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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Herrenmenschen

sagte sie unablässig zu sich, du stehst jedermann im Wege, du machst alles falsch, du
bist ein Hindernis für die Zukunft deines Sohnes, dir wärs am besten, wenn du
nicht mehr lebtest. Sie scheute sich vor dem Doktor, vor Tauenden, vor Wolf, den
Madchen, vor jedermann, als wenn sie beschimpft und befleckt wäre. Das waren
offenbar krankhafte Ideen, aber krankhafte Vorstellungen werden auch zu Kräften,
vielleicht zu zwingendem als die gesunde Vernunft.

Als nun die unflätigen Briefe einliefen, verdichteten sich diese Vorstellungen
zu Fluchtgedanken. Bremsen kann man verscheuchen, wie aber soll man sich wehren
gegen vergiftete Pfeile, die aus dem Verborgnen heraus geschossen werden? Da
gibt es nur eine Rettung, sagte sie zu sich, die Flucht. Dasselbe Dach durfte sie
und Heinz nicht mehr decken -- um ihres Wolfs willen. Und damit überkam sie
ein großes Mitleid mit sich selbst. Sie floh in die wilde Fremde, sie verzichtete
auf alles, sie brachte ein Opfer, wie es noch keine Mutter gebracht hatte. Warum
forderte es Gott von ihr? Aber sie war bereit, es zu bringen, sie war bereit,
jedes Opfer zu bringen, auch ihr Leben hinzugeben, wenn es zum Heil ihres
Kindes beitrug.

Sie hatte Tag und Nacht keine Ruhe. Jeder Tritt, jeder Ton der Haus¬
glocke, jeder Brief, der ankam, erschreckte sie. Und in der Dämmerung glaubte sie
die Schatten von Menschen, die sie verfolgten, vorüberhuschen oder in jedem Winkel
und hinter jedem Baume lauern zu sehen. Das waren krankhafte Einbildungen,
sie wußte es selbst, und doch konnte sie nicht von ihnen lassen, und doch hütete sie
sich wohl, irgend jemand ein Wort von dem z" sagen, was in ihr vorging.

In der Nacht, die auf deu letzten Brief folgte, kam sie zu einem festen Ent¬
schluß. Es mußte sein, sie mußte fliehen, gleichviel wohin. Nachdem sie ihre Wohnung
stundenlang durchwandert und oft vor der Tür des Schlafzimmers ihres Wolfs ge¬
standen hatte, schloß sie das Geheimfach ihres Schreibtisches auf und nahm ein
Lederbeutelchen heraus, auf dem mit roter Seide gestickt das Wort "Notgroschen"
stand. Das Beutelchen enthielt eine Hand voll Goldstücke. Marys Mutter hatte
sich das kleine Kapital erspart und hatte es ihrer Tochter auf ihrem Totenbett
übergeben, wobei sie ihr das heilige Versprechen abgenommen hatte, daß sie das
Geld nur im äußersten Notfall angreifen wolle. Mary hatte ihr Versprechen ge¬
halten und die Summe bei allen ihren Bedrängnissen zu retten gewußt. Jetzt war,
wie sie glaubte, die Stunde der höchsten Bedrängnis gekommen. Sie steckte den
Beutel in die Tasche, küßte ihren schlafenden Wolf in großen Schmerzen und ver¬
ließ das Haus, scheu wie ein Dieb, und nahm nichts weiter mit als ihren Hut
und ihre Handschuhe.

Die Sonne ging auf, als Mary ihr Haus und den goldnen Adler ans dem
Turme zum letztenmal sah. Vermochte es denn das helle Licht der Morgensonne
nicht, dem armen geängsteten Weibe klar zu machen, daß sie sich unnötig quäle,
und daß ihre Flucht niemand, weder ihr selbst noch einem der Ihren nütze? Was
helfen Sonnenstrahlen, wenn die Läden der Seelenfenster geschlossen sind? Und
was helfen Gründe und Erwägungen, wenn da drin im Dunkeln ein Leiermann
sitzt, der unermüdlich dieselbe Melodie spielt, die vom Scheiden und Meiden handelt?
Und was war das? Stand dort nicht einer hinter dem Baume? Schlich da nicht
einer durch die Büsche? Fort! fort! ehe es zu spät ist!

Dort am Horizont nach Südwesten zu war eine lichte Stelle zwischen den
Wolken. Sie sah aus wie ein Tor. Dort mußte sie hinaus. Und dann immer
weiter. Wohin? Das war gleichgiltig, nur weiter, weiter.

Da glänzte seitlich vom Wege der Spiegel des Bruchteichs. Er winkte wie ein
Freund. Er schien sagen zu wollen: Mary, gibt es denn nur Tore am Himmel,
wenn man aus der Welt will? Der Weg bis ans Ende der Welt ist weit, der
Weg aus der Welt ist ganz nahe. Die Welt hat auch Fenster nach unten. Jeder
stille Wasserspiegel ist ein solches Fenster. Man öffnet es und fliegt davon wie
ein Vogel ans dem Käfig.


