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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Herrenmenschen

Mary hatte schon oft an dem Ufer des Teiches gestanden, der mit seinem
schwarzen Wasser unergründlich tief aussah, aber noch nie mit solchen Gedanken
Wie heute. Heute war ihr zumute, wie wenn der Schleier von ihrer Vergangenheit
zurückgezogen wäre. Was war ihr Leben gewesen? Eine große Enttäuschung, ein
großer Irrtum, eine große vergebliche Arbeit, und nun ein verdorbner und über¬
flüssiger Rest, der jedermann im Wege lag. Man konnte ihn auch beiseite legen
in eine tiefe dunkle Truhe, die niemand öffnen kann. Dann konnte Heinz für ihren
Wolf eintreten und ihm das Gut retten und seine Zukunft sichern.

UnsinnI Unsinn! rief eine Stimme aus dem Unterstock ihrer Seele, aber im
Oberstock saß der Leiermann und spielte seine verrückte Melodie.

Mary war, von magischer Gewalt gezogen, bis dicht an den Rand des Wassers
getreten. Es war tief da, sie wußte es. Ein Schritt vorwärts, ein kurzer Kampf,
und es war alles vorüber. Mary bedeckte ihre Angen mit der Hand und atmete
schwer. Da hörte sie hinter sich leise kränkende Schritte. Sie sah sich erschrocken
um und erblickte den alten Jakob, unsern alten wohlbekannten Elch, der aus einem
Gebüsch hervortrat und ohne sich um das Menschenkind am Wasser zu kümmern
damit beschäftigt war, sich einen Morgensalat von den Bäumen zu streifen. Mary
schrie auf, ließ aus der Hand fallen, was sie darin trug, und floh.

Welche merkwürdige Inkonsequenz! Sie war bereit, sich ihr Leben zu nehmen,
und fürchtete für ihr Leben, als ihr ein Elch zu nahe kam, der ihr nicht einmal
etwas tun wollte.

Wie sie durch die Pempler Heide gekommen war, und lvie sie die Haltestelle
der Eisenbahn erreicht hatte, hat Mary hinterher selbst nicht mehr zu sagen gewußt.
Sie hatte nur noch in dunkler Erinnerung, daß sie vorwärts geeilt, niedergesunken,
wieder aufgesprungen, weiter geeilt sei, und daß sie gegen ihren brennenden Durst
schlechtes Wasser aus stehenden Lachen getrunken habe. Zum Tode erschöpft war
sie auf der Station angelangt und hatte es nicht beachtet, daß sie bei den Leuten
Aufsehen erregt und Anlaß zu allerlei Geflüster gegeben hatte. Sie war in ein
benachbartes Bauernhaus gegangen und hatte sich dort ein Stück Brot und ein
wenig Milch geben lassen, und dann war sie mit dem nächsten Zuge nach N. ge¬
fahren, das sie noch denselben Abend erreichte. Hier konnte sie in der Menschen¬
menge untertauchen und sicher, nicht erkannt zu werden, einen Gasthof aussuchen.

Sie schlief einen langen, tiefen Schlaf -- zum erstenmal wieder seit langer
Zeit. Als sie am andern Morgen erwachte, stand ihr Entschluß, zu fliehn, fester
als je. Aber wohin? Zu Onkel Stackelberg? Vielleicht. Und dann? Das würde
sich finden. Es war nicht Marys Art, fernliegende Dinge scharf ins Ange zu
fassen. Schnell kaufte sie sich eine Handtasche und was sie sonst zur Reise brauchte
und begab sich zum Bahnhof. Als der V-Zug nach Berlin einlief, und sie ein¬
steigen wollte, stand auf dem Trittbrett eine ältere Dame, die offenbar in großer
Unruhe war, jedermann fragte, aber nicht begriff, was man ihr antwortete, denn
ihr Deutsch war schlecht, und ihr Französisch verstand niemand. -- Einsteigen! riefen
die Schaffner. Aber statt dessen stieg die Dame aus und tat ganz verzweifelt.
Ha! dachte Mary, auch sie flieht. Unglückliche müssen einander beistehn, und so
brachte sie die Dame, indem sie sie französisch anredete, im letzten Augenblick auf
das Trittbrett und in den Wagen zurück, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Er fährt ab! rief die Dame in französischer Sprache, mein Gott, er fährt ab,
und ich habe kein Billett, ich weiß nicht, wo mein Gepäck ist, und meine Begleiterin
ist an der russische!: Grenze geblieben. Mein Gott, mein Gott, was fange ich an?
Ich verstehe ja niemand, und Französisch sprechen die Leute nicht.

