Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.Herrenmenschen Mary hatte schon oft an dem Ufer des Teiches gestanden, der mit seinem UnsinnI Unsinn! rief eine Stimme aus dem Unterstock ihrer Seele, aber im Mary war, von magischer Gewalt gezogen, bis dicht an den Rand des Wassers Welche merkwürdige Inkonsequenz! Sie war bereit, sich ihr Leben zu nehmen, Wie sie durch die Pempler Heide gekommen war, und lvie sie die Haltestelle Sie schlief einen langen, tiefen Schlaf -- zum erstenmal wieder seit langer Er fährt ab! rief die Dame in französischer Sprache, mein Gott, er fährt ab, Mary suchte die Dame zu beruhigen und sich erst einmal einen Platz zu Herrenmenschen Mary hatte schon oft an dem Ufer des Teiches gestanden, der mit seinem UnsinnI Unsinn! rief eine Stimme aus dem Unterstock ihrer Seele, aber im Mary war, von magischer Gewalt gezogen, bis dicht an den Rand des Wassers Welche merkwürdige Inkonsequenz! Sie war bereit, sich ihr Leben zu nehmen, Wie sie durch die Pempler Heide gekommen war, und lvie sie die Haltestelle Sie schlief einen langen, tiefen Schlaf — zum erstenmal wieder seit langer Er fährt ab! rief die Dame in französischer Sprache, mein Gott, er fährt ab, Mary suchte die Dame zu beruhigen und sich erst einmal einen Platz zu <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0225" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297357"/> <fw type="header" place="top"> Herrenmenschen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1037"> Mary hatte schon oft an dem Ufer des Teiches gestanden, der mit seinem<lb/> schwarzen Wasser unergründlich tief aussah, aber noch nie mit solchen Gedanken<lb/> Wie heute. Heute war ihr zumute, wie wenn der Schleier von ihrer Vergangenheit<lb/> zurückgezogen wäre. Was war ihr Leben gewesen? Eine große Enttäuschung, ein<lb/> großer Irrtum, eine große vergebliche Arbeit, und nun ein verdorbner und über¬<lb/> flüssiger Rest, der jedermann im Wege lag. Man konnte ihn auch beiseite legen<lb/> in eine tiefe dunkle Truhe, die niemand öffnen kann. Dann konnte Heinz für ihren<lb/> Wolf eintreten und ihm das Gut retten und seine Zukunft sichern.</p><lb/> <p xml:id="ID_1038"> UnsinnI Unsinn! rief eine Stimme aus dem Unterstock ihrer Seele, aber im<lb/> Oberstock saß der Leiermann und spielte seine verrückte Melodie.</p><lb/> <p xml:id="ID_1039"> Mary war, von magischer Gewalt gezogen, bis dicht an den Rand des Wassers<lb/> getreten. Es war tief da, sie wußte es. Ein Schritt vorwärts, ein kurzer Kampf,<lb/> und es war alles vorüber. Mary bedeckte ihre Angen mit der Hand und atmete<lb/> schwer. Da hörte sie hinter sich leise kränkende Schritte. Sie sah sich erschrocken<lb/> um und erblickte den alten Jakob, unsern alten wohlbekannten Elch, der aus einem<lb/> Gebüsch hervortrat und ohne sich um das Menschenkind am Wasser zu kümmern<lb/> damit beschäftigt war, sich einen Morgensalat von den Bäumen zu streifen. Mary<lb/> schrie auf, ließ aus der Hand fallen, was sie darin trug, und floh.</p><lb/> <p xml:id="ID_1040"> Welche merkwürdige Inkonsequenz! Sie war bereit, sich ihr Leben zu nehmen,<lb/> und fürchtete für ihr Leben, als ihr ein Elch zu nahe kam, der ihr nicht einmal<lb/> etwas tun wollte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1041"> Wie sie durch die Pempler Heide gekommen war, und lvie sie die Haltestelle<lb/> der Eisenbahn erreicht hatte, hat Mary hinterher selbst nicht mehr zu sagen gewußt.