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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Marokko und das Gleichgewicht im Mittelmeer

betrachteten englische Politiker die Möglichkeit, daß einst russische Kriegsschiffe
aus dem uneinnehmbaren Kriegshafen des Schwarzen Meeres vorbrechen, die
englische Schiffahrt durch den Suezkanal beunruhigen, ja daß der Zar durch
Truppensendungen zu Lande den Suezkanal wegnehmen und zerstören lassen
könnte.

Mit dieser unerfreulichen Wendung traf zusammen, daß auch im Westen
ein präsumtiver Gegner Englands bedeutend an Terrain gewann. Frankreich
benutzte im Jahre 1881 eine Differenz mit dem Bei von Tunis, dessen Land
vollständig zu annektieren. Es kam damit in den Besitz der Bucht von Bizerta
an der Nordküste des Landes, also hart an der Schiffahrtstraße nach dem fernen
Osten. Diese Bucht ist ein tief ins Land einschneidender natürlicher Kriegs¬
hafen, der für die größten Schiffe ausreichend ist; sein ohnehin schon schwieriger
Eingang war durch Landbefestigungen leicht unzugänglich zu machen. England
war entrüstet, ließ sich aber mit der Zusicherung, daß Bizerta nicht befestigt
werden solle, abspeisen, und bald kehrte sich Frankreich auch nicht mehr an
seine Zusicherung. Der Hafen ist ein wahres Malepartus geworden, und man
arbeitet immerfort an seinem Ausbau. Frankreich hatte damit in dem westlichen
Becken des Mittelmeers Toulon, Ajaccio und Bizerta, drei starke Kriegshafen,
ferner das viel kleinere Bastia, und entschloß sich sogar, noch einen dritten
korsikanischer Hafen zu befestigen: das an der Südostküste, dem italienischen
Kriegshafen Maddalena gegenüber liegende Porto vecchio.

Durch die Annexion von Tunis stieß Frankreich Italien heftig vor den
Kopf, denn dieses hatte sich selber Hoffnung darauf gemacht. Die Folge war,
daß Italien unter Crispis Leitung dem Dreibunde beitrat. England sah in
dessen Entstehung einen großen Gewinn, wie Salisbury im Oberhause mit den
Worten bekannt gab, daß g, mesMZö ok Arv^t ^joy (ein Evangelium) eingetroffen
sei. Diese Worte geben einen guten Maßstab für gewisse seitdem eingetrctne
Veränderungen. Italien, das zu Lande durch Deutschland und Österreich-
Ungarn gedeckt war, suchte und fand zur See eine mächtige Stütze an Eng¬
land. Und England erachtete es ebenfalls für notwendig, an Italien einen
Halt zu suchen, denn es fühlte sich durch die wachsende Freundschaft Rußlands
und Frankreichs beunruhigt. Diese führte dann schließlich zum Abschluß des
Zweibuudes.

Hätte England ein förmliches festes Bündnis mit Italien gehabt, so hätte
man sagen können, die beiden Bündnisse hielten einander die Wage. Aber es
wurde keins geschlossen, die franzosenfreundliche englische Opposition unter
Laboucheres Führung war lebhaft dagegen, die Regierung zog auch die Politik
der freien Hand vor. Die Erbitterung zwischen Italien und Frankreich sicherte
ihm auf alle Fälle die Sympathien Italiens. Das dauerte bis zur Faschoda-
frage, wobei schließlich England, um die gereizte Republik zu beschwichtigen, mit
ihr das Abkommen traf, daß Frankreich Wadai und das Land von dort bis
zum Tschadsee, England dagegen die ostwärts liegenden Reiche Darfur und
Kordofan haben sollte. Alle diese Besitzungen sind noch heute unabhängig, sie
sollen also erst erobert werden. Tripolis hatte damit allerdings seine Zukunft
verloren, denn dieses Land ist nur wenig kulturfähig, die Stadt lebt Haupt-


Marokko und das Gleichgewicht im Mittelmeer

betrachteten englische Politiker die Möglichkeit, daß einst russische Kriegsschiffe
aus dem uneinnehmbaren Kriegshafen des Schwarzen Meeres vorbrechen, die
englische Schiffahrt durch den Suezkanal beunruhigen, ja daß der Zar durch
Truppensendungen zu Lande den Suezkanal wegnehmen und zerstören lassen
könnte.