Mary suchte die Dame zu beruhigen und sich erst einmal einen Platz zu
suchen. In der Tat, die Dame hatte nichts weiter bei sich als ihre Kleidung,
sogar ihre Geldtasche hatte sie bei ihrem Handgepäck gelassen, ihre Koffer waren
vermutlich noch in Eydtkuhnen, und ihre Reisebegleiterin noch jenseits der russischen
Grenze. Mary wandte sich an den Zugführer und setzte ihm die Lage der Sache


Herrenmenschen

Mary hatte schon oft an dem Ufer des Teiches gestanden, der mit seinem
schwarzen Wasser unergründlich tief aussah, aber noch nie mit solchen Gedanken
Wie heute. Heute war ihr zumute, wie wenn der Schleier von ihrer Vergangenheit
zurückgezogen wäre. Was war ihr Leben gewesen? Eine große Enttäuschung, ein
großer Irrtum, eine große vergebliche Arbeit, und nun ein verdorbner und über¬
flüssiger Rest, der jedermann im Wege lag. Man konnte ihn auch beiseite legen
in eine tiefe dunkle Truhe, die niemand öffnen kann. Dann konnte Heinz für ihren
Wolf eintreten und ihm das Gut retten und seine Zukunft sichern.

UnsinnI Unsinn! rief eine Stimme aus dem Unterstock ihrer Seele, aber im
Oberstock saß der Leiermann und spielte seine verrückte Melodie.

Mary war, von magischer Gewalt gezogen, bis dicht an den Rand des Wassers
getreten. Es war tief da, sie wußte es. Ein Schritt vorwärts, ein kurzer Kampf,
und es war alles vorüber. Mary bedeckte ihre Angen mit der Hand und atmete
schwer. Da hörte sie hinter sich leise kränkende Schritte. Sie sah sich erschrocken
um und erblickte den alten Jakob, unsern alten wohlbekannten Elch, der aus einem
Gebüsch hervortrat und ohne sich um das Menschenkind am Wasser zu kümmern
damit beschäftigt war, sich einen Morgensalat von den Bäumen zu streifen. Mary
schrie auf, ließ aus der Hand fallen, was sie darin trug, und floh.

Welche merkwürdige Inkonsequenz! Sie war bereit, sich ihr Leben zu nehmen,
und fürchtete für ihr Leben, als ihr ein Elch zu nahe kam, der ihr nicht einmal
etwas tun wollte.

Wie sie durch die Pempler Heide gekommen war, und lvie sie die Haltestelle
der Eisenbahn erreicht hatte, hat Mary hinterher selbst nicht mehr zu sagen gewußt.
Sie hatte nur noch in dunkler Erinnerung, daß sie vorwärts geeilt, niedergesunken,
wieder aufgesprungen, weiter geeilt sei, und daß sie gegen ihren brennenden Durst
schlechtes Wasser aus stehenden Lachen getrunken habe. Zum Tode erschöpft war
sie auf der Station angelangt und hatte es nicht beachtet, daß sie bei den Leuten
Aufsehen erregt und Anlaß zu allerlei Geflüster gegeben hatte. Sie war in ein
benachbartes Bauernhaus gegangen und hatte sich dort ein Stück Brot und ein
wenig Milch geben lassen, und dann war sie mit dem nächsten Zuge nach N. ge¬
fahren, das sie noch denselben Abend erreichte. Hier konnte sie in der Menschen¬
menge untertauchen und sicher, nicht erkannt zu werden, einen Gasthof aussuchen.

Sie schlief einen langen, tiefen Schlaf — zum erstenmal wieder seit langer
Zeit. Als sie am andern Morgen erwachte, stand ihr Entschluß, zu fliehn, fester
als je. Aber wohin? Zu Onkel Stackelberg? Vielleicht. Und dann? Das würde
sich finden. Es war nicht Marys Art, fernliegende Dinge scharf ins Ange zu
fassen. Schnell kaufte sie sich eine Handtasche und was sie sonst zur Reise brauchte
und begab sich zum Bahnhof. Als der V-Zug nach Berlin einlief, und sie ein¬
steigen wollte, stand auf dem Trittbrett eine ältere Dame, die offenbar in großer
Unruhe war, jedermann fragte, aber nicht begriff, was man ihr antwortete, denn
ihr Deutsch war schlecht, und ihr Französisch verstand niemand. — Einsteigen! riefen
die Schaffner. Aber statt dessen stieg die Dame aus und tat ganz verzweifelt.
Ha! dachte Mary, auch sie flieht. Unglückliche müssen einander beistehn, und so
brachte sie die Dame, indem sie sie französisch anredete, im letzten Augenblick auf
das Trittbrett und in den Wagen zurück, und der Zug setzte sich in Bewegung.

Er fährt ab! rief die Dame in französischer Sprache, mein Gott, er fährt ab,
und ich habe kein Billett, ich weiß nicht, wo mein Gepäck ist, und meine Begleiterin
ist an der russische!: Grenze geblieben. Mein Gott, mein Gott, was fange ich an?
Ich verstehe ja niemand, und Französisch sprechen die Leute nicht.

