Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Der Verfassungskonflikt in Ungarn der Minister auch nach der ungarischen Verfassung dem Monarchen zusteht, Das Ministerium hatte nach den Szenen im Abgeordnetenhaus" formell Der Verfassungskonflikt in Ungarn der Minister auch nach der ungarischen Verfassung dem Monarchen zusteht, Das Ministerium hatte nach den Szenen im Abgeordnetenhaus« formell <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0705" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296716"/> <fw type="header" place="top"> Der Verfassungskonflikt in Ungarn</fw><lb/> <p xml:id="ID_3657" prev="#ID_3656"> der Minister auch nach der ungarischen Verfassung dem Monarchen zusteht,<lb/> und obgleich Baron Fejervnry Versichertc, seine Aufgabe sei nur, eine Ver¬<lb/> ständigung mit der Mehrheit zu suchen, wurde er doch schon bei seinem ersten<lb/> Auftreten im Abgeordnetenhause (am 20. Juni) unter dem üblichen Krawall<lb/> des hohen Hauses auf das gröblichste beschimpft und beleidigt. Da das<lb/> vorausgesehen worden war, überreichte Baron Fejervary ein neues kaiserliches<lb/> Handschreiben, das die Vertagung des Hauses aussprach. Ganz wider die<lb/> bisherige Gepflogenheit weigerte sich der Präsident Justs, das Reskript ver¬<lb/> lesen zu lassen, damit das Haus das von Kossuth beantragte Mißtrauensvotum<lb/> und den Antrag Baron Banffys auf Steuerverweigerung vorher annehmen<lb/> konnte. Diese Beschlüsse sind natürlich rechtlich ungiltig, da die Vertagung<lb/> schon bekannt war, und da sich auch die liberale Partei deshalb entfernt hatte.<lb/> Das Magnatenhaus erteilte dem Ministerium übrigens auch ein Mißtrauens¬<lb/> votum, und hierin liegt eine Verschiedenheit mit dem Konflikt in Preußen,<lb/> wo das Herrenhaus der Krone beharrlich beistand. Auch die vom Minister¬<lb/> präsidenten nach Schluß des Hauses noch eingeleiteten Verhandlungen wurden<lb/> am 1. Juli unter großer Entrüstung der Führer der Koalition abgebrochen,<lb/> die sich tatsächlich eingebildet zu haben schienen, der Monarch werde ihnen be¬<lb/> willigen, was er seit zwei Jahren der liberalen Partei verweigert hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_3658" next="#ID_3659"> Das Ministerium hatte nach den Szenen im Abgeordnetenhaus« formell<lb/> ein Rücktrittsgesuch eingereicht, war aber vom Monarchen des vollsten Ver¬<lb/> trauens versichert worden. Nun herrschte während des Sommers ziemliche<lb/> Ruhe, und die Zeitungen ergingen sich in den buntesten Erörterungen über<lb/> die Pläne des Ministeriums. Anfang September verdichteten sich die Mut¬<lb/> maßungen dahin, daß es sich hauptsächlich um die Einführung des allgemeinen<lb/> Stimmrechts handle. Da in Ungarn kaum der zwanzigste Teil der Be¬<lb/> völkerung wahlberechtigt ist, und gerade darauf die heutigen parlamentarischen<lb/> Cliquen beruhen, mußte die Ankündigung allgemeiner Wahlen in diesen Kreisen<lb/> Beunruhigung hervorrufen, denn die heutige oppositionelle Mehrheit wie die<lb/> in die Minderheit versetzte liberale Partei mußten davon für ihre Zukunft<lb/> fürchten. Der Minister des Innern Kristofsy entwickelte am 9. September vor<lb/> seinen Wählern in Bogsan auch einen Plan der Wahlreform, von dem er<lb/> allerdings sagte, die Regierung sei noch nicht entschieden und wolle die Meinung<lb/> des Volks darüber abwarten, welcher Weg eingeschlagen werden solle. Es sei<lb/> hier gleich bemerkt, daß die Erweiterung des Wahlrechts in der bisher üblichen<lb/> Weise mit Bevorzugung der Magharen oder mit wirklicher Gerechtigkeit für<lb/> alle Völkerschaften des Landes erfolgen kann. Der Wink an die Ungarn, sie<lb/> möchten einlenken, da man auch die Nichtmagyaren gegen sie mobil machen<lb/> könne, blieb zunächst in dem Lärm der Zeitungen unbemerkt; denn diesseits<lb/> und jenseits der Leitha wurde die Ankündigung allgemeiner Wahlen in Ungarn<lb/> mit Entrüstung aufgenommen. In Österreich fürchtete man, daß das allgemeine<lb/> Wahlrecht auch eingeführt werden müsse, sobald es in Ungarn gelte. Die<lb/> ungarische Aristokratie setzte in der Hofburg in Wien allen Einfluß in Be¬<lb/> wegung, um den Plan Fejervarys und damit das Ministerium selbst zu stürzen.<lb/> Wahrscheinlich war durch diese Kreise auf die Opposition ein Druck ausgeübt</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0705]