Mit dieser unerfreulichen Wendung traf zusammen, daß auch im Westen
ein präsumtiver Gegner Englands bedeutend an Terrain gewann. Frankreich
benutzte im Jahre 1881 eine Differenz mit dem Bei von Tunis, dessen Land
vollständig zu annektieren. Es kam damit in den Besitz der Bucht von Bizerta
an der Nordküste des Landes, also hart an der Schiffahrtstraße nach dem fernen
Osten. Diese Bucht ist ein tief ins Land einschneidender natürlicher Kriegs¬
hafen, der für die größten Schiffe ausreichend ist; sein ohnehin schon schwieriger
Eingang war durch Landbefestigungen leicht unzugänglich zu machen. England
war entrüstet, ließ sich aber mit der Zusicherung, daß Bizerta nicht befestigt
werden solle, abspeisen, und bald kehrte sich Frankreich auch nicht mehr an
seine Zusicherung. Der Hafen ist ein wahres Malepartus geworden, und man
arbeitet immerfort an seinem Ausbau. Frankreich hatte damit in dem westlichen
Becken des Mittelmeers Toulon, Ajaccio und Bizerta, drei starke Kriegshafen,
ferner das viel kleinere Bastia, und entschloß sich sogar, noch einen dritten
korsikanischer Hafen zu befestigen: das an der Südostküste, dem italienischen
Kriegshafen Maddalena gegenüber liegende Porto vecchio.

Durch die Annexion von Tunis stieß Frankreich Italien heftig vor den
Kopf, denn dieses hatte sich selber Hoffnung darauf gemacht. Die Folge war,
daß Italien unter Crispis Leitung dem Dreibunde beitrat. England sah in
dessen Entstehung einen großen Gewinn, wie Salisbury im Oberhause mit den
Worten bekannt gab, daß g, mesMZö ok Arv^t ^joy (ein Evangelium) eingetroffen
sei. Diese Worte geben einen guten Maßstab für gewisse seitdem eingetrctne
Veränderungen. Italien, das zu Lande durch Deutschland und Österreich-
Ungarn gedeckt war, suchte und fand zur See eine mächtige Stütze an Eng¬
land. Und England erachtete es ebenfalls für notwendig, an Italien einen
Halt zu suchen, denn es fühlte sich durch die wachsende Freundschaft Rußlands
und Frankreichs beunruhigt. Diese führte dann schließlich zum Abschluß des
Zweibuudes.

Hätte England ein förmliches festes Bündnis mit Italien gehabt, so hätte
man sagen können, die beiden Bündnisse hielten einander die Wage. Aber es
wurde keins geschlossen, die franzosenfreundliche englische Opposition unter
Laboucheres Führung war lebhaft dagegen, die Regierung zog auch die Politik
der freien Hand vor. Die Erbitterung zwischen Italien und Frankreich sicherte
ihm auf alle Fälle die Sympathien Italiens. Das dauerte bis zur Faschoda-
frage, wobei schließlich England, um die gereizte Republik zu beschwichtigen, mit
ihr das Abkommen traf, daß Frankreich Wadai und das Land von dort bis
zum Tschadsee, England dagegen die ostwärts liegenden Reiche Darfur und
Kordofan haben sollte. Alle diese Besitzungen sind noch heute unabhängig, sie
sollen also erst erobert werden. Tripolis hatte damit allerdings seine Zukunft
verloren, denn dieses Land ist nur wenig kulturfähig, die Stadt lebt Haupt-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/130>, abgerufen am 05.02.2025.