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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Zur Reform des Strafprozesses

Akademie zu Posen willkommen sein, und es wäre nichts erwünschter, als
wenn sich der Streit zwischen beiden Nationalitüten schließlich nur uoch auf
das angestrebte Übergewicht an wissenschaftlicher Bildung beschränkte.


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Zur Reform des Strafprozesses
von val. Isemann
^. Reformbedürftigkeit. Ulassenjustiz

WZ
Mki^IÄ'> elches Menschenwerk wäre nicht verbcsserungssähig und verbesserungs¬
bedürftig? Zudem sind sechsundzwanzigDienstjahre schon ein hübsches
> Alter fiir ein Fabrikat deutscher Gesetzgebung, wenn man bedenkt,
daß zum Beispiel einzelne Teile der Gewerbeordnung geradezu
I Saisonartikel geworden sind! Die Frage ist also die: In welchem
Sinne soll reformiert werden? soll das gesellschaftliche Interesse mehr betont,
d. h. sollen dem Staate mehr oder stärkere Mittel zur Aufsuchung und Unter¬
drückung strafbarer Handlungen geboten, oder soll nicht vielmehr die Persönlich¬
keit gegen die Gefahren mehr in Schutz genommen werden, die dem Einzelnen
von der Staatsgewalt mit ihren erdrückenden Machtmitteln deshalb drohen, weil
er ihr zufällig auf ihrem Rachezug gegen den Verbrecher in die Quere gekommen
ist? Kein Zweifel, dnß die reformatorische Bewegung auch in Zukunft, wie bisher,
diesen letzten Weg weiter verfolgt, sogar auf die Gefahr hin, daß die Entdeckung
und die Bestrafung einer einzelnen Straftat dadurch erschwert oder vielleicht
gar unmöglich gemacht werden.

Man beginnt allmählich einzusehen, daß der Wert der Strafe in ihrer
ethischen und sozialen Bedeutung bisher viel zu hoch eingeschätzt worden ist.
Der moralische Stand eines Volkes wird nicht durch Strafrecht und Strafprozeß
geregelt, jedenfalls nicht vorzugsweise, sondern durch eine von innen heraus¬
tretende erziehende Entwicklung seiner Anlagen, die mit dem paragraphierten
Rechte nichts zu tun hat. Und dann: heute, wo die Gesellschaft eine immer
stärker hervortretende Neigung zeigt, die Betätigung der Persönlichkeit, zunächst
allerdings nur auf wirtschaftlichem Gebiet, unter Kontrolle zu stellen, verlangt
der Rest, der ihr an Bewegungsfreiheit bleibt, um so eifersüchtiger nach Schutz.
Gerechtigkeit ist eine schöne Sache, aber der Kampf um sie ist nicht nach jeder¬
manns Geschmack. Wie früher so ist zwar heute noch die Farblosigkeit das
wirksamste miiniei^ der Individualität, aber was sich aus der Eintönigkeit
heraushebt, hat um so größern Anspruch auf ungestörtes Dasein.

Von diesem Gedanken sind übrigens alle modernen Strafprozeßordnungen
geleitet? die unsrige besteht mindestens zu zwei Dritteln aus Schutzmaßregeln
gegen Eingriffe in die private Bewegungsfreiheit, während man in frühern Zeiten
darin nur Anleitungen zu einer möglichst schonungsloser Wahrheitserforschung
zu suchen gewohnt war. Eine Weiterentwicklung kann also nur im Sinn einer
Verstärkung ihrer Garantien gedacht werden, eine Entwicklung, die auf ihrem


Grenzboten II 1905 18
Zur Reform des Strafprozesses

Akademie zu Posen willkommen sein, und es wäre nichts erwünschter, als
wenn sich der Streit zwischen beiden Nationalitüten schließlich nur uoch auf
das angestrebte Übergewicht an wissenschaftlicher Bildung beschränkte.


y- I-


Zur Reform des Strafprozesses
von val. Isemann
^. Reformbedürftigkeit. Ulassenjustiz

WZ
Mki^IÄ'> elches Menschenwerk wäre nicht verbcsserungssähig und verbesserungs¬
bedürftig? Zudem sind sechsundzwanzigDienstjahre schon ein hübsches
> Alter fiir ein Fabrikat deutscher Gesetzgebung, wenn man bedenkt,
daß zum Beispiel einzelne Teile der Gewerbeordnung geradezu
I Saisonartikel geworden sind! Die Frage ist also die: In welchem
Sinne soll reformiert werden? soll das gesellschaftliche Interesse mehr betont,
d. h. sollen dem Staate mehr oder stärkere Mittel zur Aufsuchung und Unter¬
drückung strafbarer Handlungen geboten, oder soll nicht vielmehr die Persönlich¬
keit gegen die Gefahren mehr in Schutz genommen werden, die dem Einzelnen
von der Staatsgewalt mit ihren erdrückenden Machtmitteln deshalb drohen, weil
er ihr zufällig auf ihrem Rachezug gegen den Verbrecher in die Quere gekommen
ist? Kein Zweifel, dnß die reformatorische Bewegung auch in Zukunft, wie bisher,
diesen letzten Weg weiter verfolgt, sogar auf die Gefahr hin, daß die Entdeckung
und die Bestrafung einer einzelnen Straftat dadurch erschwert oder vielleicht
gar unmöglich gemacht werden.