Herrenmenschen

sagte sie unablässig zu sich, du stehst jedermann im Wege, du machst alles falsch, du
bist ein Hindernis für die Zukunft deines Sohnes, dir wärs am besten, wenn du
nicht mehr lebtest. Sie scheute sich vor dem Doktor, vor Tauenden, vor Wolf, den
Madchen, vor jedermann, als wenn sie beschimpft und befleckt wäre. Das waren
offenbar krankhafte Ideen, aber krankhafte Vorstellungen werden auch zu Kräften,
vielleicht zu zwingendem als die gesunde Vernunft.

Als nun die unflätigen Briefe einliefen, verdichteten sich diese Vorstellungen
zu Fluchtgedanken. Bremsen kann man verscheuchen, wie aber soll man sich wehren
gegen vergiftete Pfeile, die aus dem Verborgnen heraus geschossen werden? Da
gibt es nur eine Rettung, sagte sie zu sich, die Flucht. Dasselbe Dach durfte sie
und Heinz nicht mehr decken — um ihres Wolfs willen. Und damit überkam sie
ein großes Mitleid mit sich selbst. Sie floh in die wilde Fremde, sie verzichtete
auf alles, sie brachte ein Opfer, wie es noch keine Mutter gebracht hatte. Warum
forderte es Gott von ihr? Aber sie war bereit, es zu bringen, sie war bereit,
jedes Opfer zu bringen, auch ihr Leben hinzugeben, wenn es zum Heil ihres
Kindes beitrug.

Sie hatte Tag und Nacht keine Ruhe. Jeder Tritt, jeder Ton der Haus¬
glocke, jeder Brief, der ankam, erschreckte sie. Und in der Dämmerung glaubte sie
die Schatten von Menschen, die sie verfolgten, vorüberhuschen oder in jedem Winkel
und hinter jedem Baume lauern zu sehen. Das waren krankhafte Einbildungen,
sie wußte es selbst, und doch konnte sie nicht von ihnen lassen, und doch hütete sie
sich wohl, irgend jemand ein Wort von dem z» sagen, was in ihr vorging.

In der Nacht, die auf deu letzten Brief folgte, kam sie zu einem festen Ent¬
schluß. Es mußte sein, sie mußte fliehen, gleichviel wohin. Nachdem sie ihre Wohnung
stundenlang durchwandert und oft vor der Tür des Schlafzimmers ihres Wolfs ge¬
standen hatte, schloß sie das Geheimfach ihres Schreibtisches auf und nahm ein
Lederbeutelchen heraus, auf dem mit roter Seide gestickt das Wort „Notgroschen"
stand. Das Beutelchen enthielt eine Hand voll Goldstücke. Marys Mutter hatte
sich das kleine Kapital erspart und hatte es ihrer Tochter auf ihrem Totenbett
übergeben, wobei sie ihr das heilige Versprechen abgenommen hatte, daß sie das
Geld nur im äußersten Notfall angreifen wolle. Mary hatte ihr Versprechen ge¬
halten und die Summe bei allen ihren Bedrängnissen zu retten gewußt. Jetzt war,
wie sie glaubte, die Stunde der höchsten Bedrängnis gekommen. Sie steckte den
Beutel in die Tasche, küßte ihren schlafenden Wolf in großen Schmerzen und ver¬
ließ das Haus, scheu wie ein Dieb, und nahm nichts weiter mit als ihren Hut
und ihre Handschuhe.

Die Sonne ging auf, als Mary ihr Haus und den goldnen Adler ans dem
Turme zum letztenmal sah. Vermochte es denn das helle Licht der Morgensonne
nicht, dem armen geängsteten Weibe klar zu machen, daß sie sich unnötig quäle,
und daß ihre Flucht niemand, weder ihr selbst noch einem der Ihren nütze? Was
helfen Sonnenstrahlen, wenn die Läden der Seelenfenster geschlossen sind? Und
was helfen Gründe und Erwägungen, wenn da drin im Dunkeln ein Leiermann
sitzt, der unermüdlich dieselbe Melodie spielt, die vom Scheiden und Meiden handelt?
Und was war das? Stand dort nicht einer hinter dem Baume? Schlich da nicht
einer durch die Büsche? Fort! fort! ehe es zu spät ist!

Dort am Horizont nach Südwesten zu war eine lichte Stelle zwischen den
Wolken. Sie sah aus wie ein Tor. Dort mußte sie hinaus. Und dann immer
weiter. Wohin? Das war gleichgiltig, nur weiter, weiter.

Da glänzte seitlich vom Wege der Spiegel des Bruchteichs. Er winkte wie ein
Freund. Er schien sagen zu wollen: Mary, gibt es denn nur Tore am Himmel,
wenn man aus der Welt will? Der Weg bis ans Ende der Welt ist weit, der
Weg aus der Welt ist ganz nahe. Die Welt hat auch Fenster nach unten. Jeder
stille Wasserspiegel ist ein solches Fenster. Man öffnet es und fliegt davon wie
ein Vogel ans dem Käfig.