Der Verfassungskonflikt in Ungarn
der Minister auch nach der ungarischen Verfassung dem Monarchen zusteht,
und obgleich Baron Fejervnry Versichertc, seine Aufgabe sei nur, eine Ver¬
ständigung mit der Mehrheit zu suchen, wurde er doch schon bei seinem ersten
Auftreten im Abgeordnetenhause (am 20. Juni) unter dem üblichen Krawall
des hohen Hauses auf das gröblichste beschimpft und beleidigt. Da das
vorausgesehen worden war, überreichte Baron Fejervary ein neues kaiserliches
Handschreiben, das die Vertagung des Hauses aussprach. Ganz wider die
bisherige Gepflogenheit weigerte sich der Präsident Justs, das Reskript ver¬
lesen zu lassen, damit das Haus das von Kossuth beantragte Mißtrauensvotum
und den Antrag Baron Banffys auf Steuerverweigerung vorher annehmen
konnte. Diese Beschlüsse sind natürlich rechtlich ungiltig, da die Vertagung
schon bekannt war, und da sich auch die liberale Partei deshalb entfernt hatte.
Das Magnatenhaus erteilte dem Ministerium übrigens auch ein Mißtrauens¬
votum, und hierin liegt eine Verschiedenheit mit dem Konflikt in Preußen,
wo das Herrenhaus der Krone beharrlich beistand. Auch die vom Minister¬
präsidenten nach Schluß des Hauses noch eingeleiteten Verhandlungen wurden
am 1. Juli unter großer Entrüstung der Führer der Koalition abgebrochen,
die sich tatsächlich eingebildet zu haben schienen, der Monarch werde ihnen be¬
willigen, was er seit zwei Jahren der liberalen Partei verweigert hatte.
Das Ministerium hatte nach den Szenen im Abgeordnetenhaus« formell
ein Rücktrittsgesuch eingereicht, war aber vom Monarchen des vollsten Ver¬
trauens versichert worden. Nun herrschte während des Sommers ziemliche
Ruhe, und die Zeitungen ergingen sich in den buntesten Erörterungen über
die Pläne des Ministeriums. Anfang September verdichteten sich die Mut¬
maßungen dahin, daß es sich hauptsächlich um die Einführung des allgemeinen
Stimmrechts handle. Da in Ungarn kaum der zwanzigste Teil der Be¬
völkerung wahlberechtigt ist, und gerade darauf die heutigen parlamentarischen
Cliquen beruhen, mußte die Ankündigung allgemeiner Wahlen in diesen Kreisen
Beunruhigung hervorrufen, denn die heutige oppositionelle Mehrheit wie die
in die Minderheit versetzte liberale Partei mußten davon für ihre Zukunft
fürchten. Der Minister des Innern Kristofsy entwickelte am 9. September vor
seinen Wählern in Bogsan auch einen Plan der Wahlreform, von dem er
allerdings sagte, die Regierung sei noch nicht entschieden und wolle die Meinung
des Volks darüber abwarten, welcher Weg eingeschlagen werden solle. Es sei
hier gleich bemerkt, daß die Erweiterung des Wahlrechts in der bisher üblichen
Weise mit Bevorzugung der Magharen oder mit wirklicher Gerechtigkeit für
alle Völkerschaften des Landes erfolgen kann. Der Wink an die Ungarn, sie
möchten einlenken, da man auch die Nichtmagyaren gegen sie mobil machen
könne, blieb zunächst in dem Lärm der Zeitungen unbemerkt; denn diesseits
und jenseits der Leitha wurde die Ankündigung allgemeiner Wahlen in Ungarn
mit Entrüstung aufgenommen. In Österreich fürchtete man, daß das allgemeine
Wahlrecht auch eingeführt werden müsse, sobald es in Ungarn gelte. Die
ungarische Aristokratie setzte in der Hofburg in Wien allen Einfluß in Be¬
wegung, um den Plan Fejervarys und damit das Ministerium selbst zu stürzen.
Wahrscheinlich war durch diese Kreise auf die Opposition ein Druck ausgeübt
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