Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Schiller der Inhalt nichts, die Form alles tun soll (1795), so wird ein Objekt zum Ganz gewiß ist nicht eine Poesie für alle Zeiten, ein Drama für alle Man scheint zu schaudern vor der bekannten Meinung Gneisenaus von Schiller der Inhalt nichts, die Form alles tun soll (1795), so wird ein Objekt zum Ganz gewiß ist nicht eine Poesie für alle Zeiten, ein Drama für alle Man scheint zu schaudern vor der bekannten Meinung Gneisenaus von <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0244" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297376"/> <fw type="header" place="top"> Schiller</fw><lb/> <p xml:id="ID_1104" prev="#ID_1103"> der Inhalt nichts, die Form alles tun soll (1795), so wird ein Objekt zum<lb/> ästhetischen Gebrauch gerade um so viel weniger taugen, als es sich zu einem<lb/> moralischen qualifiziert (1793). Auch ist nicht das Leiden an sich pathetisch,<lb/> sondern der Widerstand gegen das Leiden. Gleicht ein Drama einem „Besuch<lb/> in Spitälern," so empfinden wir vielleicht eine Ausleerung des Tränensacks<lb/> und eine wollüstige Erleichterung der Gefäße, aber der Geist geht leer aus<lb/> (1793). Ja. der Mensch ist ein ärmlicher Wicht, ich weiß — doch das wollt<lb/> ich eben vergessen und kam, ach, wie gereut minds, zu dir!</p><lb/> <p xml:id="ID_1105"> Ganz gewiß ist nicht eine Poesie für alle Zeiten, ein Drama für alle<lb/> künftigen Geschlechter. Aber das wahrhaft Menschliche kann immer wieder an¬<lb/> sprechen. Als Goethe den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte, kenn¬<lb/> zeichnete Schiller als Neigung der damaligen Zeit, nicht mehr der Worte<lb/> rednerisch Gepränge, nur der Natur getreues Bild gefällt, und in der Wahrheit<lb/> findet man das Schöne. Gerade das ists, was viele jetzt gegen Schiller geltend<lb/> machen. Man verzeiht ihm nicht die Platensche silberne Schwinge des Wohl¬<lb/> klangs, findet gleichsam zu viel Posaune in seinem Orchester, eine Eigenheit<lb/> seiner schwungvollen Sprache, die man Rhetorik nennt. Das sei nicht der Natur<lb/> getreues Bild. Auch liebt man die Wahrheit stark in der Form jenes „Affen¬<lb/> talents gemeiner Nachahmung," obgleich die nicht einmal so leicht ist. Wie der<lb/> Reiter über den Bodensee zusammensinkt bei dem Gedanken der Todesgefahr,<lb/> der er entronnen ist, so werden manche modernen Wahrheitsmalcr ohnmächtig,<lb/> wenn man ihnen zumutet, einen tiefern Gedanken auszusprechen, oder ihnen sagt,<lb/> daß sie ein tiefes Problem beinahe berührt haben. Die Ausmalung kleiner und<lb/> kleinlichster Züge, Stimmungen, Redewendungen gilt als Triumph der Dichtung.<lb/> Pathetisch ist vor uns proklamiert worden: Wahrheit, nichts als Wahrheit<lb/> wollen wir haben. Nun ists aber eine alte Geschichte, daß dieselbe Darstellung<lb/> dem einen wahr, dem andern unwahr erscheint. Da nun nicht alles Wahre<lb/> schön ist, so fragt sich, ob seine Darstellung bloß deswegen zu wünschen ist,<lb/> weil es angeblich wahr, obgleich nicht schön, sondern gleichgiltig oder ekelhaft<lb/> ist. Endlich aber: Ist alles Schöne unwahr? Wenn nicht, so kann auch die<lb/> Darstellung des Schönen nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein. Ist es denn<lb/> aber eine so üble Sache, den Menschen gelegentlich an seine Würde zu er¬<lb/> innern, an die Übereinstimmung mit sich selbst, an das Vaterland, an die männ¬<lb/> lichen Instinkte der Kraft und die Ehre des Krieges? Wenn andre das tun,<lb/> sollte es dem Dichter verboten sein?</p><lb/> <p xml:id="ID_1106" next="#ID_1107"> Man scheint zu schaudern vor der bekannten Meinung Gneisenaus von<lb/> der Verwandtschaft der Poesie mit mancherlei Herzenserhebung. Oder, da man<lb/> Goethe ja ungefähr alles glaubt, außer was er zugunsten Schillers sagt, hält<lb/> man seine Worte für veraltet: Die wahre Poesie kündet sich dadurch mi, daß<lb/> sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Be¬<lb/> hagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß. . .? Sollte uns nur<lb/> wohl sein, wenn wir realistische und naturalistische Vorgänge zu sehen bekommen,<lb/> obgleich schwer zu sagen ist, wodurch sie sich unterscheiden, und wie naturalistisch<lb/> zu definieren ist? Wäre das ein Triumph der Kunst, wenn etwa von zwei<lb/> Liebenden er in einer östlichen, sie in einer westlichen Mundart kost, wenn im</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0244]
Schiller
der Inhalt nichts, die Form alles tun soll (1795), so wird ein Objekt zum
ästhetischen Gebrauch gerade um so viel weniger taugen, als es sich zu einem
moralischen qualifiziert (1793). Auch ist nicht das Leiden an sich pathetisch,
sondern der Widerstand gegen das Leiden. Gleicht ein Drama einem „Besuch
in Spitälern," so empfinden wir vielleicht eine Ausleerung des Tränensacks
und eine wollüstige Erleichterung der Gefäße, aber der Geist geht leer aus
(1793). Ja. der Mensch ist ein ärmlicher Wicht, ich weiß — doch das wollt
ich eben vergessen und kam, ach, wie gereut minds, zu dir!