Mary suchte die Dame zu beruhigen und sich erst einmal einen Platz zu
suchen. In der Tat, die Dame hatte nichts weiter bei sich als ihre Kleidung,
sogar ihre Geldtasche hatte sie bei ihrem Handgepäck gelassen, ihre Koffer waren
vermutlich noch in Eydtkuhnen, und ihre Reisebegleiterin noch jenseits der russischen
Grenze. Mary wandte sich an den Zugführer und setzte ihm die Lage der Sache


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[0225] Herrenmenschen Mary hatte schon oft an dem Ufer des Teiches gestanden, der mit seinem schwarzen Wasser unergründlich tief aussah, aber noch nie mit solchen Gedanken Wie heute. Heute war ihr zumute, wie wenn der Schleier von ihrer Vergangenheit zurückgezogen wäre. Was war ihr Leben gewesen? Eine große Enttäuschung, ein großer Irrtum, eine große vergebliche Arbeit, und nun ein verdorbner und über¬ flüssiger Rest, der jedermann im Wege lag. Man konnte ihn auch beiseite legen in eine tiefe dunkle Truhe, die niemand öffnen kann. Dann konnte Heinz für ihren Wolf eintreten und ihm das Gut retten und seine Zukunft sichern. UnsinnI Unsinn! rief eine Stimme aus dem Unterstock ihrer Seele, aber im Oberstock saß der Leiermann und spielte seine verrückte Melodie. Mary war, von magischer Gewalt gezogen, bis dicht an den Rand des Wassers getreten. Es war tief da, sie wußte es. Ein Schritt vorwärts, ein kurzer Kampf, und es war alles vorüber. Mary bedeckte ihre Angen mit der Hand und atmete schwer. Da hörte sie hinter sich leise kränkende Schritte. Sie sah sich erschrocken um und erblickte den alten Jakob, unsern alten wohlbekannten Elch, der aus einem Gebüsch hervortrat und ohne sich um das Menschenkind am Wasser zu kümmern damit beschäftigt war, sich einen Morgensalat von den Bäumen zu streifen. Mary schrie auf, ließ aus der Hand fallen, was sie darin trug, und floh. Welche merkwürdige Inkonsequenz! Sie war bereit, sich ihr Leben zu nehmen, und fürchtete für ihr Leben, als ihr ein Elch zu nahe kam, der ihr nicht einmal etwas tun wollte. Wie sie durch die Pempler Heide gekommen war, und lvie sie die Haltestelle der Eisenbahn erreicht hatte, hat Mary hinterher selbst nicht mehr zu sagen gewußt. Sie hatte nur noch in dunkler Erinnerung, daß sie vorwärts geeilt, niedergesunken, wieder aufgesprungen, weiter geeilt sei, und daß sie gegen ihren brennenden Durst schlechtes Wasser aus stehenden Lachen getrunken habe. Zum Tode erschöpft war sie auf der Station angelangt und hatte es nicht beachtet, daß sie bei den Leuten Aufsehen erregt und Anlaß zu allerlei Geflüster gegeben hatte. Sie war in ein benachbartes Bauernhaus gegangen und hatte sich dort ein Stück Brot und ein wenig Milch geben lassen, und dann war sie mit dem nächsten Zuge nach N. ge¬ fahren, das sie noch denselben Abend erreichte. Hier konnte sie in der Menschen¬ menge untertauchen und sicher, nicht erkannt zu werden, einen Gasthof aussuchen. Sie schlief einen langen, tiefen Schlaf — zum erstenmal wieder seit langer Zeit. Als sie am andern Morgen erwachte, stand ihr Entschluß, zu fliehn, fester als je. Aber wohin? Zu Onkel Stackelberg? Vielleicht. Und dann? Das würde sich finden. Es war nicht Marys Art, fernliegende Dinge scharf ins Ange zu fassen. Schnell kaufte sie sich eine Handtasche und was sie sonst zur Reise brauchte und begab sich zum Bahnhof. Als der V-Zug nach Berlin einlief, und sie ein¬ steigen wollte, stand auf dem Trittbrett eine ältere Dame, die offenbar in großer Unruhe war, jedermann fragte, aber nicht begriff, was man ihr antwortete, denn ihr Deutsch war schlecht, und ihr Französisch verstand niemand. — Einsteigen! riefen die Schaffner. Aber statt dessen stieg die Dame aus und tat ganz verzweifelt. Ha! dachte Mary, auch sie flieht. Unglückliche müssen einander beistehn, und so brachte sie die Dame, indem sie sie französisch anredete, im letzten Augenblick auf das Trittbrett und in den Wagen zurück, und der Zug setzte sich in Bewegung. Er fährt ab! rief die Dame in französischer Sprache, mein Gott, er fährt ab, und ich habe kein Billett, ich weiß nicht, wo mein Gepäck ist, und meine Begleiterin ist an der russische!: Grenze geblieben. Mein Gott, mein Gott, was fange ich an? Ich verstehe ja niemand, und Französisch sprechen die Leute nicht. Mary suchte die Dame zu beruhigen und sich erst einmal einen Platz zu suchen. In der Tat, die Dame hatte nichts weiter bei sich als ihre Kleidung, sogar ihre Geldtasche hatte sie bei ihrem Handgepäck gelassen, ihre Koffer waren vermutlich noch in Eydtkuhnen, und ihre Reisebegleiterin noch jenseits der russischen Grenze. Mary wandte sich an den Zugführer und setzte ihm die Lage der Sache

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/225>, abgerufen am 05.02.2025.