Man beginnt allmählich einzusehen, daß der Wert der Strafe in ihrer
ethischen und sozialen Bedeutung bisher viel zu hoch eingeschätzt worden ist.
Der moralische Stand eines Volkes wird nicht durch Strafrecht und Strafprozeß
geregelt, jedenfalls nicht vorzugsweise, sondern durch eine von innen heraus¬
tretende erziehende Entwicklung seiner Anlagen, die mit dem paragraphierten
Rechte nichts zu tun hat. Und dann: heute, wo die Gesellschaft eine immer
stärker hervortretende Neigung zeigt, die Betätigung der Persönlichkeit, zunächst
allerdings nur auf wirtschaftlichem Gebiet, unter Kontrolle zu stellen, verlangt
der Rest, der ihr an Bewegungsfreiheit bleibt, um so eifersüchtiger nach Schutz.
Gerechtigkeit ist eine schöne Sache, aber der Kampf um sie ist nicht nach jeder¬
manns Geschmack. Wie früher so ist zwar heute noch die Farblosigkeit das
wirksamste miiniei^ der Individualität, aber was sich aus der Eintönigkeit
heraushebt, hat um so größern Anspruch auf ungestörtes Dasein.

Von diesem Gedanken sind übrigens alle modernen Strafprozeßordnungen
geleitet? die unsrige besteht mindestens zu zwei Dritteln aus Schutzmaßregeln
gegen Eingriffe in die private Bewegungsfreiheit, während man in frühern Zeiten
darin nur Anleitungen zu einer möglichst schonungsloser Wahrheitserforschung
zu suchen gewohnt war. Eine Weiterentwicklung kann also nur im Sinn einer
Verstärkung ihrer Garantien gedacht werden, eine Entwicklung, die auf ihrem


Grenzboten II 1905 18
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[0141] Zur Reform des Strafprozesses Akademie zu Posen willkommen sein, und es wäre nichts erwünschter, als wenn sich der Streit zwischen beiden Nationalitüten schließlich nur uoch auf das angestrebte Übergewicht an wissenschaftlicher Bildung beschränkte. y- I- Zur Reform des Strafprozesses von val. Isemann ^. Reformbedürftigkeit. Ulassenjustiz WZ Mki^IÄ'> elches Menschenwerk wäre nicht verbcsserungssähig und verbesserungs¬ bedürftig? Zudem sind sechsundzwanzigDienstjahre schon ein hübsches > Alter fiir ein Fabrikat deutscher Gesetzgebung, wenn man bedenkt, daß zum Beispiel einzelne Teile der Gewerbeordnung geradezu I Saisonartikel geworden sind! Die Frage ist also die: In welchem Sinne soll reformiert werden? soll das gesellschaftliche Interesse mehr betont, d. h. sollen dem Staate mehr oder stärkere Mittel zur Aufsuchung und Unter¬ drückung strafbarer Handlungen geboten, oder soll nicht vielmehr die Persönlich¬ keit gegen die Gefahren mehr in Schutz genommen werden, die dem Einzelnen von der Staatsgewalt mit ihren erdrückenden Machtmitteln deshalb drohen, weil er ihr zufällig auf ihrem Rachezug gegen den Verbrecher in die Quere gekommen ist? Kein Zweifel, dnß die reformatorische Bewegung auch in Zukunft, wie bisher, diesen letzten Weg weiter verfolgt, sogar auf die Gefahr hin, daß die Entdeckung und die Bestrafung einer einzelnen Straftat dadurch erschwert oder vielleicht gar unmöglich gemacht werden. Man beginnt allmählich einzusehen, daß der Wert der Strafe in ihrer ethischen und sozialen Bedeutung bisher viel zu hoch eingeschätzt worden ist. Der moralische Stand eines Volkes wird nicht durch Strafrecht und Strafprozeß geregelt, jedenfalls nicht vorzugsweise, sondern durch eine von innen heraus¬ tretende erziehende Entwicklung seiner Anlagen, die mit dem paragraphierten Rechte nichts zu tun hat. Und dann: heute, wo die Gesellschaft eine immer stärker hervortretende Neigung zeigt, die Betätigung der Persönlichkeit, zunächst allerdings nur auf wirtschaftlichem Gebiet, unter Kontrolle zu stellen, verlangt der Rest, der ihr an Bewegungsfreiheit bleibt, um so eifersüchtiger nach Schutz. Gerechtigkeit ist eine schöne Sache, aber der Kampf um sie ist nicht nach jeder¬ manns Geschmack. Wie früher so ist zwar heute noch die Farblosigkeit das wirksamste miiniei^ der Individualität, aber was sich aus der Eintönigkeit heraushebt, hat um so größern Anspruch auf ungestörtes Dasein. Von diesem Gedanken sind übrigens alle modernen Strafprozeßordnungen geleitet? die unsrige besteht mindestens zu zwei Dritteln aus Schutzmaßregeln gegen Eingriffe in die private Bewegungsfreiheit, während man in frühern Zeiten darin nur Anleitungen zu einer möglichst schonungsloser Wahrheitserforschung zu suchen gewohnt war. Eine Weiterentwicklung kann also nur im Sinn einer Verstärkung ihrer Garantien gedacht werden, eine Entwicklung, die auf ihrem Grenzboten II 1905 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/141>, abgerufen am 05.02.2025.