Ganz gewiß ist nicht eine Poesie für alle Zeiten, ein Drama für alle
künftigen Geschlechter. Aber das wahrhaft Menschliche kann immer wieder an¬
sprechen. Als Goethe den Mahomet von Voltaire auf die Bühne brachte, kenn¬
zeichnete Schiller als Neigung der damaligen Zeit, nicht mehr der Worte
rednerisch Gepränge, nur der Natur getreues Bild gefällt, und in der Wahrheit
findet man das Schöne. Gerade das ists, was viele jetzt gegen Schiller geltend
machen. Man verzeiht ihm nicht die Platensche silberne Schwinge des Wohl¬
klangs, findet gleichsam zu viel Posaune in seinem Orchester, eine Eigenheit
seiner schwungvollen Sprache, die man Rhetorik nennt. Das sei nicht der Natur
getreues Bild. Auch liebt man die Wahrheit stark in der Form jenes „Affen¬
talents gemeiner Nachahmung," obgleich die nicht einmal so leicht ist. Wie der
Reiter über den Bodensee zusammensinkt bei dem Gedanken der Todesgefahr,
der er entronnen ist, so werden manche modernen Wahrheitsmalcr ohnmächtig,
wenn man ihnen zumutet, einen tiefern Gedanken auszusprechen, oder ihnen sagt,
daß sie ein tiefes Problem beinahe berührt haben. Die Ausmalung kleiner und
kleinlichster Züge, Stimmungen, Redewendungen gilt als Triumph der Dichtung.
Pathetisch ist vor uns proklamiert worden: Wahrheit, nichts als Wahrheit
wollen wir haben. Nun ists aber eine alte Geschichte, daß dieselbe Darstellung
dem einen wahr, dem andern unwahr erscheint. Da nun nicht alles Wahre
schön ist, so fragt sich, ob seine Darstellung bloß deswegen zu wünschen ist,
weil es angeblich wahr, obgleich nicht schön, sondern gleichgiltig oder ekelhaft
ist. Endlich aber: Ist alles Schöne unwahr? Wenn nicht, so kann auch die
Darstellung des Schönen nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein. Ist es denn
aber eine so üble Sache, den Menschen gelegentlich an seine Würde zu er¬
innern, an die Übereinstimmung mit sich selbst, an das Vaterland, an die männ¬
lichen Instinkte der Kraft und die Ehre des Krieges? Wenn andre das tun,
sollte es dem Dichter verboten sein?
Man scheint zu schaudern vor der bekannten Meinung Gneisenaus von
der Verwandtschaft der Poesie mit mancherlei Herzenserhebung. Oder, da man
Goethe ja ungefähr alles glaubt, außer was er zugunsten Schillers sagt, hält
man seine Worte für veraltet: Die wahre Poesie kündet sich dadurch mi, daß
sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere Heiterkeit, durch äußeres Be¬
hagen, uns von den irdischen Lasten zu befreien weiß. . .? Sollte uns nur
wohl sein, wenn wir realistische und naturalistische Vorgänge zu sehen bekommen,
obgleich schwer zu sagen ist, wodurch sie sich unterscheiden, und wie naturalistisch
zu definieren ist? Wäre das ein Triumph der Kunst, wenn etwa von zwei
Liebenden er in einer östlichen, sie in einer westlichen Mundart kost, wenn im
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