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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Bildliche Redensarten in Gottfrieds Tristan

nommer, das Gottfried zweimal mit großer Liebe ausgemalt hat: der Liebende,
Mann wie Frau, sind wie ein Vogel, der sich auf einem geleimten Zweig
niedergelassen hat; er bemerkt den Leim, will sich zur Flucht erheben, klebt
aber mit den Füßen fest; nun regt er die Flügel, um von dannen zu kommen,
mit ihnen berührt er aber das Zweiglein von neuem und wird, so wenig es
auch ist, wieder gebunden; jetzt schlägt er die Flügel mit aller Kraft, heftet sich
aber nur immer mehr fest, bis er zuletzt festgeleimt an dem Zweige liegt. So
ergeht es dem sehnenden Liebhaber, der vergeblich nach seiner Freiheit trachtet,
und den die Süße "der geleimten Minne" immer wieder niederzieht: so ergeht
es dem tapfern Niwalin und so im zweiten Geschlecht der schönsten Isolde.
Bei der Erzählung von Niwalin verweilt Gottfried in der Ausmalung des
Vogelschicksals, dem er das Menschenschicksal nur kurz anreiht, bei der von
Isolde webt er Geschichte und Beispiel eng durcheinander, sodaß Isoldens
Herzenskampf selbst höchst reizvoll dargestellt wird.

Ein Bild haben wir uns zum Schluß aufgehoben, das ganz allgemein
die Führung des Lebens oder sonst einer wichtigen Sache bezeichnet. Als der
König von Irland den Tod Morvlds erfährt, seines Schwagers und tapfersten
Getreuen, auf dessen starkem Arm sein Ruhm im Auslande beruht hat,

Und Tristan beteuert einmal seiner Herrin inmitten der Not der Aufpasser
^ Hofe

.

Eine getriebne, laufende Scheibe hier wie auch sonst in der Epik des hohen
Mittelalters als Bild einer gehenden, betriebnen Sache. Zur Reformationszeit
kam dafür das ganz nahe liegende Bild von dem getriebne" oder geführten Rade
oder Rädlein auf, von dem uns der Begriff Rädelsführer übrig geblieben ist.
Goethe hat neuerdings als dritte allerdings nur ironische Parallele das Bild
von der gemälzten Tonne wiederholt verwandt, in das er zum Beispiel das
Spottgedichtchen auf die Genies gefaßt hat:


Bildliche Redensarten in Gottfrieds Tristan

nommer, das Gottfried zweimal mit großer Liebe ausgemalt hat: der Liebende,
Mann wie Frau, sind wie ein Vogel, der sich auf einem geleimten Zweig
niedergelassen hat; er bemerkt den Leim, will sich zur Flucht erheben, klebt
aber mit den Füßen fest; nun regt er die Flügel, um von dannen zu kommen,
mit ihnen berührt er aber das Zweiglein von neuem und wird, so wenig es
auch ist, wieder gebunden; jetzt schlägt er die Flügel mit aller Kraft, heftet sich
aber nur immer mehr fest, bis er zuletzt festgeleimt an dem Zweige liegt. So
ergeht es dem sehnenden Liebhaber, der vergeblich nach seiner Freiheit trachtet,
und den die Süße „der geleimten Minne" immer wieder niederzieht: so ergeht
es dem tapfern Niwalin und so im zweiten Geschlecht der schönsten Isolde.
Bei der Erzählung von Niwalin verweilt Gottfried in der Ausmalung des
Vogelschicksals, dem er das Menschenschicksal nur kurz anreiht, bei der von
Isolde webt er Geschichte und Beispiel eng durcheinander, sodaß Isoldens
Herzenskampf selbst höchst reizvoll dargestellt wird.

Ein Bild haben wir uns zum Schluß aufgehoben, das ganz allgemein
die Führung des Lebens oder sonst einer wichtigen Sache bezeichnet. Als der
König von Irland den Tod Morvlds erfährt, seines Schwagers und tapfersten
Getreuen, auf dessen starkem Arm sein Ruhm im Auslande beruht hat,

Und Tristan beteuert einmal seiner Herrin inmitten der Not der Aufpasser
^ Hofe

.

Eine getriebne, laufende Scheibe hier wie auch sonst in der Epik des hohen
Mittelalters als Bild einer gehenden, betriebnen Sache. Zur Reformationszeit
kam dafür das ganz nahe liegende Bild von dem getriebne» oder geführten Rade
oder Rädlein auf, von dem uns der Begriff Rädelsführer übrig geblieben ist.
Goethe hat neuerdings als dritte allerdings nur ironische Parallele das Bild
von der gemälzten Tonne wiederholt verwandt, in das er zum Beispiel das
Spottgedichtchen auf die Genies gefaßt hat:


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[0217] Bildliche Redensarten in Gottfrieds Tristan nommer, das Gottfried zweimal mit großer Liebe ausgemalt hat: der Liebende, Mann wie Frau, sind wie ein Vogel, der sich auf einem geleimten Zweig niedergelassen hat; er bemerkt den Leim, will sich zur Flucht erheben, klebt aber mit den Füßen fest; nun regt er die Flügel, um von dannen zu kommen, mit ihnen berührt er aber das Zweiglein von neuem und wird, so wenig es auch ist, wieder gebunden; jetzt schlägt er die Flügel mit aller Kraft, heftet sich aber nur immer mehr fest, bis er zuletzt festgeleimt an dem Zweige liegt. So ergeht es dem sehnenden Liebhaber, der vergeblich nach seiner Freiheit trachtet, und den die Süße „der geleimten Minne" immer wieder niederzieht: so ergeht es dem tapfern Niwalin und so im zweiten Geschlecht der schönsten Isolde. Bei der Erzählung von Niwalin verweilt Gottfried in der Ausmalung des Vogelschicksals, dem er das Menschenschicksal nur kurz anreiht, bei der von Isolde webt er Geschichte und Beispiel eng durcheinander, sodaß Isoldens Herzenskampf selbst höchst reizvoll dargestellt wird. Ein Bild haben wir uns zum Schluß aufgehoben, das ganz allgemein die Führung des Lebens oder sonst einer wichtigen Sache bezeichnet. Als der König von Irland den Tod Morvlds erfährt, seines Schwagers und tapfersten Getreuen, auf dessen starkem Arm sein Ruhm im Auslande beruht hat, Und Tristan beteuert einmal seiner Herrin inmitten der Not der Aufpasser ^ Hofe . Eine getriebne, laufende Scheibe hier wie auch sonst in der Epik des hohen Mittelalters als Bild einer gehenden, betriebnen Sache. Zur Reformationszeit kam dafür das ganz nahe liegende Bild von dem getriebne» oder geführten Rade oder Rädlein auf, von dem uns der Begriff Rädelsführer übrig geblieben ist. Goethe hat neuerdings als dritte allerdings nur ironische Parallele das Bild von der gemälzten Tonne wiederholt verwandt, in das er zum Beispiel das Spottgedichtchen auf die Genies gefaßt hat:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/217>, abgerufen am 05.02.2025.