<lb/> Sie hatte nur noch in dunkler Erinnerung, daß sie vorwärts geeilt, niedergesunken,<lb/> wieder aufgesprungen, weiter geeilt sei, und daß sie gegen ihren brennenden Durst<lb/> schlechtes Wasser aus stehenden Lachen getrunken habe. Zum Tode erschöpft war<lb/> sie auf der Station angelangt und hatte es nicht beachtet, daß sie bei den Leuten<lb/> Aufsehen erregt und Anlaß zu allerlei Geflüster gegeben hatte. Sie war in ein<lb/> benachbartes Bauernhaus gegangen und hatte sich dort ein Stück Brot und ein<lb/> wenig Milch geben lassen, und dann war sie mit dem nächsten Zuge nach N. ge¬<lb/> fahren, das sie noch denselben Abend erreichte. Hier konnte sie in der Menschen¬<lb/> menge untertauchen und sicher, nicht erkannt zu werden, einen Gasthof aussuchen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1042"> Sie schlief einen langen, tiefen Schlaf — zum erstenmal wieder seit langer<lb/> Zeit. Als sie am andern Morgen erwachte, stand ihr Entschluß, zu fliehn, fester<lb/> als je. Aber wohin? Zu Onkel Stackelberg? Vielleicht. Und dann? Das würde<lb/> sich finden. Es war nicht Marys Art, fernliegende Dinge scharf ins Ange zu<lb/> fassen. Schnell kaufte sie sich eine Handtasche und was sie sonst zur Reise brauchte<lb/> und begab sich zum Bahnhof. Als der V-Zug nach Berlin einlief, und sie ein¬<lb/> steigen wollte, stand auf dem Trittbrett eine ältere Dame, die offenbar in großer<lb/> Unruhe war, jedermann fragte, aber nicht begriff, was man ihr antwortete, denn<lb/> ihr Deutsch war schlecht, und ihr Französisch verstand niemand. — Einsteigen! riefen<lb/> die Schaffner. Aber statt dessen stieg die Dame aus und tat ganz verzweifelt.<lb/> Ha! dachte Mary, auch sie flieht. Unglückliche müssen einander beistehn, und so<lb/> brachte sie die Dame, indem sie sie französisch anredete, im letzten Augenblick auf<lb/> das Trittbrett und in den Wagen zurück, und der Zug setzte sich in Bewegung.</p><lb/> <p xml:id="ID_1043"> Er fährt ab! rief die Dame in französischer Sprache, mein Gott, er fährt ab,<lb/> und ich habe kein Billett, ich weiß nicht, wo mein Gepäck ist, und meine Begleiterin<lb/> ist an der russische!: Grenze geblieben. Mein Gott, mein Gott, was fange ich an?<lb/> Ich verstehe ja niemand, und Französisch sprechen die Leute nicht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1044" next="#ID_1045"> Mary suchte die Dame zu beruhigen und sich erst einmal einen Platz zu<lb/> suchen. In der Tat, die Dame hatte nichts weiter bei sich als ihre Kleidung,<lb/> sogar ihre Geldtasche hatte sie bei ihrem Handgepäck gelassen, ihre Koffer waren<lb/> vermutlich noch in Eydtkuhnen, und ihre Reisebegleiterin noch jenseits der russischen<lb/> Grenze. Mary wandte sich an den Zugführer und setzte ihm die Lage der Sache</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0225]
Herrenmenschen
Mary hatte schon oft an dem Ufer des Teiches gestanden, der mit seinem
schwarzen Wasser unergründlich tief aussah, aber noch nie mit solchen Gedanken
Wie heute. Heute war ihr zumute, wie wenn der Schleier von ihrer Vergangenheit
zurückgezogen wäre. Was war ihr Leben gewesen? Eine große Enttäuschung, ein
großer Irrtum, eine große vergebliche Arbeit, und nun ein verdorbner und über¬
flüssiger Rest, der jedermann im Wege lag. Man konnte ihn auch beiseite legen
in eine tiefe dunkle Truhe, die niemand öffnen kann. Dann konnte Heinz für ihren
Wolf eintreten und ihm das Gut retten und seine Zukunft sichern.
UnsinnI Unsinn! rief eine Stimme aus dem Unterstock ihrer Seele, aber im
Oberstock saß der Leiermann und spielte seine verrückte Melodie.