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[0224] Herrenmenschen sagte sie unablässig zu sich, du stehst jedermann im Wege, du machst alles falsch, du bist ein Hindernis für die Zukunft deines Sohnes, dir wärs am besten, wenn du nicht mehr lebtest. Sie scheute sich vor dem Doktor, vor Tauenden, vor Wolf, den Madchen, vor jedermann, als wenn sie beschimpft und befleckt wäre. Das waren offenbar krankhafte Ideen, aber krankhafte Vorstellungen werden auch zu Kräften, vielleicht zu zwingendem als die gesunde Vernunft. Als nun die unflätigen Briefe einliefen, verdichteten sich diese Vorstellungen zu Fluchtgedanken. Bremsen kann man verscheuchen, wie aber soll man sich wehren gegen vergiftete Pfeile, die aus dem Verborgnen heraus geschossen werden? Da gibt es nur eine Rettung, sagte sie zu sich, die Flucht. Dasselbe Dach durfte sie und Heinz nicht mehr decken — um ihres Wolfs willen. Und damit überkam sie ein großes Mitleid mit sich selbst. Sie floh in die wilde Fremde, sie verzichtete auf alles, sie brachte ein Opfer, wie es noch keine Mutter gebracht hatte. Warum forderte es Gott von ihr? Aber sie war bereit, es zu bringen, sie war bereit, jedes Opfer zu bringen, auch ihr Leben hinzugeben, wenn es zum Heil ihres Kindes beitrug. Sie hatte Tag und Nacht keine Ruhe. Jeder Tritt, jeder Ton der Haus¬ glocke, jeder Brief, der ankam, erschreckte sie. Und in der Dämmerung glaubte sie die Schatten von Menschen, die sie verfolgten, vorüberhuschen oder in jedem Winkel und hinter jedem Baume lauern zu sehen. Das waren krankhafte Einbildungen, sie wußte es selbst, und doch konnte sie nicht von ihnen lassen, und doch hütete sie sich wohl, irgend jemand ein Wort von dem z» sagen, was in ihr vorging. In der Nacht, die auf deu letzten Brief folgte, kam sie zu einem festen Ent¬ schluß. Es mußte sein, sie mußte fliehen, gleichviel wohin. Nachdem sie ihre Wohnung stundenlang durchwandert und oft vor der Tür des Schlafzimmers ihres Wolfs ge¬ standen hatte, schloß sie das Geheimfach ihres Schreibtisches auf und nahm ein Lederbeutelchen heraus, auf dem mit roter Seide gestickt das Wort „Notgroschen" stand. Das Beutelchen enthielt eine Hand voll Goldstücke. Marys Mutter hatte sich das kleine Kapital erspart und hatte es ihrer Tochter auf ihrem Totenbett übergeben, wobei sie ihr das heilige Versprechen abgenommen hatte, daß sie das Geld nur im äußersten Notfall angreifen wolle. Mary hatte ihr Versprechen ge¬ halten und die Summe bei allen ihren Bedrängnissen zu retten gewußt. Jetzt war, wie sie glaubte, die Stunde der höchsten Bedrängnis gekommen. Sie steckte den Beutel in die Tasche, küßte ihren schlafenden Wolf in großen Schmerzen und ver¬ ließ das Haus, scheu wie ein Dieb, und nahm nichts weiter mit als ihren Hut und ihre Handschuhe. Die Sonne ging auf, als Mary ihr Haus und den goldnen Adler ans dem Turme zum letztenmal sah. Vermochte es denn das helle Licht der Morgensonne nicht, dem armen geängsteten Weibe klar zu machen, daß sie sich unnötig quäle, und daß ihre Flucht niemand, weder ihr selbst noch einem der Ihren nütze? Was helfen Sonnenstrahlen, wenn die Läden der Seelenfenster geschlossen sind? Und was helfen Gründe und Erwägungen, wenn da drin im Dunkeln ein Leiermann sitzt, der unermüdlich dieselbe Melodie spielt, die vom Scheiden und Meiden handelt? Und was war das? Stand dort nicht einer hinter dem Baume? Schlich da nicht einer durch die Büsche? Fort! fort! ehe es zu spät ist! Dort am Horizont nach Südwesten zu war eine lichte Stelle zwischen den Wolken. Sie sah aus wie ein Tor. Dort mußte sie hinaus. Und dann immer weiter. Wohin? Das war gleichgiltig, nur weiter, weiter. Da glänzte seitlich vom Wege der Spiegel des Bruchteichs. Er winkte wie ein Freund. Er schien sagen zu wollen: Mary, gibt es denn nur Tore am Himmel, wenn man aus der Welt will? Der Weg bis ans Ende der Welt ist weit, der Weg aus der Welt ist ganz nahe. Die Welt hat auch Fenster nach unten. Jeder stille Wasserspiegel ist ein solches Fenster. Man öffnet es und fliegt davon wie ein Vogel ans dem Käfig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/224>, abgerufen am 05.02.2025.