auge und den, Ohr ist die andringende Materie schon hinweg¬<lb/> gewälzt von den Sinnen, und das Objekt entfernt sich von uns, das wir in den<lb/> tierischen Sinnen unmittelbar berühren. Was wir dnrch das Auge sehen, ist<lb/> von dem verschieden, was wir empfinden; denn der Verstand springt über das<lb/> Licht hinaus zu den Gegenständen. Der Gegenstand des Tales ödes TastgefülM<lb/> ist eine Gewalt, die wir erleiden; der Gegenstand des Auges und des Ohres ist<lb/> eine Form, die wir erzeugen. So lange der Mensch noch ein Wilder ist, ge¬<lb/> nießt er bloß mit den Sinnen des Gefühls, denen die Sinne des Scheins in<lb/> dieser Periode bloß dienen jzur Aufsuchung der Nahrung, Meidung von Ge¬<lb/> fahren usw.f. Er erhebt sich entweder gar uicht zum Sehen, oder dieses gewährt<lb/> ihm keine Befriedigung. Sobald er anfängt, mit dem Auge zu genießen, und<lb/> das Sehen für ihn einen selbständigen Wert erlaugt, so ist er auch schon<lb/> ästhetisch frei, und der Spieltrieb hat sich entfaltet." Nur im Spiel nämlich ist<lb/> der Mensch völlig frei, und nur die Freiheit beglückt ihn, aber auch sie nur<lb/> vollendet sein Menschentum. Und des Menschen würdig ist nur eine Art des<lb/> Spiels: die des Spiels mit dem schönen Schein; der Mensch soll nur mit der<lb/> Schönheit spielen, und er soll mit der Schönheit nur spielen.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0250]
Der Oichterphilosoph des deutschen Volkes
gefaßten Grundgedanken ist unanfechtbar. Was den zweiten betrifft, so hat un¬
streitig Schiller Recht, wenn er den ästhetischen Genuß den einzigen nennt, der
weder mit Schmerzen erkauft noch mit solchen gebüßt wird. Wäre also voll-
kommnes Glück auf Erden möglich, so würde es im ungestörten ästhetischen
Genuß einer vollkommnen Umgebung oder einer vollkommnen Innenwelt bestehn.
lind auch das ist richtig, daß nur der ästhetische Mensch der vollkommne Mensch
ist, und daß der Verstandesmensch, der Gesetzesmeusch so wenig ein vollkommner
und harmonischer Mensch genannt werden kann wie der Tiermensch.
„Der Mensch kann sich selbst auf eine doppelte Weise entgegengesetzt sein;
entweder als Wilder, wenn seine Gefühle über seine Grundsätze herrschen, oder
als Barbar, wenn seine Grundsätze seine Gefühle zerstören. Der Wilde verachtet
die Kunst und erkennt die Natur als seinen unumschränkten Gebieter; der Barbar
verspottet und entehrt die Natur, aber, verächtlicher als der Wilde, fährt er
häufig genug fort, der Sklave seines Sklaven zu sein. Der gebildete Mensch
macht die Natur zu seinem Freund und ehrt ihre Freiheit, indem er bloß ihre
Willkür zügelt." Sehr richtig schildert er, wie fortschreitende Zivilisation die
Einheit des Menschenwesens zerreißt. Wie weit haben seitdem Arbeitteilnng
und Spezialisierung die Zerreißung getrieben! Was aber die Erziehung des
Menschengeschlechts betrifft, so hat die heutige Ethnologie bestätigt, was Schiller
in seinen Abhandlungen beweist und im Eleusischeu Fest, vollständiger in den:
großen Lehrgedicht „Die Künstler" poetisch darstellt, daß es der Sinn für Schmuck
ist, der den Wilden über das einfache tierische Bedürfnis erhebt, ihn zum Menschen
macht und ihn lehrt, die Bahn zur Kultur einzuschlagen. Auge und Ohr sind
es, die beiden geistigen Sinne, die das Wohlgefallen am Schmuck und an der
Musik vermitteln, an zwei Erscheinungen, die nur als Schein gefallen, uicht als
Mittel zur Befriedigung leiblicher Bedürfnisse. „Die Natur selbst ist es, die
den Menschen von der Realität zum Scheine emporhebt, indem sie ihn mit zwei
Sinnen ausrüstete, die ihn bloß durch den Schein zur Erkenntnis des Wirklichen
führen. In dem Auge und den, Ohr ist die andringende Materie schon hinweg¬
gewälzt von den Sinnen, und das Objekt entfernt sich von uns, das wir in den
tierischen Sinnen unmittelbar berühren. Was wir dnrch das Auge sehen, ist
von dem verschieden, was wir empfinden; denn der Verstand springt über das
Licht hinaus zu den Gegenständen. Der Gegenstand des Tales ödes TastgefülM
ist eine Gewalt, die wir erleiden; der Gegenstand des Auges und des Ohres ist
eine Form, die wir erzeugen. So lange der Mensch noch ein Wilder ist, ge¬
nießt er bloß mit den Sinnen des Gefühls, denen die Sinne des Scheins in
dieser Periode bloß dienen jzur Aufsuchung der Nahrung, Meidung von Ge¬
fahren usw.f. Er erhebt sich entweder gar uicht zum Sehen, oder dieses gewährt
ihm keine Befriedigung. Sobald er anfängt, mit dem Auge zu genießen, und
das Sehen für ihn einen selbständigen Wert erlaugt, so ist er auch schon
ästhetisch frei, und der Spieltrieb hat sich entfaltet." Nur im Spiel nämlich ist
der Mensch völlig frei, und nur die Freiheit beglückt ihn, aber auch sie nur
vollendet sein Menschentum. Und des Menschen würdig ist nur eine Art des
Spiels: die des Spiels mit dem schönen Schein; der Mensch soll nur mit der
Schönheit spielen, und er soll mit der Schönheit nur spielen.
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