Mary war, von magischer Gewalt gezogen, bis dicht an den Rand des Wassers
getreten. Es war tief da, sie wußte es. Ein Schritt vorwärts, ein kurzer Kampf,
und es war alles vorüber. Mary bedeckte ihre Angen mit der Hand und atmete
schwer. Da hörte sie hinter sich leise kränkende Schritte. Sie sah sich erschrocken
um und erblickte den alten Jakob, unsern alten wohlbekannten Elch, der aus einem
Gebüsch hervortrat und ohne sich um das Menschenkind am Wasser zu kümmern
damit beschäftigt war, sich einen Morgensalat von den Bäumen zu streifen. Mary
schrie auf, ließ aus der Hand fallen, was sie darin trug, und floh.
Welche merkwürdige Inkonsequenz! Sie war bereit, sich ihr Leben zu nehmen,
und fürchtete für ihr Leben, als ihr ein Elch zu nahe kam, der ihr nicht einmal
etwas tun wollte.
Wie sie durch die Pempler Heide gekommen war, und lvie sie die Haltestelle
der Eisenbahn erreicht hatte, hat Mary hinterher selbst nicht mehr zu sagen gewußt.
Sie hatte nur noch in dunkler Erinnerung, daß sie vorwärts geeilt, niedergesunken,
wieder aufgesprungen, weiter geeilt sei, und daß sie gegen ihren brennenden Durst
schlechtes Wasser aus stehenden Lachen getrunken habe. Zum Tode erschöpft war
sie auf der Station angelangt und hatte es nicht beachtet, daß sie bei den Leuten
Aufsehen erregt und Anlaß zu allerlei Geflüster gegeben hatte. Sie war in ein
benachbartes Bauernhaus gegangen und hatte sich dort ein Stück Brot und ein
wenig Milch geben lassen, und dann war sie mit dem nächsten Zuge nach N. ge¬
fahren, das sie noch denselben Abend erreichte. Hier konnte sie in der Menschen¬
menge untertauchen und sicher, nicht erkannt zu werden, einen Gasthof aussuchen.
Sie schlief einen langen, tiefen Schlaf — zum erstenmal wieder seit langer
Zeit. Als sie am andern Morgen erwachte, stand ihr Entschluß, zu fliehn, fester
als je. Aber wohin? Zu Onkel Stackelberg? Vielleicht. Und dann? Das würde
sich finden. Es war nicht Marys Art, fernliegende Dinge scharf ins Ange zu
fassen. Schnell kaufte sie sich eine Handtasche und was sie sonst zur Reise brauchte
und begab sich zum Bahnhof. Als der V-Zug nach Berlin einlief, und sie ein¬
steigen wollte, stand auf dem Trittbrett eine ältere Dame, die offenbar in großer
Unruhe war, jedermann fragte, aber nicht begriff, was man ihr antwortete, denn
ihr Deutsch war schlecht, und ihr Französisch verstand niemand. — Einsteigen! riefen
die Schaffner. Aber statt dessen stieg die Dame aus und tat ganz verzweifelt.
Ha! dachte Mary, auch sie flieht. Unglückliche müssen einander beistehn, und so
brachte sie die Dame, indem sie sie französisch anredete, im letzten Augenblick auf
das Trittbrett und in den Wagen zurück, und der Zug setzte sich in Bewegung.
Er fährt ab! rief die Dame in französischer Sprache, mein Gott, er fährt ab,
und ich habe kein Billett, ich weiß nicht, wo mein Gepäck ist, und meine Begleiterin
ist an der russische!: Grenze geblieben. Mein Gott, mein Gott, was fange ich an?
Ich verstehe ja niemand, und Französisch sprechen die Leute nicht.
Mary suchte die Dame zu beruhigen und sich erst einmal einen Platz zu
suchen. In der Tat, die Dame hatte nichts weiter bei sich als ihre Kleidung,
sogar ihre Geldtasche hatte sie bei ihrem Handgepäck gelassen, ihre Koffer waren
vermutlich noch in Eydtkuhnen, und ihre Reisebegleiterin noch jenseits der russischen
Grenze. Mary wandte sich an den Zugführer und setzte ihm die Lage der Sache
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |